Elīna Garanča
Die Schönheit und das Biest
23. Januar 2022
»Ich durfte mich entwickeln und habe nun das Land der Bösen betreten«. Das gilt für ihre Opernrollen. Lieder hingegen singt die Mezzosopranistin Elīna Garanča, als würde sie Bilder malen.
CRESCENDO: Frau Garanča, Mezzosopranrollen sind meist die interessanteren Frauen, nicht nur leidend, rein, unschuldig wie die Soprane – sie haben Ecken und Kanten, wurden verlassen wie Santuzza, zurückgewiesen wie Eboli. In Wien haben Sie gerade ihr Debüt als Principessa di Bouillon gegeben, Mörderin der Titelfigur in Francesco Cileas Adriana Lecouvreur: Wie gern sind Sie die Böse auf der Bühne?
Elīna Garanča: Ich glaube nicht daran, dass Menschen von Geburt an böse sein können. Und eine Figur nur böse darzustellen, mag ich gar nicht. Viel spannender finde ich es, solche Charaktere auseinanderzunehmen und zu verstehen, warum sie sich so verhalten. Dabei stößt man auf nur allzu menschliche Gründe wie Liebe, Macht, Geltung und so weiter. Ich bin eher eine melancholische Sanguinikerin als eine hysterische Cholerikerin – insofern kostet es mich manchmal ein bisschen Überwindung, die „Böse“ zu sein. Aber es stimmt schon: Zumindest wenn man im schwereren Fach angekommen ist, sind die meisten Rollen nach diesem Muster gestrickt. Dennoch macht es das abwechslungsreich: Es hat ja auch nicht jeder Mezzosopran das Glück, all diese Facetten des Fachs auszuüben. Viele landen zum Beispiel rein bei den dramatischen Kalibern oder nur beim Belcanto. Ich durfte mich von leichten, lyrischen Partien und Hosenrollen zu den jungen verliebten Frauen entwickeln – und habe jetzt tatsächlich das aufregende Land der Bösen betreten.
Das Wunderbare an Ihren Bösen ist, dass Sie die Schönheit der Stimme dabei nicht irgendwann verloren oder abgelegt haben.
Es gibt schon gewisse Sachen, die nicht mehr so gehen wie früher, Rossini zum Beispiel – aber ich vermisse sie auch nicht. Jedes Repertoire, das ich gesungen habe, hat mich ein Stück weitergebracht. Und gerade jetzt merke ich, dass meine Belcanto-Erfahrung mir bei Wagner zugutekommt. Nicht, weil man ihn rein belcantesk singen könnte, aber man kann die Schönheit und Rundung des Klangs mit dieser Technik auch ein bisschen beschützen. Das Schönste ist es, jede neue Partie mit der eigenen Stimme zu bewältigen, dass sie sich durch die Herausforderungen entwickelt, aber nicht verwickelt. Ich bin meinen Lehrern ungemein dankbar, dass sie erkannt haben, dass ich im Kern eine lyrische, weiche Stimme habe, die eine spezielle Schulung braucht, um Volumen und Klangstärke zu erlangen. Ich kann dabei niemanden nachmachen, meine Stimme erlaubt es einfach nicht!
Ist es für Sie spannender, eine Figur mit Haut und Haar in allen Facetten darzustellen oder einen Liederabend zu singen – also verschiedene Lieder darzubieten, mit unterschiedlichen Situationen im schnellen Wechsel?
