Giuseppe Tornatore
»Das Gesamtwerk von Ennio können wir niemals nachvollziehen«
von Ruth Renée Reif
29. Oktober 2022
Am 22. Dezember 2022 kommt der Dokumentarfilm »Ennio Morricone – der Maestro« von Giuseppe Tornatore in die deutschen Kinos.
„Ich hatte das Bedürfnis, Ennio Morricone abzubilden, wie ich ihn kannte“, erläutert Giuseppe Tornatore die Arbeit an seinem Dokumentarfilm Ennio Morricone – der Maestro. „Er war ein sehr einfacher Mann, aber gleichzeitig absolut außergewöhnlich. Um das darzustellen, musste ich auch in sein Leben jenseits der Musik eindringen. Ennio verstand das und gab bereitwillig Auskunft.“ Unmittelbar nach dem Tod Morricones fertiggestellt, wurde der Film bei den 78. Internationalen Filmfestspielen von Venedig gezeigt. Tornatore, den mit Morricone eine lange gemeinsame Arbeit und Freundschaft verband, nachdem Morricone die Musik zu Cinema Paradiso geschrieben hatte, wollte mit dem Film dieser Freundschaft ein Denkmal setzen.
Die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Sergio Leone macht Ennio Morricone weltberühmt. Dessen Italo-Western, allen voran C’era una volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod) aus dem Jahr 1968 wurden entscheidend durch seine Musik und vor allem seine Fähigkeit, Situationen durch scharfe Rhythmen und klangfarbliche Reize zu charakterisieren, geprägt.
Seinen ersten Erfolg als Filmkomponist errang Morricone bereits 1961, als er für Luciano Salces Film I federale (Zwei in einem Stiefel) die Musik komponierte. Mit vielen Regisseuren arbeitete er zusammen, wie etwa Bernardo Bertolucci, Ettore Scola, Mauro Bolognini, Roman Polanski, Roberto Faenza, Warren Beatty und vor allem Pier Paolo Pasolini, dessen Filme Uccellacci e uccellini (Große Vögel, kleine Vögel), Teorema (Teorema – Geometrie der Liebe), Decameron, I racconti di Canterbury (Pasolinis tolldreiste Geschichten) und Salò o le 120 giornate di Sodoma (Die 120 Tage von Sodom) er musikalisch untermalte. Tornatore versucht in seinem Film die Illusion zu schaffen, als lebe Morricone, der 2020 nach den Dreharbeiten verstarb, noch: „Ich glaube, das hat mich gereizt: Dass ich immer in der Gegenwart von ihm spreche, als von einem Menschen, der noch immer arbeitet und den man auch heute noch auf ein Glas Wein zum Plaudern treffen kann.“ Zahlreiche Freunde und Weggefährten wie Clint Eastwood, die Komponistenkollegen Hans Zimmer und John Williams sowie die Musiker Joan Baez und Bruce Springsteen lässt er zu Wort kommen.
Zu mehr als 500 Filmen schrieb Morricone die Musik. Er komponierte aber immer auch für den Konzertsaal. Nach Abschluss seiner Ausbildung am Conservatorio Santa Cecilia, an dem er Komposition, Trompete, Chormusik, Chorleitung und Instrumentation studiert hatte, gehörte er in den 1950er-Jahren mit Firmino Sifonia, Aldo Clementi, Domenica Guaccero und Boris Porena in Rom zu den Avantgarde-Komponisten. Pierre Boulez, Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen wählte er zu seinen Vorbildern. Zahlreiche Kammermusik- und Orchesterwerke entstanden in dieser Zeit wie Sonata für Blechbläser, Pauke und Klavier, Sestetto, Concerto per orchestra oder Tre studi für Flöte, Klarinette und Fagott. 1958 nahm er an den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik teil.
Tornatore nennt die Selbstzweifel und Schuldgefühle, die Morricone quälten, einen äußerst interessanten Aspekt, „vielleicht der einzige wirklich dramaturgische, den ich aus Ennios Geschichte herauskristallisieren konnte. Warum hatte er diesen inneren Konflikt? Woher stammte seine Unzufriedenheit? Ich würde es mir so erklären: Ennio war ein Mann, der die Musik liebte und den Horizont seiner Zeitgenossen erweitern wollte, der sich aber gleichzeitig gezwungen sah, seine kompositorischen Fähigkeiten in den Dienst eines Unterhaltungskäfigs zu stellen. So sah er das Kino jedenfalls am Beginn seiner Karriere. Er verglich es mit Popmusik.“
Der Konflikt quälte Morricone jahrelang und sei auf äußerst interessante Weise gelöst worden, meint Tornatore. Morricone habe nie aufgegeben, das Kino mit seiner Klassik zu beeinflussen und die Filmmusik zu kultivieren, sie zu verfeinern und würdiger zu machen. Gleichzeitig sei es sein Bedürfnis gewesen, die klassische Musik aus dem Zwang der Unzugänglichkeit zu befreien. „Darin liegt die Größe seiner Errungenschaft“, betont Tornatore, „dass es ihm gelungen ist, diesen inneren Konflikt zu lösen und völlig auf den Kopf zu stellen.“
Nach dem großen Erfolg seiner Filmmusik tat sich in seinem kompositorischen Schaffen zunächst eine Kluft zwischen angewandter und absoluter Musik auf, die er ab Mitte der 1960er-Jahre durch eine stilistische Fusion von Film- und Konzertmusik zu überbrücken suchte. 1967 schrieb er nach einem Text von Pasolini das Stück Caput octu show für Bariton und Kammerensemble. Auch nahm er mit Franco Evangelisti, John Heineman, Egisto Macchi, Ivan Vándor und anderen als Komponist und Trompeter an den Aufführungen der Improvisationsgruppe Nuova Consonanza teil. Zu den Kompositionen, die er ab den 1970er-Jahren für den Konzertsaal schrieb, zählen Gestazione, Cantata Frammenti di Eros, Cantata per l’Europa, Frammenti di giochi, Ut für Trompete, große Trommel und Streichorchester sowie Epitaffi sparsi für Sopran und Klavier.
„Bei meiner Recherche bin ich zu dem Schluss gekommen“, so Tornatore, „dass wir das Gesamtwerk von Ennio niemals nachvollziehen werden können. Weil er – gerade am Anfang seiner Karriere – so viel schrieb, ohne sich bewusst zu sein, dass es Musik von historischer Bedeutung war.“