KlassikWoche 50/2023

Klassik-Watschn, Inten­danten-Ego und Publi­kums­schwund 

von Axel Brüggemann

11. Dezember 2023

Die Suche in Kassel nach einem neuen Musikdirektor oder einer Musikdirektorin, Publikumsschwund in Berlin, das Programm der Salzburger Festspiele, 125 Jahre Volksoper Wien.

Will­kommen in der neuen Klassik-Woche

heute geht es um eine Revolte, die in Wahr­heit eine Ohrfeige des Anachro­nismus ist, um Zoff in Kassel, darum, was wir aus der Vergan­gen­heit lernen können und – um drama­ti­schen Publi­kums­schwund in Berlin. 

Zoff in Kassel

Kassel sucht einen neuen Musik­di­rektor oder eine Musik­di­rek­torin. Und das geht nicht ganz reibungslos ab. Mitglieder des Orches­ters befürchten, nicht ausrei­chend an der Findung betei­ligt zu sein. Doch das Orchester hat in der Findungs­kom­mis­sion ebenso eine Stimme wie Inten­dant . Nach einem Vor-Dirigat sickerte zu einem der vier letzten Bewerber durch, dass ein großer Teil des Orches­ters ihn nicht weiter unter­stützen würde – daraufhin zog er seine Bewer­bung zurück. Nach Gesprä­chen mit Musi­ke­rInnen wurde von der Thea­ter­lei­tung in dieser Sache eine Abmah­nung ausge­spro­chen, außerdem wurden drei Orches­ter­mit­glieder ermahnt. Dann landete die Sache vor Gericht. Und nun mischte sich auch Ex-GMD Patrik Ring­borg in die Debatte ein. In der Hessisch/​Niedersächsischen Allge­meinen sagte er: „Es gibt kein Beispiel dafür, dass ein Diri­gent gegen den Wunsch eines Orches­ters instal­liert worden ist.“ Auch der Vorsit­zende der GMD-Konfe­renz, , kommen­tiert bei Face­book mit Blick auf Inten­dant Lutz, der zuvor in Halle war: „Wie konnte sich Kassel das Schei­tern Halles trotz aller bekannter Probleme einkaufen? Unter dem Beifall entspre­chender Jour­naille… Die Diskre­panz zwischen schein­barer Moder­nität und tatsäch­li­chem Führungs­ver­ständnis ist erstaun­lich…“ Kassel zeigt, wie ein kleiner Konflikt schnell zu einem großen Problem werden kann. (Diese Text wurde nach einem Gespräch mit Florian Lutz aktua­li­siert, ich werde die Lage im nächsten News­letter noch einmal genauer aufdrö­seln).

Klassik-Woche als Video

In eigener Sache: Ich habe Mal ein biss­chen herum­ge­spielt und die Klassik-Woche als 10-Minuten-Video zusam­men­ge­schnitten (inklu­sive exklu­siver Inter­views mit über die Salz­burg-Klage und über das Spon­so­ren­ge­schäft). Hat Spaß gemacht. Viel­leicht mache ich das in Zukunft ja regel­mäßig. Zu sehen ist es auf meinem YouTube-Kanal (um nichts zu verpassen, schnell abon­nieren, oder einfach oben auf das Bild klicken). 

Drama­tisch: Berlin verliert Klassik-Publikum 

Wer mahnt, dass die Klassik auf den Publi­kums­schwund reagieren muss, wird gern als lächer­li­cher Moder­nist abgetan. Schließ­lich seien die Eindrücke doch höchst subjektiv, der Klassik ginge es gut und junge Leute seien noch nie da gewesen. Doch nun legt Berlin neue Zahlen vor. Und die stimmen bedenk­lich! Immer weniger Menschen besu­chen Ausstel­lungen, klas­si­sche Konzerte, Theater‑, Opern‑, Ballett- oder Tanz­thea­ter­auf­füh­rungen. Laut einer Studie des Berliner Insti­tuts für Kultu­relle Teil­ha­be­for­schung nehmen die Besu­cher­zahlen seit mindes­tens fünf Jahren konti­nu­ier­lich ab. Ein Trend, der sich 2023 noch­mals deut­lich verstärkt habe. Inzwi­schen besu­chen 42% der Befragten klas­si­sche Kultur­ange­bote nicht mehr so oft wie vor der Corona-Pandemie. Bei Menschen über 70 Jahren sind es sogar 53%. Die Gene­ra­tion der Baby­boomer bricht also als Kultur­pu­blikum schneller weg, als es demo­gra­fisch zu erwarten wäre, so die Studie. Gleich­zeitig ist das Nach­rü­cken eines jüngeren Publi­kums nicht erkennbar. Zu ähnli­chen Ergeb­nissen kam bereits der Rele­vanz­mo­nitor Kultur der Bertels­mann-Stif­tung, über den ich hier eine ganze Sendung gemacht habe, unter anderem mit , Sarah Wedl-Wilson, und Matthias Meis. Klar ist: Augen verschließen geht nicht mehr! 

