Frieder Bernius
Die gemeinsame Gestaltung eines musikalischen Kunstwerks
von Ruth Renée Reif
11. Juli 2021
Frieder Bernius setzt mit seinem Streben nach dem Klangideal und seinen Interpretationen Maßstäbe.
Frieder Bernius legte 1968 mit der Gründung des Kammerchors Stuttgart den Grundstein für sein künstlerisches Schaffen. Weitere Klangkörper wie das Barockorchester Stuttgart und die Hofkapelle Stuttgart sowie Festivals folgten. Auf seinem Album „Te Deum“ widmet er sich mit dem Kammerchor Stuttgart einer Neuinterpretation von Felix Mendelssohn Bartholdys Chorkompositionen.
CRESCENDO: Herr Bernius, Felix Mendelssohn Bartholdy nimmt unter Ihren beeindruckenden 100 CD-Aufnahmen breiten Raum ein. Bereits Ihre erste CD 1976 war seinen Psalmen und Chormotetten gewidmet. Was fasziniert Sie an ihm?
Frieder Bernius: Vielleicht hängt meine Bewunderung für Mendelssohn mit den Leidenschaften zusammen, die er uns vorgelebt hat und die ich ebenfalls teile. Da ist etwa seine Begeisterung für barocke Musik, wie sie in der Wiederaufführung von Bachs Matthäus-Passion zum Ausdruck kam oder seine dirigentische Hingabe an die Ensemblebildung. Auch dass er zu gleichen Teilen Instrumental- und Vokalmusik komponierte, entspricht meinen Interessen.
Ich wollte das Gegenteil beweisen und zeigen, dass Mendelssohn einer der großen Komponisten ist. Inzwischen habe ich mir außer zwei Schauspielmusiken und zwei Sinfonien, die immer wieder gespielt werden, sein gesamtes Chorschaffen, aber auch sein Orchesterwerk und alle seine Kompositionen für Chor und Orchester erarbeitet.
Ihr aktuelles Mendelssohn-Album beginnt mit dem Chorwerk Te Deum, das den Abschluss seiner Ausbildung bei Carl Friedrich Zelter markiert, gefolgt von Hora est und Ave Maria. Was ist die Idee dieser Zusammenstellung?
Die drei Werke stehen in einem engen zeitlichen Zusammenhang. Mendelssohn lebte insgesamt nur 38 Jahre. Schon mit 11 Jahren aber begann er zu komponieren. Insofern lassen sich durchaus Phasen in seinem Schaffen ausmachen. Da gibt es die zeitlich enge Phase von vier oder fünf Jahren, in der er sich mit den barocken Vorbildern auseinandersetzte, und in dieser Phase entstanden das Te Deum und Hora est. Mendelssohn orientierte sich zwar an den Barockwerken. Doch er ließ auch seinen eigenen stilistischen Anteil erkennen. Und das Spannende besteht darin, diesen Anteil herauszuhören und seiner Entwicklung nachzugehen.
FRIEDER BERNIUS: »An Interpretationen muss man ständig weiterarbeiten. Es tut sich immer eine neue Sicht auf.«
Was motiviert Sie, ein Werk wie Te Deum, das Sie mit Hora est bereits in den 1980er-Jahren eingespielt haben, noch einmal aufzunehmen?
An Interpretationen muss man ständig weiterarbeiten. Es tut sich immer eine neue Sicht auf. Der Ensemblestandard ist vorangeschritten. Daher war diese Neueinspielung notwendig, auch wenn die Aufnahme aus den 1980er-Jahren Teil unserer Gesamtaufnahme aller Vokalwerke Mendelssohns ist. Damals nahmen wir mit 60 Sängern auf. Mit diesem Klang war ich nicht mehr zufrieden. Hora est ist ein vierchöriges Stück, und die solistische Aufnahme, für die wir uns diesmal entschieden haben, lässt die Polyphonie auch transparent werden.
Wie entsteht bei Ihnen das Klangideal eines Werks?
