Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
heute mit viel Frauenpower, ein bisschen Öko, mit Zoff in München und Freude in Chicago.
WAS IST
WOW: DER DIRIGENT IST EINE FRAU!
Feststellung 1: In letzter Zeit wird ziemlich viel über Dirigentinnen geschrieben. Feststellung 2: Fast jeder Artikel beginnt damit, dass es eine Sensation sei, dass man nun über eine Dirigentin schreibt. Egal, ob sie Katharina Müllner, Speranza Scappucci, Susanna Mälkki, Marin Alsop oder Oksana Lyniv heißt, die Süddeutsche scheint es außergewöhnlich zu finden, dass die neue Nürnberger Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz eine „Maestra“ ist, und in einem Blog wird nur über die russische Dirigentin Anna Skryleva geschrieben, weil gerade #femfriday ist.
Okay, wenn ein westafrikanischer Säbelzahntiger eine Symphonie von Mieczyslaw Weinberg dirigieren würde – das wäre echt eine Sensation, aber dass es eine Frau ist – nun ja: warum denn nicht? Können wir das Staunen über Frauen am Pult in Zukunft bitteschön alten Herren wie Thomas Gottschalk überlassen, der findet, dass „Musik sich so auch besser ansehen lässt“? Und es stattdessen mit Mirga Grazinyte-Tyla, der Chefin des City of Birmingham Orchestra halten, die der Sunday Times erklärte, wie beknackt sie es findet, dass Kritiker schreiben, sie müsse ihren „Mann stehen“. Gut, dass sie ebenso en passent erzählt, es sei wünschenswert, wenn Orchestermusiker ihre Kinder mit zu den Proben bringen würden. Und gesund, dass sie beschlossen hat, kommende Saison nicht in Covent Garden zu gastieren, da sie ihre Aufmerksamkeit fair zwischen der Musik und ihrem Kind teilen möchte. Noch Fragen? Ach ja: Ihre neue Veröffentlichung mit den Symphonien 2 & 21 von Mieczyslaw Weinberg, gemeinsam mit Gidon Kremer, ihrem Orchester und der Kremerata Baltica, ist nicht nur eine überfällige Ausgrabung, sondern auch mit musikalischer Größe in Szene gesetzt.
Und da wir gerade dabei sind: Dass Geigerin Julia Fischer ein Kindersinfonieorchester in München gründen will (Aufnahmebedingungen: Probespiel und die Beherrschung der Lagen 1–3) ist ebenfalls keine typisch weibliche Idee, sondern die gute Idee eines leidenschaftlichen Musikmenschen.
FACHKRÄFTEMANGEL AN BÜHNEN
Dass Sänger an deutschen Stadttheatern mit Mindestlöhnen zu kämpfen haben, wurde an dieser Stelle schon oft thematisiert. Ein Grund dafür ist, dass unser Stadttheater-System für viele junge Stimmen noch immer als Sprungbrett für die große Karriere verstanden wird. Doch nun hat Wiebke Hüster sich für die FAZ mit Hubert Eckart von der Theatertechnischen Gesellschaft unterhalten, und der bringt ein vollkommen neues Thema auf die Tagesordnung: Im technischen Bereich der Theater drohe ein Fachkräftemangel. „Hier werden alle ausgequetscht wie Zitronen“, warnt Eckart und erzählt, dass an vielen Häusern die Leistungsfähigkeit längst eingeschränkt sei. Die Veranstaltungsbranche würde den Theatern ebenso den Rang ablaufen wie große Unternehmen. Für 2000 Euro würde man keinen Bühnenmeister mehr bekommen – zumal die Aufgaben komplexer und die Ansprüche höher geworden seien. Umdenken tut not: Flexiblere Arbeit, höhere Löhne, langfristigere Bindungen, mehr Visionen und eine vollkommen neue Denke, außerdem dürfen Subventionen nicht an Auslastungszahlen geknüpft werden.