Salz­burg: Programm wie eine Watschn

Den Groß­teil des Programmes der Salz­burger Fest­spiele hatten wir an dieser Stelle ja bereits vorher­ge­sehen. Und was Inten­dant am Niko­laustag bekannt gegeben hat, barg nun wirk­lich keine Über­ra­schung mehr. Berau­schend höchs­tens: Warum saß Fest­spiel-Präsi­dentin Kris­tina Hammer eigent­lich im Publikum, und wird sie das Programm gemeinsam mit dem Inten­danten auf inter­na­tio­nalen Terminen vorstellen? Oder wird Hinter­häuser sie auch hier wieder öffent­lich ausbooten? Fast schon trotzig scheint er an Teodor Curr­entzis fest­zu­halten. Neben einer Wieder­auf­nahme des Don Giovanni darf der Chef des von der VTB-Bank gespon­sorten Orches­ters Musi­cAe­terna (der mit dem zum Teil von der DM Privat­stif­tung unter­stützten Utopia-Orchester nach Salz­burg anreist) nun auch Bachs Matthäus-Passion entweihen. Mit dabei: und , der auf Face­book laut­hals losju­belte und die Werbe­trommel für den Grie­chen Curr­entzis schlug (der nach der Anne­xion der Krim auch noch Russe wurde): „Ich freue mich sehr, dass im Sommer meines 40. Geburts­tages Träume wahr werden – Don Giovanni geleitet von Teodor Curr­entzis (…).“ Na denn! 

Etwas aufge­stülpt scheint das Fest­spiel-Motto der „Revolte“ (verbindet das wirk­lich Don Giovanni, Hamlet oder Der Spieler?). Ist es nicht mehr eine Art Selbst­be­spie­ge­lung des Inten­danten, der wegen seiner Einfalls­lo­sig­keit, seiner gest­rigen Alt-Männer-Beset­zungen, seiner merk­wür­digen poli­ti­schen Einlas­sungen zur FPÖ und seiner mangelnden öffent­li­chen Kommu­ni­ka­tion in der Kritik steht? Offen, ob Hinter­häuser sich selber auch als Provo­ka­teur versteht, der mit Furor gegen den Rest der Welt kämpft? Auf jeden Fall dürfte ein Programm mit Curr­entzis, dem Regis­seur und der Rück­kehr des zuweilen unge­hal­tenen Diri­genten John Eliot Gardiner jedem, der an die Moder­nität der Klassik glaubt, wie eine gehö­rige Watschn gegen die aufge­klärte Vernunft vorkommen! 

Und noch ein Prozess

Und dann hat Salz­burg noch ein anderes Problem: die Prozesse werden allmäh­lich so unüber­sicht­lich wie bei . Nachdem der Prozess um die unge­klärten Anstel­lungs­ver­hält­nisse der Chor­sän­ge­rinnen und Chor­sänger und den Umgang in der Corona-Zeit 2020 immer wieder verschoben wird, hat der Verein art but fair UNITED unter Vorsitz des Sängers Wolf­gang Ablinger-Sper­r­hacke nun auch noch eine Straf­an­zeige wegen schweren Betrugs bei der zentralen Wirt­schafts- und Korrup­ti­ons­staats­an­walt­schaft in Öster­reich einge­reicht. Die Anzeige richtet sich gegen die Geschäfts­füh­rung der Salz­burger Fest­spiele, Inten­dant Markus Hinter­häuser und den kauf­män­ni­schen Direktor Lukas Crepaz. Es geht auch hier um die unge­klärte Rechts­lage für Sänge­rinnen und Sänger bei den Salz­burger Fest­spielen 2020 (Probe­zeiten wurden nicht bezahlt, die spon­tane Absage von Auffüh­rungen in der Pandemie wurde nicht ausge­gli­chen). Auf Nach­frage von CRESCENDO zieht Ablinger-Sper­r­hacke nun auch eine Paral­lele zur spon­tanen Jeder­mann-Absage bei den Fest­spielen: „Das ist einfach gegen das Einmal­eins des Vertrags­we­sens, das muss Herr Hinter­häuser zur Kenntnis nehmen.“ (Auszüge aus meinem Gespräch mit ihm hier auf YouTube)

Wie nahe ist uns 1938?

