KlassikWoche 24/2023
Immer wahrscheinlicher: Thielemann und die Staatsoper
von Axel Brüggemann
12. Juni 2023
Die Frage, ob Christian Thielemann Nachfolger von Daniel Barenboim in Berlin wird, das Statement von Martin Grubinger zu Teodor Currentzis, das 50. Jubiläum des Opernhauses von Sydney.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute mit einem Blick nach Berlin: Wie wird sich die Klassik-Szene der Hauptstadt sortieren? Wir hören Martin Grubinger zu, wie er über Teodor Curentzis redet, teilen eine spannende Stellenausschreibung und reisen zu Haydns Weinberg.
Wird Thielemann Barenboim beerben?
Alles sieht derzeit danach aus! Berlins Kultursenator Joe Chialo erklärte jüngst: „Exzellent muss zum Beispiel auch, und das ist mir besonders wichtig, die Berufung der Nachfolge von Daniel Barenboim sein.“ Wenn man sich im Orchester umhört, scheint der Drops bereits gelutscht: Angeblich habe bereits eine Orchester-Abstimmung für Thielemann stattgefunden. Nun liegt der Ball im Feld der designierten Intendantin Elisabeth Sobotka. Kaum vorstellbar, dass sie noch vor Amtsantritt gegen das Orchester votiert. Oder läuft doch alles auf einen Operetten-Titel für ein paar Wagner- und Strauss-Dirigate und für die Auslandstourneen der Kapelle mit Thielemann hinaus? Darauf wird der sich dieses Mal wohl kaum einlassen. Auch bei Chialos Kulturstaatssekretärin, Sarah Wedl-Wilson, die Thielemann aus Dresden und aus Salzburg kennt (hier war sie an seinem Rauswurf von den Osterfestspielen beteiligt), dürfte nun nur wenig Widerstand zu erwarten sein. Unsicher allein, ob die Charlottenburg-CDU (in Erinnerung an Thielemanns Umgang mit der Deutschen Oper) und der Kultursenator persönlich am Ende doch ein Veto einlegen. In der Süddeutschen ergänzte Chialo gerade: „Die Kriterien sind klar: Exzellenz, Musikalität, aber zum Beispiel auch gute Menschenführung.“ Bleibt außerdem die Frage, ob die Staatskapelle sich mit Thielemann allein perspektivisch klug positioniert.
Die Berliner Philharmoniker gehen unbeirrbar ihren ureigenen, qualitativ unangreifbaren, spannenden und vielfältigen Weg mit Kirill Petrenko (großartig der Text im Tagesspiegel über die Visionen des Chefdirigenten). Das Konzerthausorchester hat gerade seine neue Chefin Joana Mallwitz in der Ästhetik eines weiblichen Karajans präsentiert (es ist schon verwunderlich, dass eine Frau hier mit den Mitteln der alten Männerwelt in Szene gesetzt wird). Wichtiger noch: Mallwitz ist nun auch Exklusivkünstlerin der Deutschen Grammophon (zum Abschied von Christoph Eschenbach empfehle ich diesen Text von Frederik Hanssen). Und sicher ist: Auch an der Deutschen Oper wird unter der neuen Intendanz von Aviel Cahn sicherlich neues Blut an der musikalischen Spitze fließen: jemand wie Yoel Gamzou? In dieser Gemengelage muss die Staatsoper aufpassen, dass sie nicht in der Vergangenheit stehenbleibt – oder genau das ganz bewusst tun.
Bremens Bildungspolitik unter Druck
Manchmal gibt es Momente, an denen klar wird, dass journalistische Berichterstattung vielleicht doch Dinge bewirkt. An dieser und an anderen Stellen haben wir immer wieder über das Versagen der Bremer Bildungspolitik berichtet – und über die Abschaffung des Musikunterrichts als Pflichtfach. Interne Mails der Bildungsbehörde von Sascha Karolin Aulepp zeigen, dass die Kritik, die vor allen Dingen vom Landesmusikrat Bremen geäußert wurde, angekommen ist. Bremen wird die Situation weiter debattieren – und vielleicht auch neue Lösungen finden müssen.