GRETAS GRÜNE KLASSIK
Bei einem Gastspiel der Berliner Philharmoniker in New York fallen – Achtung! – rund 700 Tonnen CO2 an. Was würde Greta Thunberg nur dazu sagen? Ihre Mutter, Malena Ernman, ist eine bekannte Sängerin, stand mit Daniel Barenboim und Teodor Currentzis auf der Bühne und nahm 2009 für Schweden am Eurovision Song Contest teil. Nun hat sie ein Buch über Greta und ihre Familie geschrieben (Szenen aus dem Herzen). Darin erzählt sie von Gretas Autismus und der besten Therapie: dem Kampf für eine bessere Umwelt. Gretas Mutter nimmt nur noch Engagements an, wenn sie dafür nicht fliegen muss, und auch das Helsingborg Konserthus will in Zukunft auf Flüge verzichten. In Deutschland haben Musiker der Staatskapelle Berlin das ökologische Orchester des Wandels gegründet, und die Albert Konzerte in Freiburg beraten andere Veranstalter, um klimaneutrale Konzerte durchzuführen. Greta bewegt also auch die Klassik.
WAS WAR
Der Gasteig in München – Streit um Renovierungen.
BLANKE NERVEN IN MÜNCHEN
Beim Neubau des Münchner Konzerthauses wollte man es auf keinen Fall wie bei der Elbphilharmonie machen und verpflichtete mit dem Schuhschachtel-Akustiker Tateo Nakajima einen Rivalen der Weinberg-Architektur. Was aber die Restaurierung des Gasteigs betrifft, zeichnet sich allmählich eine Peinlichkeit ab, die Elbphilharmonie, Flughafen BER und Stuttgart 21 vereint: Gerade ist das Architekturbüro Auer und Weber von seiner Bewerbung zurückgetreten. Das Büro, das auch den Neubau des Hauptbahnhofes in München betreute, erklärte: „Nach Sichtung und Bewertung der neuen Verfahrensbedingungen (…) haben wir uns entschlossen, am Verhandlungsverfahren nicht weiter teilzunehmen.“ Stein des Anstoßes: Das Urheberrecht der Entwurfsverfasser von einst, der Architektengemeinschaft Raue, Rollenhagen und Lindemann, ist so umfangreich, dass es aktuellen Architekten viel zu wenig Spielraum für Neues lässt. Ein Vertrags-Erbe, das die Politik schnellstmöglich aus dem Wege räumen sollte, um die bestmögliche Akustik in München zu fördern.
HOFFNUNG UND FRIEDE IN DEN USA
Die Zahlen sind ernüchternd, die MET kämpft unter Intendant Peter Gelb weiterhin um Publikum und Sponsoren und liegt noch immer im juristischen Clinch mit Ex-Chef James Levine. Um so größer die Hoffnung auf den neuen Musik-Chef Yannick Nézet-Séguin. Associated Press nennt ihn bereits die „Mighty Mouse“, die die MET retten soll, er selber ist nach einem Jahr bescheidener: „Ich verstehe mich nicht als Retter“, sagt er, „aber vielleicht war ich wirklich die richtige Person zur richtigen Zeit.“ (über die Zukunftsstimmen an der MET ein lesenswerter Artikel über die Gewinner der National Council Auditions in derNew York Times).
Wochenlang hat uns auch hier der Streik des Chicago Symphony Orchestra beschäftigt – es war der längste der Geschichte des Ensembles. Nun ist er beendet. Man hat sich auf einen Fünf-Jahres-Vertrag geeinigt, der einen Lohnanstieg um satte 14 Prozent vorsieht – zukünftig wird ein Musiker in Chicago 162.000 Euro pro Jahr verdienen.
SOMMER, FESTPIELZEIT, FESTSPIEL-GUIDE!
Über 200 Festspiele in Deutschland, Österreich und Europa. kompakt zusammengefasst. Jetzt am Kiosk!
