KlassikWoche 44/2019
Die große Camouflage-Oper
von Axel Brüggemann
28. Oktober 2019
Heute über Zubin Mehtas Abschied in Israel, Opernsänger in Tarnkleidung und die wachsende Frauenquote hinter dem Dirigierpult.
WAS IST
STILFRAGEN
Ich befürchte, ich habe diesen Trend einfach verpennt. Dabei hat selbst Richard „Mörtel“ Lugner ihn schon erkannt: Camouflage ist die neue Mode-Farbe! Das hat uns Anna Netrebko auf Instagram gezeigt. Sie tänzelt und lächelt sich mit moderner Militär-Montur und mit Handtasche in Handgranaten-Form durch die Stalin-Architektur des „großen, patriotischen weißrussischen Kriegsmuseums“, also durch eine der größten Diktaturen der Welt. Es muss irgendwie befreiend sein, wenn einfach alles egal ist. Ein Status, den „Mörtel“ Lugner ebenfalls erreicht hat (außer, dass er nicht singen kann). Er kam in Camouflage zum Europäischen Kulturpreis „Taurus“ in die Wiener Staatsoper (allerdings mit so viel Glitter, dass er wahrscheinlich das erste Opfer eines jeden echten Krieges geworden wäre). Undercover hat er kurzerhand die Tischkarten ausgetauscht, um neben Intendant Dominique Meyer zu sitzen – der zog es allerdings vor, den Rest des Abends stehend zu verbringen.
KAMPF UM DIE MODERNE
Ebenfalls beim Europäischen Kulturpreis: Die junge Komponistin Alma Deutscher sagte in ihrer Dankesrede, dass den jungen Musikern heute Atonalität vorgeschrieben werde und dass Harmonien nicht mehr gewünscht seien. Deutscher wünsche sich den Beginn einer toleranteren Zeit, in der es nicht mehr verboten sei, harmonisch zu komponieren. Mit Verlaub: Aber was ist denn das für eine Rhetorik? Alma Deutscher darf komponieren, was sie will, sie bekam den Preis sogar von Thomas Hampson überreicht. Dass sie nun die radikal-konservative Rhetorik von „man darf ja nicht einmal mehr sagen“ übernimmt, ist dann doch ziemlich reaktionär. Dieses Gefühl hat mich auch beschlichen, als ich die neue Debatte um das Regietheater gelesen habe. Wiebke Tomescheit schreibt bei Neon: „Theatermacher hadern in meiner Vorstellung stets mit dem Drang, dem (zahlenden) Publikum gefallen zu wollen, und dem Wunsch, es so sehr wie möglich vor den Kopf zu stoßen.“ Tomescheit kommt zur Erkenntnis: Gerade das junge Publikum wolle doch nur Geschichten erzählt bekommen und keine avantgardistischen Experimente sehen. Gilt nicht auch hier, dass Experiment, Scheitern und Avantgarde ebenso Teil des Subventions-Auftrages von Stadttheatern sind wie Bildung, Überwältigung und pure Schönheit? Und dann ist da noch Anna Skryleva, GMD am Theater Magdeburg. Sie schreibt einen Aufsatz unter dem Titel: „Musiktheater – altmodisch oder aktuell“ und glaubt, dass „unsere Jugend“ nicht freiwillig, sondern nur mit Zwang über „ein Pflichtfach“ in der Schule für Kultur zu gewinnen sei. Ist nicht alles viel einfacher? Gut ist, was uns berührt – egal, ob wir jung oder alt sind, egal, ob das durch Experimente oder Tradition passiert. Können wir, bitte, die Vielfalt unserer kulturellen Landschaft als ihre eigentliche und beste Grundlage verstehen? Danke!
SIEGFRIED MAUSER VERLÄSST DIE AKADEMIE DER KÜNSTE
Es ist schon erstaunlich, wie langsam die Klassik sich bewegt. Seit vielen Monaten begleiten wir an dieser Stelle den Fall Siegfried Mauser, der erst jetzt die Bayerische Akademie der Schönen Künste verlässt. Komponisten wie Moritz Eggert oder Alexander Strauch weisen seit Monaten auf die fragwürdige Positionierung seiner Freunde wie Nike Wagner oder Wolfgang Rihm hin und verurteilen besonders die Autoren der Festschrift zu Mausers Geburtstag als Verhöhnung seiner Opfer. Lange wurde der ganze Fall in den großen Feuilletons totgeschwiegen. Jetzt passiert ein Umdenken: Sowohl die ZEIT als auch die FAZ kommentieren endlich, dass der Fall Mauser noch lange nicht abgehakt sein dürfe.