Das lässt sich nicht so einfach beantworten. Oper und Lied sind zwei verschiedene Welten, die einander ergänzen – und jede befriedigt künstlerisch auf eine andere Weise. Für einen Liederabend ist eine beachtliche Kondition notwendig. Zweimal eine Dreiviertelstunde zu singen, dazwischen eine Pause, manchmal sind es 15 oder 16 verschiedene Lieder, das erfordert schon Gedächtnis, Konzentration und Wendigkeit. Es darf ja auch nicht alles gleich klingen! Die Oper hingegen gibt einem die Möglichkeit, etwas Großes durchzuziehen. In drei, vier Akten kann man sich normalerweise auch darstellerisch viel mehr ausleben. Allein die Körperhaltung kann viel erzählen, dazu noch laufen, sitzen, springen… Das entwickelt eine andere Dramatik – und ist unmöglich, wenn man nur ruhig vor dem Klavier steht. Mir ist beides wichtig für mein sängerisches Leben, und ich wundere mich oft, wie manche Kollegen von einer Opernproduktion zur nächsten eilen. Ich könnte das nicht. Nicht zu vergessen das Konzertrepertoire, das mir genauso am Herzen liegt. Ich bin wahnsinnig dankbar, dass mich viele Dirigenten auch zum Beispiel für Beethovens Missa solemnis oder das Verdi-Requiem haben wollen, das ganze Orchesterlied-Repertoire, Berlioz« Les nuits d’été und so weiter. Ich hoffe, dass ich nach dem Ende meiner Karriere nicht einfach als Opernsängerin eingestuft werde, sondern als facettenreiche Künstlerin, die in vielen musikalischen Genres tätig war.
»Statt einfach als Opernsängerin würde ich gern als facettenreiche Künstlerin eingestuft werden.«
An der Wiener Staatsoper haben Sie zuletzt Ihre erste Kundry gesungen, während des Lockdowns. Eine Première ohne Publikum, aber vor Kameras und Mikrofonen, dirigiert von Philippe Jordan. Wie haben Sie das erlebt?
Tatsächlich fehlte die Energie aus dem Zuschauerraum, aber es war ja kein komplett leeres Haus. Kritiker waren zugelassen, und die Übertragung hat dafür gesorgt, dass es letztlich mehr Leute miterlebt haben, als in der Staatsoper Platz gefunden hätten. Wir haben einfach auch für die Orchestermitglieder gesungen. Für mich war es jedenfalls ein riesiger Schritt in der Karriere, dieses letzte Türchen aufzumachen. Ich habe viel Zeit und Energie investiert, mir hat die einzigartige Inszenierung durch Kirill Serebrennikow wahnsinnig geholfen, und ich freue mich darauf, die Kundry vor Publikum zu singen. Man kann sich eine Partie eigentlich erst im Laufe zumindest einer Aufführungsserie ganz zu eigen machen.
Gibt es für Sie große Partien, die wunderbar zu singen wären, die Sie aber charakterlich uninteressant finden?
Viele Kolleginnen, die wie ich den Octavian im Rosenkavalier gesungen haben, sind dann zur Marschallin gewechselt, und tatsächlich bekam ich sie auch sofort angeboten, als ich den Octavian abgegeben hatte. Das ist zum Beispiel eine Rolle, die ich wahnsinnig schön finde, aber in der Darstellung vollkommen uninteressant im Vergleich zu dem, was der Octavian den Abend über machen kann und muss, stimmlich wie darstellerisch. Aber dadurch, dass ich von Dritten und Zweiten Dame in der Zauberflöte über Lola in Cavalleria rusticana, Stéphano in Roméo et Juliette, Orlofski in der Fledermaus, Dorabella in Così fan tutte, Rosina im Barbiere di Siviglia und so weiter doch ziemlich vieles gesungen habe, hat sich nie eine Wehmut in Bezug auf bestimmte Rollen eingestellt: Ich habe doch schon ziemlich alles auf der Bühne gemacht, was man machen kann.
»Bei Schumann wird die Stimme in einem Fluss getragen, bei Brahms ist sie der Fluss selbst.«
Bisher haben Sie Ihre Liederabende und auch das Album mit Schumann und Brahms eher von Komponisten, von einem stilistischen oder historischen Rahmen her aufgebaut. Ist das für Sie logischer als irgendein Motto, eine thematische Leitlinie?