AUF UNSEREN BÜHNEN
Nachdem letzte Woche bereits Detlev Glanerts Uraufführung von Oceane an der Deutschen Oper in Berlin bejubelt wurde, feierte die Hauptstadt gestern an der Komischen Oper erneut eine Uraufführung: Moritz Eggert stellte seine Musik zu M – eine Stadt sucht einen Mörder vor, die von Barrie Kosky persönlich in Szene gesetzt wurde. Kinder spielen in diesem Remake des Fritz Lang-Klassikers über einen Kindermörder die Erwachsenenrollen unter Silikon-Masken. Ein gespenstisches Großstadt-Panoptikum. Für Premierenkritiken ist es noch zu früh, aber der RBB hat bereits die Generalprobe besucht und gejubelt. +++ Clemens Haustein bespricht in der FAZ die Uraufführung der Holocaust-Oper Die Wohlgesinnten nach Jonathan Littell in Antwerpen. Komponist Hèctor Parra versucht das literarische Epos zu ordnen. „Eine Musik von nervtötender Geschwätzigkeit (und darin sich ironischerweise nah an der Romanvorlage bewegend), von kitschiger Lust am opulenten Klang, angefüllt mit musikalischen Gemeinplätzen“, befindet Haustein, der die Regie von Calixto Bieito lobt, die dieses Mal kein Blut-Schweiß- und Sperma-Theater ist, sondern das Allgemeine in der epischen Gewalt findet. Bald ist diese Inszenierung auch am Nürnberger Staatstheater zu sehen.
Exklusive Musikreisen mit ZEIT – Immer mit Musikexperten an Ihrer Seite
Hier finden Sie alle Reisen zu den schönsten nationalen und internationalen Opernhäusern.
PERSONALIEN DER WOCHE
Die International Opera Awards wurden vergeben. Hier die wichtigsten Preisträger: Bester Dirigent – Marc Albrecht, bestes Haus – Opera Vlaanderen, beste Sängerin – Asmik Grigorian, bester Sänger – Charles Castronovo, Preis fürs Lebenswerk – Leontyne Price. +++ Japans neuer Kaiser Naruhito ist begeisterter Bratschist: „Die Viola sticht nicht heraus“, schrieb er einmal in einem Booklet, „aber die Harmonie wird ohne dieses Instrument einsam. Die Bratsche ist für mich ein Freund geworden, durch den ich viele Menschen treffen durfte.“ Lustig, dass Bärenreiter sofort mit dem neuen Kaiser wirbt. +++ Stefan Herheim hat sein Team für das Theater an der Wien allmählich zusammen. Nachdem wir vorletzte Woche berichtet haben, dass Carolin Wielpütz Betriebsdirektorin wird, steht nun fest, dass auch Peter Heilker, neudenkender und engagierter Operndirektor in St. Gallen, ihm nach Wien folgt.
WAS LOHNT
Weil das, was lohnt bereits am Anfang geschrieben wurde, nämlich die Weinberg-Aufnahmen mit Mirga Grazinyte-Tyla, hier heute einfach Mal nur etwas Schönes zum Ende. In meiner Facebook-Timeline ist ein Film wieder hochgeschwemmt, der einfach wunderbar ist: In der Kantine in einer englischen Schule bekommen die Kinder Besuch von einigen Opernsängern. Was dann passiert, beweist die Unmittelbarkeit, das Staunen, das Erschrecken und die Freude an der Musik
Und falls Sie am Mittwoch noch nichts vorhaben und zufällig in München sind: Die CRESCENDO-Lounge findet dieses Mal beim Konzert „Volkslied Reloaded“ statt. Mulo Francel und Quadro Nuevo hauchen der Kunstform neues, multikulturelles Leben ein. Gemeinsam mit dem Münchner Rundfunkorchester nehmen die fünf Virtuosen die alten Weisen als Startrampe für kreative Höhenflüge und waghalsige Improvisationen. Mit dem CRESCENDO-Ticket gibt es eine Backstage-Führung, anschließend ist im Gartensaal Zeit für den Austausch.
In diesem Sinne, halten Sie die Ohren steif.