Philippe Entremont

»Ich hasse Lang­wei­lig­keit!«

von Teresa Pieschacón Raphael

12. März 2018

83 Jahre ist Klavierlegende Philippe Entremont alt! Von einer Kindheit zwischen Kriegs­trümmern, der Eroberung eines eigenen Lebens und von Strawinsky im Suff.

83 Jahre ist Klavier­le­gende Phil­ippe Entre­mont alt! Von einer Kind­heit zwischen Kriegs­trümmern, der Erobe­rung eines eigenen Lebens und von Stra­winsky im Suff.

Die Place Vendôme: einer der fünf „könig­li­chen Plätze“ von Paris zwischen der Oper und dem Jardin des Tuile­ries. Jeder Stein hier atmet Geschichte, beson­ders die Sieges­säule, die Napo­leon nach der Revo­lu­tion errichten ließ. Wie Models der Pariser Fashion Week wirken die schönen großen Frauen, die in den eleganten Arkaden entlang der Juwe­lier­läden flanieren. In einer Seiten­straße wohnt . Wer hinter der prunk­voll klas­si­zis­ti­schen Fassade groß­bür­ger­li­ches Ambi­ente mit Stuck, Empire­mö­beln, Marmor­kamin und frei­ste­hendem Konzert­flügel erwartet, ist über­rascht. Entre­mont bittet in einen sehr kleinen Raum. Bücher, Parti­turen stapeln sich auf Boden, Tisch und um den Flügel herum, der wie ein Wunder hier noch Platz gefunden hat. Hier arbeitet er – inmitten seiner Götter. Eine Tusche­zeich­nung im Regal zeigt , eine andere Chopin. „Das ist das letzte Bild von ihm, kurz vor seinem Tod. Es ist ein Original“, sagt er stolz, während er das Bild zurecht­rückt, um es vor den einfal­lenden Sonnen­strahlen zu schützen. Er geht zum offenen Fenster. „Sehen Sie das Haus dort? Nummer 12 Place Vendôme?“ Man kann ihn kaum hören, so laut ist der Stra­ßen­lärm. „Dort starb Chopin.“

crescendo: Was ist für Sie typisch fran­zö­sisch?

Phil­ippe Entre­mont: Das ist schwer zu sagen. Ich habe einen sehr typi­schen fran­zö­si­schen Nach­namen, aber nicht unbe­dingt „reines“ fran­zö­si­sches Blut. Die Familie väter­li­cher­seits stammt aus Savoyen und dem italie­ni­schen Piemont. Meine Mutter war Belgierin, und meine geliebte Groß­mutter kam aus . Ich fühle mich also sehr euro­pä­isch.

„Ein fran­zö­si­scher Pianist aber wurde ich in Paris nicht“

Sie wurden 1934 in Reims geboren.

Ich habe noch sehr lebhafte Erin­ne­rungen an meine Kind­heit. Ich erin­nere mich an die erste Banane, die ich erst mit zehn Jahren zu bekam. Da werden Sie jetzt lachen, aber wir hatten keine Früchte. Ich wurde in einer Stadt in Trüm­mern geboren. Gerade fing an, sich von dem Ersten Welt­krieg, der die Stadt sehr zerstört hat, zu erholen. Und da war schon wieder Krieg. Seit 1940 war Reims, die alte Krönungs­stadt der fran­zö­si­schen Könige, von der deut­schen Infan­te­rie­di­vi­sion besetzt. Ich erin­nere mich an Bombar­die­rungen. Ich habe deswegen kein Trauma erlitten. Meine Familie hat ja über­lebt. „Trau­ma­tisch“ war für mich eher die lange Zugfahrt nach Paris zum Conser­va­toire, um Klavier­unterricht zu nehmen. 11 bis 13 Stunden brauchte man damals von Reims nach Paris, eine Strecke von 130 Kilo­me­tern! Ein „fran­zö­si­scher Pianist“ aber wurde ich in Paris nicht.

Ist der anders als andere?

Oh ja! Er ist elegant, ein biss­chen leicht­füßig im Spiel, sehr arti­ku­liert, sehr genau, sehr exakt. Wie lang­weilig! Ich hasse das!

Wie sind Sie denn?