Wenn man in eine Suppe alle möglichen Zutaten hineinschnipselt, garantiert das nicht, dass sie dadurch besser schmeckt. Ich beleuchte gerne zum Beispiel zeitliche Perioden in verschiedenen Ländern und möchte Klangfacetten zeigen, die etwa einen Jesus Guridi mit Richard Strauss und Sergei Rachmaninow verbinden oder auch trennen. Ich war noch nie ein Freund von Abenden, bei denen stilistisch alles durcheinandergemischt wird. Auch Schumann und Brahms sind zwei verschiedene Sprachen, obwohl sie eng verbunden sind: Bei Schumann wird die Stimme wie ein Boot in einem Fluss getragen, bei Brahms ist die Stimme der Fluss selbst. Das Schattieren und Differenzieren interessiert mich mehr als dauernde Kontraste zwischen Kraut und Rüben.
Sie haben mir vor ein paar Jahren über Lieder einmal gesagt: „Der Text muss mich als Erstes ansprechen, dann erst höre ich die Musik an. Und entweder sinkt es bei mir ein oder eben nicht.“
Das gilt immer noch. Ich singe Lieder, als würde ich Bilder malen – das kann ein Ölgemälde, sein, eine Fotografie, ein Schnappschuss. Ich muss das Bildmotiv mögen, um das tun zu wollen. Wenn mich der Text nicht in irgendeiner Weise anrührt und ich keine persönliche Beziehung aufbauen kann – ob nun emotional, intellektuell oder in Bezug auf mein Leben –, kann die Musik noch so schön sein, dann geht es nicht.
Gerne heißt es, das Lied sei eben keine dramatische Kunst wie die Oper, sondern sei gewissermaßen episch, erzählend. Stimmen Sie dem zu?
Auch Oper kann etwas Episches haben, und Schuberts Erlkönig lässt sich so vielfältig interpretieren, dass ich auch das Epische gestatten würde. Vieles verändert sich auch mit der Erfahrung und dem Alter. Ich bin überzeugt, dass man Frauenliebe und Leben anders singt, wenn man vielleicht gerade erst geheiratet hat, als wenn man schon Kinder hat oder Schicksalsschläge erleben musste. Je nach dem kann sich das dramatische Zentrum von Lied zu Lied verschieben. Und Mahlers Kindertotenlieder und Rückert-Lieder empfinde ich sowohl episch als auch dramatisch.
Haben Sie das Gefühl, dass der Liedgesang in einer Krise ist, dass das Publikum wegbricht?
Aus meiner Sicht kann ich das nicht bestätigen. Was sich vielleicht geändert hat: Vor Jahrzehnten waren zum Beispiel Dietrich Fischer-Dieskau und Elisabeth Schwarzkopf die dezidierten großen Liedinterpreten. Aber vonseiten zumal der Verfechter der italienischen Oper und nach deren Maßstäben gemessen galten die beiden nicht unbedingt als die idealen Opernstimmen. Seither hat sich das Verhältnis zwischen Lied- und Opernsängern wohl etwas ausgeglichen. Ich bin überzeugt, dass nicht jeder große Opernstar automaisch auch ein guter Liedsänger ist, aber Opernstars können ihr Publikum auch in einen Liederabend locken. Vielleicht ist vielen die Geduld abhandengekommen, sich von sich aus mit dem Lied zu beschäftigen – aber die, die dann kommen, sind genauso begeistert wie in der Oper.
Ihr Album „Live from Salzburg“ vereint zwei Orchesterliederzyklen, live aufgenommen mit den Wiener Philharmonikern und Christian Thielemann. Wie groß ist für Sie der stimmliche Unterschied zwischen den Klavier- und den Orchesterfassungen, gerade bei Wagners Wesendonck- und Mahlers Rückert-Liedern? Sie haben diese Zyklen ja auch schon mit Malcolm Martineau mit Klavier interpretiert.