Zunächst lese ich die Partitur und erspiele sie mir auf einem Tasteninstrument. Beim Lesen geht aber ohne Intuition gar nichts. Aber alles Weitere muss danach auf der gemeinsamen Basis von Reflexion und Erfahrung mit Chor und Orchester entstehen. Sobald ich höre, welcher Klang entsteht, ergeben sich daraus neue Ideen. Im Moment des Konzerts oder der Aufnahme ist Spontaneität gefragt.
Welche Bedeutung kommt in diesem Prozess den Aufnahmen von Kollegen oder anderen Chören zu?
Kein Musiker oder Musikerin kann ohne Anregung auskommen oder von sich sagen, er schaffe alles neu. Meine chorische Klangvorstellung ist zum einen von der schwedischen Klangkultur geprägt, insbesondere von Eric Ericson. Zum anderen wurde sie vom Klang der englischen Kathedralen beeinflusst. Davon ausgehend, entwickelte ich auf der Basis von Vokaltreue der deutschen Hochsprache mein Klangideal. Die deutsche Sprache kennt verschiedene „e“, das geschlossene, das offene, und Differenzierungen beim stummen „e“. Mir ist es wichtig, diese Unterschiede, gesanglich abgebildet, zu hören. Ich empfinde es als unerträglich, wenn ein Sänger oder eine Sängerin „Hörz“ statt „Herz“ singt, und im Lauf der Zeit bin ich dabei immer sensibler geworden.
Bei der barocken Musik ist der Klang der Instrumente eine wichtige Inspirationsquelle. Wir wissen nicht genau, wie damals gesungen und gespielt wurde. Aber in den Quellen findet sich häufig die Anweisung, Sänger und Instrumentalisten sollten einander nachahmen. Daraus können wir zumindest eine Vorstellung vom Klang des damaligen Gesangs gewinnen. Ebenfalls hilfreich ist das Anhören eigener Aufnahmen. Den Studierenden einer Meisterklasse rate ich immer, von einer Probe aufzunehmen, was sie erarbeitet und dirigiert haben, um es in Ruhe abzuhören und zu verarbeiten. Ich selbst habe daraus viel gelernt. Bei 98 Prozent der 100 CDs, die wir eingespielt haben, war ich auch immer in der Nachproduktion dabei.
Sie verstehen CD-Aufnahmen wie Filmaufnahmen als eigene Kunstform mit eigenen technischen und künstlerischen Mitteln, die Sie auch selbst gestalten. Dennoch haben Sie das Album nicht im Studio, sondern in einer Kirche aufgenommen…
Der Grund liegt in der Akustik dieser Kirche von Gönningen. Als wir in den 1980er-Jahren an der Orgel, die aus der Zeit von Mendelssohn stammt, aufnahmen, merkten wir diese besondere Akustik. Durch den Tuffstein und dessen poröse Struktur prallt der Klang weniger schroff ab. So wurde diese Kirche zu unserem beliebtesten Aufnahmeort.
FRIEDER BERNIUS: »Mein Ziel als Interpret ist es, den Vorstellungen der Komponisten und den Voraussetzungen der Entstehung ihrer Werke so nahe wie möglich zu kommen.«
Spielt es eine Rolle für Ihre Herangehensweise, ob es sich um geistliche Musik handelt?
Es spielt eine persönliche Rolle. Meine Mutter war Kirchenmusikerin und mein Vater Pfarrer. Für die Interpretation ist diese persönliche Bindung allerdings nicht entscheidend. Vielmehr muss es gelingen, herauszufinden, was der Komponist über die von ihm vertonten Texte denkt, wie er an sie heranging und wie sich das in seiner klanglichen Umsetzung niederschlägt.
Im Booklet schreiben Sie von „Authentizität“ und scheinen sich rechtfertigen zu wollen, warum Sie das Te Deum nicht gemäß der Tradition, aus der es kommt, mit 200 Sängern aufführen. Muss es um Authentizität gehen? Sind nicht alle diese Werke längst zum großen Steinbruch aufgestiegen, aus dem Neues erwachsen kann?