Grubinger vs. Currentzis und SWR mit Russen-Bass
Je skrupelloser der Angriff Russlands auf die Ukraine wird, desto deutlicher distanzieren sich Musikerinnen und Musikern von Teodor Currentzis. So schrieb der Präsident des Deutschen Komponistenverbandes, Moritz Eggert, einen offenen Brief an Currentzis („es geht so nicht mehr weiter“) und berichtete, dass Komponisten Currentzis ihre Werke entziehen: „Mein geschätzter Kollege Bernhard Lang hat jetzt auch einmal einfach die Faxen dick gehabt und Ihnen (aktuell gerade in Wien) nicht erlaubt, ein Stück von sich zu spielen. Das ist kein Canceln. Er hatte einfach nur die Eier, einfach mal zu sagen: ‚nee, will ich nicht‘.“
Der Tanz auf vielen Hochzeiten des SWR Symphonieorchesters, der westlichen musicAeterna-Kopie Utopia und des russisch geförderten Orchesters musicAeterna funktioniert immer weniger. Auch der Perkussionist (und Artist in Residence beim SWR-Symphonieorchester) Martin Grubinger findet klare Worte im ORF zum Schweigen von Currentzis: „Das ist für mich kein Künstler mehr. Es ist zutiefst enttäuschend. Wir haben Butscha erlebt, die Massaker, die die russische Armee täglich in der Ukraine aufführt. Wie kann ich da als Künstler schweigen? Wie kann ich da zu den Salzburger Festspielen gehen und sagen: ‚Jetzt interpretiere ich für Euch den Beethoven?‘ Das ist ein totaler Widerspruch.“ (zum Anhören einfach auf das Bild klicken)
Von merkwürdigen Geschichten wurde der Auftritt von Utopia in Wien begleitet. Stefan Ender vom Standard fand heraus: „Die von Utopia ans Konzerthaus übermittelte Liste der Heimatorchester der Mitwirkenden liest sich (…) wie das Who-is-Who der europäischen Spitzenorchester (…). Die Berliner Philharmoniker, die darauf genannt werden, wissen nichts von einer Beteiligung aktiver Orchestermitglieder.“ Es ist inzwischen einfach zu viel Verbiegen der Wirklichkeit, wenn Currentzis am Werk ist. In diesem Facebook-Video fällt auf, dass Currentzis dem Solotrompeter Thomas Hammes vom SWR bei Mahlers Dritter Sinfonie in Wien ungewöhnlicherweise keinen Sonderapplaus gönnt. Brodelt es hier im Hintergund etwa auch?
Beim kommenden Konzert des SWR-Symphonieorchesters mit Currentzis in der Elbphilharmonie wird Alexey Tikhomirov als Bass angekündigt. Er kommt aus dem Currentzis-Umfeld und scheint den Krieg Russlands explizit zu befürworten, wie Alexander Strauch in einem Text zeigt: Tikhomirov schmückte seine Social-Media-Profile mit Russland-Fahnen (nach Beginn des Angriffskrieges und direkt nach der Zerstörung des Theaters in Mariupol. Nach Veröffentlichung des Textes von Strauch wurde die Fahne offensichtlich entfernt) und tritt in Putins Kulturpropaganda gern im Fernsehen mit dem Sankt-Georgs-Band auf, das in der Ukraine verboten ist und allgemein als Ausdruck der Übereinstimmung mit Putins Militär und Außenpolitik gilt. Ist Sabrina Haane, der Leiterin des Managements des SWR-Symphonieorchesters, und Christoph Lieben-Seutter, dem Generalintendanten der Laeiszhalle und Elbphilharmonie, das entgangen? Oder ist es ihnen einfach egal?
Wie weiter unisono?
An dieser Stelle waren wir nicht immer einverstanden mit den Wortmeldungen von Gerald Mertens, dem Geschäftsführer der Orchestervereinigung unisono. Oft bevorzugt er eine stereotype Verteidigung aller Privilegien statt eine klugen Transformation vorzubereiten und so langfristig mehr der klassischen Orchesterstrukturen zu bewahren. Nun bereitet Mertens offensichtlich seinen Abschied vor. Unisono sucht eine(n) neue(n) GeschäftsführerIn mit Amtsübergabe zum 1. Juni, natürlich ausgeschrieben für „M/W/D“. Und ja, ein wenig Diversität, ein bisschen Neudenken würde die 12.800 Mitglieder der Berufsorchester, Rundfunkklangkörper, die Freischaffenden, die Musik-Lehrbeauftragten und Studierenden vielleicht beflügeln.
