Kirill Petrenko

Seelen­re­gungen

von Walter Weidringer

3. August 2021

Kirill Petrenko dirigiert das Bayerische Staatsorchester bei der Aufnahme von Gustav Mahlers Siebter Sinfonie und lässt Mahlers radikale Klangvorstellungen hörbar werden.

Gustav Mahlers Siebente, dieser Höhe­punkt und Abschluss seiner mitt­leren Periode mit drei großen, rein instru­men­talen Sinfo­nien, ist vor allem ein Werk des Zwie­lichts, der Dämme­rung. Damit hat sie’s bis heute nicht leicht: Dass selbst auf , einen von Mahlers treu­esten Partei­gän­gern, das Jahr­markts­ge­töse des Finales schal wirkte, haftet dem Werk seither als Makel zumin­dest unter den – viel­leicht auch selbst­er­nannten – Einge­weihten an. Dabei ist schon rein drama­tur­gisch der laute, helle Tag als Gegenpol zu manch freund­li­chen Nacht­ge­sichten und, noch viel mehr, gespens­ti­schen Schat­ten­ge­stalten nötig, die die voran­ge­henden Sätze bevöl­kern.

Aber Mahlers Sinfo­nien bleiben trotz ihrer Allge­gen­wart auf Spiel­plänen und Tonträ­gern ohnehin eine immer wieder aufs Neue extreme Heraus­for­de­rung: Viele Deutungen pendeln nämlich ohne rechtes Ziel zwischen senti­men­taler Über­trei­bung, wo immer eine solche möglich ist, und einem fast acht­losen Umgang mit der Fülle von penibel ange­zeigten Detail­wir­kungen, mit der die Partitur nahezu unein­lösbar über­frachtet ist. Dachte man zumin­dest bisher.

vermeidet beides – aber eben nicht aus einer Scheu heraus: Sein Movens ist im Gegen­teil positiv, besteht aus der unbe­dingten Hingabe an die Einzel­heiten, ohne dass er sich in ihnen verlieren würde. Man gewinnt den Eindruck, er habe mit dem Baye­ri­schen Staats­or­chester die Partitur völlig ausein­an­der­ge­nommen, bis auf die kleinsten Triller-Schräub­chen, Glis­sando-Federn und Legato-Keil­riemen, und dann neu zusam­men­ge­baut und frisch geölt. Das Ergebnis ist ein faszi­nie­render Präzi­si­ons­me­cha­nismus, der aber dennoch nie starr oder einge­engt klingt, sondern flexibel und lebendig – und mit enormem Schwung.

In den gene­rell eher zügigen Tempi, für die Petrenko ohnehin bekannt ist, sackt weder die Span­nungs­kurve ab, noch verliert man beim Hören den Über­blick: Man weiß stets, wo man ist, es gibt keinen lauen Takt. Und endlich vernimmt man jene radi­kalen Züge an Mahlers Klang­vor­stel­lungen, die bei Auffüh­rungen so oft unter­gehen: Dynamik, Arti­ku­la­tion und Rhythmik – etwa allein die verschie­densten Auftakt­va­ri­anten im Stirn­satz! – werden so minu­tiös beachtet, dass ganze Instru­men­ten­gruppen oder Solo­li­nien wie durch imagi­näre Tonmeis­ter­regler laufend vom Vorder­grund in den Hinter­grund und wieder zurück geschoben werden – und das live in der Auffüh­rung, nicht durch eine verzer­rende Nach­be­ar­bei­tung. Das lässt ein ständig wech­selndes Mosaik aus feinsten Seelen­re­gungen erstehen, jede für sich klar formu­liert und umrissen, aber immer im Kontext stehend. Ständig wech­seln die Perspek­tiven, und es entsteht eine uner­klär­liche, leichte Schwermut, die auf alles herab­tröp­felt und von der man weder das Warum kennt noch ein Mittel dagegen.

Das Bayerische Staatsorchester
Das Baye­ri­sche Staats­or­chester
(Foto: Myrzik und Jarisch)

Und das Finale? Längst wurde etwa Schost­a­ko­witschs Fünfte als Vergleich heran­ge­zogen um zu zeigen, dass es bewusst hohle Finali gibt, mit einem Jubel so flach wie ein Potemkin’sches Dorf. Gerade bei den Russen gab es das frei­lich schon früher, in Tschai­kow­skis Vierter und Fünfter: Als wolle sich die wunde Seele am eigenen Schopf aus dem seeli­schen Schla­massel ziehen, so wie Münch­hausen aus dem Sumpf. Petrenko weiß das natür­lich – und zieht den sinfo­ni­schen Mecha­nismus gleichsam bis zum Anschlag auf. Zwei große Höhe­punkte geraten da nicht mehr bloß zum aufge­putschten Lärm, sondern sie reißen Abgründe auf inmitten der banalen Fest­wie­sen­stim­mung: eine falsche, gewollte Fröh­lich­keit, genau getroffen. Erst so wird das Panop­tikum zum Pandä­mo­nium. Dass ein Opern­haus kein Konzert­saal und das Münchner Natio­nal­theater kein Aufnah­me­studio ist, war schon vorher bekannt, man hätte es aber diesem Mitschnitt vom Mai 2018 gerne weniger deut­lich ange­hört. Dem inter­pre­ta­to­ri­schen Rang dieser Aufnahme tut das frei­lich keinen Abbruch: ein Meilen­stein in der Mahler-Disko­grafie und ein glän­zender Einstand für das neue Eigen­label der Baye­ri­schen Staats­oper. 

Fotos: Wilfried Hösl