Natürlich sind Meisterwerke für jede Interpretation verfügbar. Aber für mich ist Authentizität eine wichtige Voraussetzung. Mein Ziel als Interpret ist es, den Vorstellungen der Komponisten und den Voraussetzungen der Entstehung ihrer Werke so nahe wie möglich zu kommen. Es stimmt, dass ich mich rechtfertigen will. Denn aus meiner Sicht ist es ein Eingriff, Hora est mit 16 solistisch Singenden aufzunehmen. Interessant wäre für mich zu wissen, was Mendelssohn sagen würde, wenn er es hören könnte. Welche Vorstellungen hatte er? Es gibt da eine 35 Jahre vorher von Carl Christian Friedrich Fasch, dem Gründer der Singakademie und Sohn von Johann Friedrich Fasch, komponierte Messe. Sie ist ebenfalls 16-stimmig, und Carl Christian Fasch brachte sie im kleinen Kreis mit 30 oder 40 Sängern zur Aufführung. Hätte Mendelssohn das mit seinem Te Deum auch lieber getan? Ließ er das Stück von der Singakademie nur aufführen, weil ihm keine anderen Sänger und Sängerinnen zur Verfügung standen? Konnte er sich das Werk vielleicht sogar instrumental vorstellen, aufgeführt vom Gewandhausorchester?
Mit Mendelssohn taucht der Beruf des Dirigenten im heutigen Sinne auf, den Sie bereits seit Jahrzehnten ausüben. Wie verstehen Sie ihn?
Ich versuche, auf Augenhöhe und als primus inter pares zu agieren. In den Proben verstehe ich mich als Anreger und Vermittler, was eine persönliche Sicht in den Aufführungen nicht ausschließt. Dasselbe Interesse erwarte ich von meinen Musizierpartnern, damit wir paritätische Anteile an derselben Sache haben. Routine darf sich dabei nicht einstellen.
Was zeichnet die dirigentische Arbeit mit einem Chor gegenüber der mit einem Instrumentalensemble aus?
In beiden Fällen ist es mir wichtig, über die Tonbildung genau Bescheid zu wissen. Bei den Sängerinnen und Sängern möchte ich mich mit der Stimmtechnik und den Vokalfarben auskennen. Und bei den Instrumentalisten möchte ich mit den Tonlagen- und Klangfarbenunterschieden der Instrumente sowie der Bogentechnik der Streicher vertraut sein. Erst wenn ich weiß, wie ein Klang beim Chor und beim Orchester zustande kommt, bin ich in der Lage, alles zu einem gemeinsamen Klang zusammenzufügen. Das Ziel ist die gemeinsame Gestaltung.
Frieder Bernius: »Mir ging es darum, mit stimmlich ausgebildeten Sängerinnen und Sängern, die gemeinsam in einem Ensemble singen, einen einheitlichen Zusammenklang zu formen.«
Sie haben 1968 den Kammerchor Stuttgart, 1991 das Barockorchester Stuttgart, die Klassische Philharmonie Stuttgart und 2006 die Hofkapelle Stuttgart gegründet. Hat jedes dieser Ensembles eine eigene Klangkultur?
Idealerweise hat es das. Die Klangkultur hängt mit dem jeweiligen Stil zusammen. Der Kammerchor gründet seine Klangkultur auf Vokaltreue, Intonation und Homogenität und hat eine unterschiedliche Besetzungsstärke und Stimmfächer, die je nach Stil und Epoche differieren. Bei der Hofkapelle bewirken die barocken Instrumente einen schroffen, sprechenden Klang. Orientieren muss sich dieser an den Affekten, die der Text zum Ausdruck bringt. Die Hofkapelle ist auf Werke der Klassik und Frühromantik wie etwa die Sinfonien von Norbert Burgmüller und Johann Wenzel Kalliwoda und Opernausgrabungen derselben Zeit spezialisiert. Bei ihr geht es, weg vom barocken Klang, mehr um Klangverschmelzung und einen kantablen, transparenten Klang. Chorsinfonische Werke wiederum erfordern die genaue Abstimmung zwischen den Sängern des Kammerchors und den Instrumentalisten der Hofkapelle. Mit unserer Aufnahme der Missa solemnis im Beethoven-Jahr ist uns diese Verschmelzung gut gelungen. Ich habe mich bei der Aufnahme bewusst für die Hofkapelle entschieden, die einen tieferen Kammerton von 430 Hertz verwendet, weil diese extremen Partien den hohen Stimmen sonst zu viel abverlangen.