2020 stand Wagner auf dem Programm, nach viermonatiger Pause und vor reduziertem Publikum – es waren für mich die ersten Wesendonck-Lieder mit Orchester. Das verändert im Vergleich zur Klavierfassung den Klang und den Bau der großen Bögen, modifiziert auch die musikalische Botschaft. Außerdem kommt die Spontaneität einer Live-Aufnahme dazu. Beide Zyklen sind reflektierend – bei Wagner vielleicht aus größerer Distanz, bei Mahler intimer und persönlicher. Das benötigt dann einen weicheren Klang. Man kann sich da mehr in den Text hineinfallen lassen, und es ergeben sich mehr Dialoge mit den Instrumenten. Wagner ist in diesem Fall mehr vertikal zu denken, Mahler erlaubt mehr Horizontale. Christian Thielemann, der in der Zusammenarbeit mit mir immer nett und sehr generös gewesen ist – wir können zusammen sowohl ernst und professionell sein als auch viel lachen – hat mich nach den Wesendonck-Liedern ja auch für die Rückert-Lieder angefragt. Das zeigt mir, dass er wohl auch seinen Gefallen an der Arbeit mit mir findet.
Eigentlich gibt es in diesen beiden Werken keinen inhaltlichen, erzählerischen Zusammenhang, wie etwa bei Frauenliebe und Leben oder bei Schuberts Schöner Müllerin und Winterreise. Wie haben Sie das in Salzburg angelegt? Ging es Ihnen beiden mehr um den übergeordneten stilistischen Zusammenhang oder um Einzelfacetten, die sich zusammenfügen?
»Ich liebe die Träume der Wesendonck-Lieder, für mich sind sie so esoterisch schön und intim.«
Eher Letzteres – wie bei einem Mosaik, das ein großes Ganzes ergibt. Gerade bei den Rückert-Liedern formuliert ja jedes einzelne eine eigene Botschaft. Aber durch die Zusammenstellung der Lieder kann man das weiter formen. Im Gegensatz zu Wagner gibt es bei Mahlers Rückert-Liedern ja keine verbindliche Reihenfolge. Ich habe da selbst in Liederabenden schon experimentiert und nach dem fixen Anfang mit Ich atmet« einen linden Duft die Plätze der Lieder getauscht. Stellt man Um Mitternacht an den Schluss, ergibt das einen anderen letzten Eindruck als mit Ich bin der Welt abhanden gekommen. In unserem Fall hat Christian Thielemann die Dramaturgie entschieden.
Haben Sie besondere Lieblingsstücke in den beiden Zyklen? Gibt es einen Höhepunkt, ein Zentrum, auf das man in der Interpretation hinarbeitet?
Bei den Wesendonck-Liedern liebe ich die Träume besonders, das letzte Lied, weil ich es als so esoterisch schön und intim empfinde. Bei den Rückert-Liedern hängt es oft von der Stimmung des jeweiligen Tages ab und natürlich vom Partner am Klavier oder am Dirigentenpult. Eine gewisse Wehmut gehört unweigerlich zu diesem Zyklus, aber selbst die kann eher aktiv oder eher passiv gefärbt sein. Gerade bei Mahler wird die Atmosphäre unweigerlich und in einem hohen Maß vom Tempo mitbestimmt. Da spielen Alter, Herkunft und Musiziertradition mit hinein, und natürlich das Orchester – in Salzburg die fantastischen Wiener Philharmoniker.
Wenn Sie die Wesendonck-Lieder singen, entsteht da nicht unweigerlich eine Lust auf die Isolde?
Es gibt jemanden in der Opernwelt, der begrüßt mich immer mit den Worten: „Hallo, Isolde!“ Ich dreh mich dann um und tu so, als würde ich weggehen… Doch im Ernst: Ich glaube, dass ich sie durchaus einmal singen könnte, die Frage ist aber: Warum sollte ich? Auch Lady Macbeth und Tosca wären wundervolle Partien. Im sogenannten Sopranfach ist allerdings ein gewisses Extra gefragt, das ich einfach nicht habe: Ich bin nicht gerne die Nummer eins des Abends. Zugegeben, ich singe die Carmen, früher auch zum Beispiel die Cenerentola. Aber ich fühle mich wohl damit, in der Wahrnehmung oft erst nach Sopran und Tenor zu kommen. Bei der Isolde ist mir für meinen Charakter schon die damit einhergehende Erwartung zu schwer, zu belastend, zu groß. Aber vielleicht in einem Konzert… Wer möchte schon auf immer und ewig zum „Liebestod“ nein sagen?
Auftrittstermine und weitere Informationen zu Elīna Garanča unter: elinagaranca.com