Woher kommt eigentlich ...
Der Wahnsinn der aktuellen Fankultur?
von Stefan Sell
26. Oktober 2021
Fans reisen durch die Welt auf der Jagd nach ihrem Idol, warten an Bühnentüren, sammeln Autogramme und Souvenirs. Aber was wären die Künstler ohne ihre Fans, ohne Schwärmerei und Bewunderung?
„I ‘m your biggest fan / I‘ll follow you until you love me“, singt Lady Gaga in ihrem Song Paparazzi, der auf ihrem Debütalbum „The Fame“ zu finden ist. Im Gaga-Universum ist Lady Gaga „Mother Monster“ und ihre Fans sind die „Little Monsters“. Die Währung aller Fans im Internet sind Klicks und Likes. Gagas YouTube-Kanal hat mehr als 20 Millionen Abonnenten, ihr Video Bad Romance erzielte inzwischen fast 1,5 Milliarden Klicks – leider zu wenig, um in den Charts der meistgesehenen YouTube-Videos unter die ersten 100 zu kommen. Da hilft auch nicht, dass dieses Video zudem an die sieben Millionen Likes hat.
Zum Vergleich: Auf Platz eins dieser Charts steht mit 9,3 Milliarden Klicks das Kinderanimationsvideo Baby Shark Dance. Textprobe: „Baby shark, doo doo doo doo doo doo, Mommy shark, doo doo doo doo doo doo, Daddy shark, doo doo…“ Die Weltbevölkerung umfasst derzeit knapp acht Milliarden Menschen, also weniger, als Baby Shark Dance Klicks hat. Despacito von Luis Fonsi feat. Daddy Yankee auf Platz zwei hat nur 7,5 Milliarden Klicks, dagegen immerhin knapp 46 Millionen Likes und damit fast 35 Prozent mehr als Baby Shark. Dafür hat Lady Gaga ein eigenes Wikipedia, es heißt Gagapedia. Ihre Fanbase ist gerade dabei, sie dazu zu bringen, ihrem Album „Artpop“ aus dem Jahre 2013 ein weiteres in genau dem gleichen Stil folgen zu lassen, gewünschter Titel: Artpop Act 2. Eine Petition mit inzwischen circa 50.000 Unterzeichnern liegt schon vor. Zudem ist ihnen gelungen, ihr Album „Artpop“ erneut in den iTunes-Charts nach oben zu bringen. Das schaffen Fans also.
„Mother Monster“ twitterte: „Die Petition hat eine unglaubliche Wärme in meinem Herzen ausgelöst. Dieses Album zu machen, war wie eine Herzoperation. Ich war verzweifelt, hatte Schmerzen und schüttete mein Herz in elektronische Musik, die härter knallte als jede Droge, die ich finden konnte … Nachdem ich dieses Album veröffentlicht hatte, brach ich zusammen. Danke, dass ihr etwas feiert, das sich einst wie Zerstörung anfühlte. Wir haben immer geglaubt, dass es seiner Zeit voraus war. Jahre später stellt sich heraus, dass Künstler sowas manchmal wissen. Little Monsters auch.“
Wüsste man nicht, wie viel Herzblut und Enthusiasmus die Fans der klassischen Musik ihren Interpreten entgegenbringen, könnte man deren virtuelle „Aktivitäten“ geradezu erbärmlich finden. Anna Netrebko kommt zusammen mit Elīna Garanča und Offenbachs Barcarole bei YouTube gerade mal auf 13 Millionen Klicks und 82.000 Likes. Was das Internet betrifft, zählt Netrebko zu den Umtriebigsten in der Opernwelt. Auf Facebook hat sie 425.395 Abonnenten, 61.726 folgen ihr bei Twitter, auf Instagram kommt sie zusammen mit ihrem Mann auf 722.000.
Vertrauen schaffen
Vor Kurzem ließ Jonas Kaufmann seinen knapp 200.000 Facebook-Abonnenten mitteilen: „Leider sind Hacker zurückgekehrt und haben meinen Abonnenten auf dieser Seite eine Nachricht geschickt. Bitte passt auf euch auf, antwortet niemals auf Botschaften dieser Natur und begleitet mich, sie zu blockieren und zu melden.“ Den Sprachduktus prägt die automatische Übersetzung ins Deutsche und mahnt zur Vorsicht. Bedeutet die Nachricht doch nichts anderes, als dass inzwischen viele unter falschen Namen und falschen Konten an besonders aktive Fans andocken, um ihnen über eine „private“ Mail, auf die sie antworten sollen, Exklusivität zu verschaffen. Das Ende vom Lied: Irgendjemand will Geld. Schon mancher verlor auf diese Weise, weil er der Versuchung nicht widerstehen konnte, ein schönes Sümmchen – und Vertrauen. Das schafft man mit Fans also.
Soeben hatte Kaufmann einen grandiosen Auftritt im Odeon in Athen. Für die Fans gibt es auf Facebook einen After-Show-Post mit Foto, wie er eine Bağlama, eine türkische Langhalslaute, in den Händen hält: „Feier nach dem Auftritt gestern Abend in Athen – komplett mit einem besonderen Geschenk: einer traditionellen Bağlama!“ Fan: „Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem großen Erfolg in Athen! Haben Sie vor, Ihren Gesang mit dieser Bağlama zu begleiten? Das wäre doch schön!“ Würde Kaufmann von nun an, ungeachtet ob er sie spielen kann, seinen Gesang zur Bağlama vortragen, wäre jemand glücklich. Schaffen Fans so etwas?
Jason Carter, ursprünglich klassischer Konzertgitarrist, hat sich inzwischen mit kreativen Videos aus der ganzen Welt neu aufgestellt. Als Afghanistan wieder in die Schlagzeilen geriet, erinnert er mit einem Video daran, dass er vor Jahren wunderbare Konzerte zusammen mit afghanischen Musikern gegeben hat, und vermittelt durch das erneute Verlinken eines Konzertmitschnitts etwas sehr Berührendes, das dem Viewer die wunderbaren Menschen Afghanistans nahebringt. Tatsächlich aber bekommt er weit mehr Aufmerksamkeit und Likes, wenn er in einem offenen roten Mercedes-Cabriolet auf den Social-Media-Plattformen seine Runden dreht.