Gidon Kremer
Ein Kunstwerk in Schutz nehmen
von Ruth Renée Reif
26. Februar 2022
Begeistert mit einem kompromisslosen Einsatz für zeitgenössische Komponisten. Gidon Kremer, einer der aufregendsten Geiger der Gegenwart, wird 75 Jahre alt.
Gidon Kremer ist immer an Neuem interessiert. Seine „musikalische Handschrift“ ist unverwechselbar und wird von zeitgenössischen Komponisten geschätzt. Kremer selbst beschreibt es als ein besonderes Gefühl, „ein Kunstwerk mit der eigenen Interpretation gleichsam in Schutz zu nehmen“. Es werde so Teil seines Selbst, ohne seinen objektiven Wert zu verlieren.
Bereits in der Sowjetunion spielte Kremer beim Internationalen Festival für zeitgenössische Musik in Leningrad neben Werken von Eugène-Auguste Ysaÿe und Béla Bartók auch alle 12 Teile des Tierkreis von Karlheinz Stockhausen. Dieser wurde in der Sowjetunion damals nicht gespielt, und Gidon Kremer wollte mit der Erstaufführung des Werks „einen Akzent künstlerischer Freiheit“ setzen.
Kremers Engagement galt jedoch vor allem seinen Moskauer Kollegen wie Arvo Pärt und Alfred Schnittke. Mit Schnittke sowie dem Litauischen Kammerorchester unter Saulius Sondeckis und der Geigerin Tatjana Grindenko begab Kremer sich 1977 auf eine Auslandstournee, die auch durch die Bundesrepublik führte. Dabei brachte er mit Schnittke am Klavier u.a. Pärts Doppelkonzert Tabula rasa zur Aufführung. Eine Aufnahme des Auftritts, der später bei ECM erschien, wurde, wie Kremer sich in seinem autobiografischen Band Zwischen Welten erinnert, zur „Kultplatte“.
Mit Schnittkes Präludium in memoriam Schostakowitsch erregte Kremer bei seinem New-York-Debüt in der Avery Fisher Hall Aufmerksamkeit, zu dem auch Leonard Bernstein und Isaac Stern kamen. Schnittke und Kremer verband eine tiefe Freundschaft, die bereits während Kremers Ausbildung am Tschaikowski-Konservatorium in Moskau begonnen hatte. Schnittke war in der Sowjetunion umstritten. „Die extrovertierten, aggressiven Töne, hinter denen man das Atmen, die Verletzlichkeit und das tief verborgene Innenleben eines individuellen Künstlers spürte, wurden a priori als avantgardistisch diffamiert“, erläutert Kremer.
Doch auch im Westen war es für Kremer nicht immer leicht, neuen Werken die ihnen gebührende Geltung zu verschaffen. 1984 brachte er in Berlin Schnittkes Violinkonzert, das dieser für ihn geschrieben hatte, zur Uraufführung. Das Konzert hatte eine Besonderheit: „Es verlangt vom Solisten in der ‚Cadenza Visuale‘ nicht nur die üblichen virtuosen Passagen, polyphon-kontrapunktische Exerzitien, sondern die Identifikation mit der Person eines Virtuosen, der gegen die Masse (das Orchester) ankämpft: Einer gegen alle.“ Zweimal widmete Kremer bei dem von ihm 1991 im österreichischen Lockenhaus gegründeten Kammermusik-Festival Schnittke ein Sonderkonzert. Und zum 100. Jubiläum der Carnegie Hall brachte er mit dem Cleveland Orchestra unter Christoph von Dohnányi Schnittkes fünftes Concerto grosso zur Uraufführung.
Zunächst als „fernen Klang im Konzertsaal“ lernte Kremer in Moskau die Werke Sofia Gubaidulinas kennen. „Selten habe ich bei einer Künstlerin eine solche innere Kraft gefühlt und zugleich das starke Bedürfnis verspürt, ihrer Inspiration zu folgen“, beschreibt er seinen Eindruck.
1981 brachte Kremer im Rahmen der Wiener Festwochen mit dem ORF-Symphonieorchester unter Leif Segerstam das Violinkonzert Offertorium zur Uraufführung, das sie ihm gewidmet hatte. Um das Werk auch aufnehmen zu können, musste er, wie er schreibt, der DG erst ein Ultimatum stellen. Das Album mit Hommage à T.S. Eliot als zweitem Stück, das Gubaidulina nach dem Besuch in Lockenhaus komponiert hatte, stieß auf ein begeistertes Echo und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts setzte sich Kremer mit all seiner Virtuosität für die Wiederentdeckung Mieczysław Weinbergs ein. Weinberg wurde in die Tragödien des 20. Jahrhunderts hineingerissen. Die Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft und dem damit verbundenen Leid bildet das Leitthema seines Schaffens. Und er besaß die moralische Kraft, stets den Moment der Hoffnung aufrechtzuhalten. Kremer lernte ihn bereits während seines Studiums am Konservatorium in Moskau. Doch vermochte er damals nicht, ihn und sein Werk einzuschätzen.
Mittlerweile hat er mit seinem 1979 gegründeten Streichorchester Kremerata Baltica, das Musiker aus allen drei baltischen Staaten zusammenführt, Weinbergs Kammersinfonien sowie die Cello-Präludien in eigenen Transkriptionen für Geige aufgenommen. Zur 100. Wiederkehrt von Weinbergs Geburtstag 2019 brachte er beim Kammermusikfestival Lockenhaus, inspiriert vom in Moskau lebenden Regisseur Kirill Serebrennikov, der nicht aus Russland ausreisen durfte, dem Komponisten eine audiovisuelle Hommage dar. Und 2022 veröffentlichte er ein Album mit Weinbergs drei Violinsonaten aus den Jahren 1964, 1967 und 1979 heraus. Mehr dazu unter CRESCENDO.DE.
Auftrittstermine und weitere Informationen zu Gidon Kremer unter: www.gidonkremer.net