Mit dem Kammerchor Stuttgart arbeiten Sie bereits über fünf Jahrzehnte. Haben sich in dieser Zeit die Klangvorstellungen gewandelt?
Ja, sehr. Gegründet habe ich den Kammerchor 1968, als ich noch Student war. Damals sang jeder, „wie ihm der Schnabel gewachsen war“. Mir aber ging es von Anfang an darum, herauszufinden, wie mit stimmlich ausgebildeten Sängerinnen und Sängern, die gemeinsam in einem Ensemble singen, ein einheitlicher Zusammenklang geformt werden kann. Bei ausgebildeten Sängern treten nämlich die einzelnen Stimmfächer stark hervor, und man muss einen Weg finden, für einen Ensembleklang diese zu vereinheitlichen. Diese Aufgabe hat mich fasziniert. Ich begann mit A‑cappella-Kompositionen und wandte mich dann dem barocken Repertoire zu. Durch das Spiel auf den historischen Instrumenten konnte ich das Gespür für einen Zusammenklang verfeinern. Bei dieser Aufnahme des Hora est hat sich durch die Besetzung mit 16 solistisch Singenden das Klangergebnis verändert.
Frieder Bernius: »Ausgereizt ist eine Interpretationsmöglichkeit nie, weil eine Interpretation niemals vollkommen sein kann.«
Sie gehören zu den Pionieren der historisch informierten Aufführungspraxis. Diese eröffnete eine neue Sicht und legte vieles frei von dem, was das 19. Jahrhundert verdeckt hatte. Ist sie mittlerweile ausgereizt, und was könnte nachfolgen?
Das muss die Generation nach mir herausfinden. Ich hoffe, dass weitere Generationen folgen, die noch mehr herausholen. Ausgereizt ist eine Interpretationsmöglichkeit nie, weil eine Interpretation niemals vollkommen sein kann. Klanglich adäquate Ergebnisse lassen sich auch erzielen, wenn man die auf alten Instrumenten gewonnenen Erkenntnisse mit modernen Instrumenten umsetzt. Keinesfalls dürfen die barocken Werke wieder so gespielt werden wie im 19. Jahrhundert. Das will man nicht mehr hören.
Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?
Demnächst erscheint ein Mitschnitt aus der Semperoper, wo wir kurz nach der Wende die Oper L’olimpiade von Johann Adolph Hasse mit der Capella Sagittariana zur Aufführung brachten. Noch aufnehmen wollen wir Schuberts As-Dur-Messe, die bisher in unseren Aufnahmen der Meisterwerke fehlt. Mit denselben Sängerinnen und Sängern wie beim Te Deum haben wir die Cinq Rechants von Olivier Messiaen eingespielt, und diese Aufnahme kommt im Herbst 2021 heraus. Im März 2022 folgt die Vokalfassung von Haydns Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze. Besonders am Herzen liegt mir eine Aufnahme von Louis Spohrs Des Heilands letzte Stunden, weil Spohr das Passionsthema anders umsetzt als die Barockkomponisten. Und für 2023, wenn sich der Geburtstag von György Ligeti, der für mich einer der bedeutendsten Komponisten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist, zum 100. Mal jährt, planen wir ein Konzertprojekt mit den Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin und Clocks and Clouds für Frauenchor und Orchester.
Auftrittstermine und weitere Informationen zu Frieder Bernius sowie dem Kammerchor Stuttgart, dem Barockorchester Stuttgart, der Klassischen Philharmonie und der Hofkapelle Stuttgart unter: www.musikpodium.de