WAS WAR
MEHTAS ABSCHIED IN ISRAEL
Die letzten drei Minuten, die Zubin Mehta mit Mahlers „Auferstehungssinfonie“ das Israel Philharmonic Orchestra (IPO) dirigiert hat, gehen derzeit besonders viral: Musik mit Metaebene und gigantische Emotionen. Auf der Bühne stand unter anderem die Sopranistin Chen Reiss. Diese Woche hat sie ein Benefizkonzert mit Yefim Bronfman und Mehtas Nachfolger Lahav Shani organisiert. Die beiden spielten vierhändig für das Jugendprogramm des IPO. Im Anschluss sagte Shani mir: „Natürlich beginnt eine neue Ära, aber meine eigene Beziehung mit dem Orchester hat schon vor 10 Jahren begonnen – ich habe mit dem IPO als Solist gespielt, als Kontrabassist, mit Zubin und anderen Dirigenten, und viele der Musiker sind gute Freunde von mir. Deswegen wird der Übergang für mich, glaube ich, nicht wirklich schwer.“
WOHER DIE FRAUEN KOMMEN
Lesenswert der Artikel von Wolfram Goertz in der Rheinischen Post. Wer sich wundert, woher plötzlich so viele Dirigentinnen kommen, etwa die Dirigentin des Jahres, Joana Mallwitz, dem gibt Goertz folgende Antwort: „Dass es vielerorts eine Maestra gibt, hat viel mit dem Bergischen Land zu tun. Dort gibt es seit 20 Jahren, als Schwerpunkt der Orchesterakademie der Bergischen Symphoniker in Remscheid/Solingen, ein spezielles Dirigentinnen-Stipendium.“ Sehr lesenswert. Aus anderer Perspektive nimmt Peter Uehling das Thema auf. Er fragt in der Berliner Zeitung, ob es einen künstlerischen und ästhetischen Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Musikern gebe.
PERSONALIEN DER WOCHE
Plácido Domingo wurde in Wien als Verdis Macbeth gefeiert – den späteren Abend schlug er sich im Restaurant „Sole“ um die Ohren, unter anderem mit dem Pianisten Yefim Bronfman und dem Dirigenten Lahav Shani (O‑Ton-Domingo: „Ein sehr begabter junger Mann.“). Klatsch und Tratsch um die #metoo-Geschichten ebben ab, wäre da nicht Manuel Brug von der Welt, der noch einmal lustvoll bei Brigitte Fassbaender nachgehakt hat, die in ihrer Autobiografie ja auch über Domingo geschrieben hat. Etwas seriöser geht Elisabeth Hahn im Deutschlandfunk der #metoo-Frage nach. Ihr TonArt-Beitrag trägt den Titel: „Was bewirkt die Debatte hinter und auf der Bühne?“ +++ Ein ganz Großer hat uns verlassen: Der Bariton Rolando Panerai ist mit 87 Jahren gestorben. – Regelmäßig stand er mit Maria Callas und Giuseppe Di Stefano auf der Bühne. +++ Der Dirigent Raymond Leppard, Barock-Experte und Chef des Indianapolis Symphony Orchestra, ist im Alter von 92 Jahren gestorben. +++ Der Dirigent und Komponist Hans Zender ist im Alter von 82 Jahren gestorben. Kongenial seine 33 Veränderungen über 33 Veränderungen (seine kammermusikalischen Variationen der Beethoven’schen Diabelli-Variationen) oder seine Auseinandersetzung mit Schuberts Winterreise. Hans Zender war als Chefdirigent in Bonn und als GMD in Kiel und Hamburg tätig. „Die Sinne denken“, dieses Motto des Philosophen Georg Picht machte Zender sich in seiner Musik zu eigen, hieß es in der Sendung Leporello des BR. „Mag auch jeder Ton sorgfältig durchdacht sein – Urphänomen der Musik ist und bleibt der Klang, und der zielt auf die Sinne. Dieses unmittelbare Erlebnis des Klangs, der das Hören zum Abenteuer mit offenem Ausgang macht, war Ausgangspunkt und Ziel des dirigierenden Komponisten und des komponierenden Dirigenten Hans Zender.“
AUF UNSEREN BÜHNEN
Der Dirigent Muhai Tang dirigierte in Mailand zum 70. Jubiläum der Volksrepublik China. Dabei verlor er seine Hose – das Orchester spielte einfach weiter. +++ Jürgen Liebing war im Deutschlandfunk nicht sonderlich begeistert von der Hamburger Inszenierung des Don Giovanni. Er war genervt von der Drehbühne, sie lenkte zu sehr von den wunderbaren Sängerinnen und Sängern sowie dem sehr guten Orchester unter der Leitung von Ádám Fischer ab. „Das finde ich für eine Oper wie »Don Giovanni« und für einen Regisseur wie Jan Bosse, der mit seinen Schauspielern umgehen kann, zu wenig.“ +++ Die Hannoversche Allgemeine Zeitung berichtet über die umstrittene Tosca von Vasily Barkhatov: „Der junge russische Regisseur macht aus Puccinis Dauerbrenner »Tosca« einen überraschend umstrittenen Opernabend in Hannover. Das ist manchmal anstrengend – und ein Glück für das Stück. Zum Ende gibt es ausdauernden Applaus und Buhrufe.“
WAS LOHNT
Heute Mal einige Hör-Tipps für unterwegs. In der TonArt von WDR3 fragt Julia Spyker, warum so vielen Chören die Männerstimmen fehlen. Allein der Anteaser dieser Sendung ist großartig: „Es kostet nichts, macht glücklich und sexy: Singen!“ +++ Spannende Doku in SWR2: Was ist eigentlich aus Christoph Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso geworden? Globales Kunstprojekt, konkrete Entwicklungshilfe und ein Ort, an dem afrikanische und deutsche Künstler sich inspirieren. Patrick Batarilo geht all diesen Fragen nach. +++ Und gern lade ich Sie auch noch zur ersten Folge meiner Talkshow Brüggemanns Begegnungen ein. Auf Spotify redet der Dirigent Franz Welser-Möst fast zwei Stunden lang über seinen Streit mit der Wiener Staatsoper, darüber, was der Guglhupf mit seiner Familie zu tun hat, über Show-Dirigenten und die Faszination der kleinen Geste.
In diesem Sinne, halten Sie die Ohren steif
Ihr