In jedem Fall nicht lang­weilig. Ich war kein einfa­cher Schüler. ­
Ich hatte Ideen und wollte unbe­dingt meine eigenen Fehler machen. Nur so kann man einen eigenen Weg finden. Das passte nicht jedem.

Unsere Autorin mit Phil­ippe Entre­mont

Ihre Mutter, eine Pianistin, war Ihre erste Lehrerin.

Das war nicht einfach. Mein Vater spielte sehr gut Klavier und Geige und er war ein ausge­zeich­neter Diri­gent. Meine Mutter war eine strenge, sehr fordernde Pädagogin. Ich musste zuerst Musik­theorie lernen – dieses schreck­liche Solfeggio! – und konnte sehr schnell die schwie­rigsten Parti­turen lesen. Mit 16 gab ich mein erstes Konzert mit Orchester, in . Meine Mutter kam hinter die Bühne mit diesem typi­schen „Oh, my darling!“ Und ich: „Ich bin froh, dass es dir gefallen hat. Denn es wird dein letztes Konzert gewesen sein.“ Ich wollte endlich mein eigenes Leben haben. Sie kam erst 25 Jahre später wieder in eines meiner Konzerte.

Eine andere Lehrerin wurde die berühmte Margue­rite Long, die mit Claude Debussy, Gabriel Fauré, Isaac Albéniz und Maurice Ravel befreundet war.

Ich war zehn, als ich sie zum ersten Mal erlebte. Sie kam mir damals vor wie aus einem anderen Jahr­hun­dert. Sie war eine exzel­lente Pianistin. Sie brachte mir die Bedeu­tung der linken Hand bei. Sie muss gut gewesen sein, denn ich gewann den Preis beim Margue­rite Long Wett­be­werb. Die Jury bestand damals aus Emil Gilels, Artur Rubin­stein und solchen Herr­schaften. Sie kannte sie alle. Eines der Stücke aus Le Tombeau de Couperin widmete Ravel übri­gens ihrem Mann, der im Ersten Welt­krieg gefallen war.

Es heißt, Sie beginnen den Tag mit Le Gibet aus Ravels Gaspard de la Nuit.

Ja, der Galgen! Aber nicht ich werde daran hängen! Auch wenn das Stück extrem kompli­ziert ist und man es sich schwer merken kann. Ich habe übri­gens auch Ravels Klavier­kon­zert G‑Dur gespielt, das von Margue­rite Long 1932 urauf­ge­führt wurde. Sie sagte immer: „Spiel es nicht! Es gehört mir!“

„Ich wurde in einer Stadt aus Trüm­mern geboren“

An einer Stelle sagen Sie, dass heute kein Lehrer mehr den Stil von Ravel oder Debussy beherrscht.

Ja. Ich weiß nicht, warum. Der Respekt vor der Partitur fehlt. ­
In der fran­zö­si­schen Musik muss man das tun, was in der Partitur steht. Debussys Schreib­weise war sehr präzise, sein Klavier­satz folgt sehr klaren Gesetzen. Jedes Vortrags­zei­chen muss beachtet werden, auch wenn man als Inter­pret eine
eigene Sprache finden muss.

Wie hilf­reich sind da die Kompo­nisten?

Na ja, ich weiß nicht. Einige haben mir Werke gewidmet. Und ich traf .

„Wie ein dürrer Baum lief er herum“, schreiben Sie in Ihren Erin­ne­rungen.

Ein schreck­li­cher Mann. Er war ständig betrunken, ständig belei­digt und unan­ge­nehm. Irgendwie traurig. Seine Musik ­
aber ist groß­artig. Ich habe viele Werke von ihm aufge­nommen. Der Produ­zent und das Orchester waren Gott sei Dank auf meiner Seite.

Last but not least: Franz Schu­bert!

Den traf ich nicht. Aber ich liebe sein Werk! Am Conser­va­toire lag der Schwer­punkt auf den Virtuosen des 19. Jahr­hun­derts und auf Beet­hoven und manchmal Mozart. Aber Brahms und Schu­bert? Zero! Man hat Schu­bert einfach nicht beachtet. Er war denen nichts wert! Deshalb bin ich auch kein wirk­li­cher Fran­zose.

Fotos: Sandrine Expilly