Sydney: 50 Jahre Stilikone
Kein Opernhaus hat so viel Wiedererkennungswert wie die Oper im australischen Sydney. Pünktlich zum 50. Jubiläum gibt es nun eine spektakuläre Ausstellung mit großartigen, historischen Bildern. 14 Jahre lang wurde an der Architektur von Jørn Utzon gebaut. 10.000 ArbeiterInnen waren beteiligt, und als erste Oper wurde The Fall of the House of Usher von Larry Sitsky aufgeführt.
Popelka wird neuer Chef der Wiener Symphoniker
Der tschechische Dirigent Petr Popelka ist designierter Chefdirigent der Wiener Symphoniker und wird Andrés Orozco-Estrada nachfolgen. Eine überraschende Wahl, aber eine, die einen spannenden Weg zwischen Orchester und Dirigent auf Augenhöhe verspricht. Popelkas erstes Statement: „Wenn ich gefragt werde, wie ich mir die Reise mit den Wiener Symphonikern vorstelle, denke ich an meinen kleinen Sohn: Was für ein Orchester wollen wir der nächsten Generation übergeben? Wie funktioniert ein modernes Orchester, in dem wir miteinander und auf Augenhöhe musizieren? Wie können wir gemeinsam die Tugenden der Wiener Symphoniker pflegen und stärken? Bei meinen Dirigaten mit den Wiener Symphonikern habe ich stets die große Leidenschaft der Musikerinnen und Musiker gespürt, die Möglichkeit, sich im Moment gemeinsam in der Musik aufzulösen – ein Lodern und Brennen für die Sache: für die Musik!“
Personalien der Woche
Sir Simon Rattle bekommt zum London-Abschied eine Bronzebüste in der Barbican Music Library. Geformt wurde sie von Lady Petchey, zu sehen ist sie hier. +++ Steven Walter, Intendant des Beethovenfestes Bonn, hat auf seiner Facebook-Seite eine Frage aufgewärmt, die uns letztes Jahr auch an dieser Stelle beschäftigt hat. „Na, wie viele Opus Klassik Nominierungen habt Ihr so?“, wollte er wissen, da eine „Nominierung“ lediglich eine „Bewerbung“ bedeutet, also den Eingang einer Geldzahlung. Wir sehen: Die Phono-Akademie will einfach weitermachen wie immer. Aber immer mehr Leute der Klassik-Branche können darüber nur noch lachen.
Marin Alsop wird neue künstlerische Leiterin und Chefdirigentin des Nationalen Symphonieorchesters des Polnischen Rundfunks (NOSPR). +++ Nach mehr als sieben Jahren lässt Dirigent Axel Kober im Sommer 2025 seinen Vertrag als Generalmusikdirektor der Duisburger Philharmoniker auslaufen. +++ Das Opernhaus Covent Garden ernennt die Dirigentin Speranza Scappucci zum „principal guest conductor“.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht hier. Die 100.000-Euro-Guarneri, die auch in diesem Newsletter vermisst gemeldet wurde, weil ihre Besitzerin sie in Stuttgart im Zug vergaß, ist wieder aufgetaucht. Die Polizei konnte eine 35-jährige Frau ausfindig machen, die das Instrument einfach mitgenommen hatte. Die Polizisten klingelten bei ihr in Mannheim. „Glück für die Musikerin – Pech für die Diebin“, kommentiert der BR, denn die muss nun mit einer Anzeige rechnen. Und dann auch noch das: In Zappendorf im Saalekreis steht ein Weinberg, der früher der Familie des Halleschen Komponisten Georg Friedrich Händel gehörte. In den letzten Jahren ist der Weinberg verwahrlost. Der Krankenpfleger und Hobby-Winzer Marcel Schuchert hat den Berg gekauft und will ihn nun wiederbeleben. Wir bestellen schon mal einige Flaschen!
Ach ja, und wenn Sie den Rückblick der Klassik-Woche hören wollen: Hier ist der aktuelle Podcast von Alles klar, Klassik? mit Dorothea Gregor und mir.
Zum Wohl, und halten Sie die Ohren steif!
Ihr
brueggemann@crescendo.de