einfach in den Keller stellen? So billig macht es sich die Volks­oper Wien nicht mit ihrer Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung! Zum 125. Jubi­läum des Hauses hat sich Inten­dantin etwas ganz Beson­deres einfallen lassen: Lass uns die Welt vergessen – Volks­oper 1938 heißt die kommende Première: Zu sehen sind die Proben zur Operette Gruß und Kuss aus der Wachau zur Zeit von Hitlers Einmarsch in Öster­reich. Die aktu­elle Insze­nie­rung fragt: Was haben Into­le­ranz, Diskri­mi­nie­rung und Faschismus mit den Mitar­bei­te­rinnen und Mitar­bei­tern der Volks­oper gemacht? Und was kann Musik heute noch gegen Natio­na­lismus ausrichten? In der neuen Folge von Alles klar, Klassik? (hier für Spotify und Apple­Pod­cast) habe ich die Rolle der Kultur damals und heute mit der Histo­ri­kerin Marie-Theres Arnbom, dem Regis­seur Theu Boer­mans und der Diri­gentin Keren Kagar­litsky disku­tiert. Eine span­nende Stunde Geschichte mit sehr vielen Ausbli­cken in unsere Gegen­wart – und die andau­ernde Frage: Was kann Kultur bewirken? Ich lege Ihnen diesen Podcast sehr ans Herz. Übri­gens: Ich habe bei Aachens Inten­dantin Elena Tzavara nach­ge­fragt, ob wir nicht Mal über die Karajan-Keller­ak­tion reden wollen. Aber es kam nicht einmal eine Antwort. Die Vergan­gen­heit in den Keller und keine Antworten für die Gegen­wart? Das ist schon befremd­lich. Ich habe das kürz­lich für den Freitag kommen­tiert (hinter Paywall).

Perso­na­lien der Woche

bleibt Bamberg treu, gerade hat er seinen Vertrag, der seit 2016 läuft, bis 2029 verlän­gert. Dass er auf dem offi­zi­ellen Foto ein wenig aussieht wie ein Spre­cher der Aktu­ellen Kamera ist fast schon wieder lustig. +++ Als Reak­tionen auf die Spar­maß­nahmen im Chor der Bayreu­ther Fest­spiel war oft zu lesen, man müsse eben nur einen neuen Sponsor holen und alles sei gut. Das klingt leichter als es ist. Denn Klassik lockt schon lange keine Spon­soren mehr. Das hat Peter Gelb kürz­lich erst in einem Inter­view mit uns erklärt – und nun spüren es auch die Bregenzer Fest­spiele. Einer der Haupt­spon­soren war BMW – und der ist nun abge­sprungen. +++ Die Nach­folge für Laura Berman und an der Spitze des Staats­thea­ters Hannover steht fest: Bodo Busse über­nimmt die Leitung der Staats­oper, Vasco Boenisch wird Inten­dant des Schau­spiels. +++Die English National Opera muss nach Manchester umziehen: Bis 2029 soll das Opern­haus London verlassen. Die neue Part­ner­schaft hat die Schwer­punkte, Oper weiter zu entwi­ckeln, krea­tive Part­ner­schaften zu instal­lieren und lokale Talente zu fördern. So verkauft man einen Kahl­schlag als Inno­va­tion. +++ München will die Reno­vie­rung des Gasteigs: „Auch in schwie­rigen wirt­schaft­li­chen Zeiten stehen wir zu unseren Kultur­ein­rich­tungen“, sagte Ober­bür­ger­meister Dieter Reiter (SPD). „Wir führen den Gasteig als größte euro­päi­sche Kultur­ein­rich­tung in die Zukunft, und er steht weiter dafür, Kultur für alle zu bieten.“ Der Stadtrat muss am 20. Dezember entscheiden.

Justus und kein Ende

Letzte Woche hatten wir an dieser Stelle über einen Salon bei Justus Frantz berichtet (er hatte unter anderem Sahra Wagen­knecht, Roger Köppel und geladen). Diese Woche gab es aller­hand Nach­spiele. Der Inten­dant des Schleswig-Holstein Musik Festi­vals, , erklärte der Zeit, warum er Frantz bereits letztes Früh­jahr nicht mehr einge­laden hat: „Wir dürfen uns auf gar keinen Fall von einem Land vor den Karren spannen lassen, das zuerst die Frei­heit beschneidet und dann einen mörde­ri­schen Krieg beginnt. Ich kann einer so kühl geplanten Aggres­sion wie der von Putin nicht mit kultur­ver­ne­belter Naivität begegnen.“ Frantz selber sagte der Deut­schen Welle: „Wenn die Deut­schen mich nicht mehr mögen, gibt es eine Versu­chung, das Jubi­läum in einer der schönsten Städte der Welt zu feiern – in St. Peters­burg.“ Der Pianist erklärt der Deut­schen Welle eben­falls, wie in die Konzerte gekommen sei, die er in Russ­land diri­giert habe („Die Zauber­flöte auf Deutsch, das war eine Sensa­tion in Russ­land.“) und sagt, er habe Valery Gergiev bereits zu seiner Ernen­nung als Chef des Bolschoi gratu­liert.“ Auf die Frage, ob er die russi­sche Staats­bür­ger­schaft annehmen wolle, antwortet Frantz: „Nein, ich bin Deut­scher. Aber ich denke über eine Aufent­halts­er­laubnis in Russ­land nach.“

Perso­na­lien der Woche II

Das Gerücht gab es schon lange, nun ist es offi­ziell: wird 2025 in Bayreuth den Lohen­grin diri­gieren (der Stan­dard spricht auch von den Meis­ter­sin­gern, das ist aber nicht bestä­tigt) und damit an den Hügel zurück­kehren. Diesen Sommer ist er bei den Salz­burger Fest­spielen zu hören. +++ hat – mal wieder – über seine Klassik-Begeis­te­rung gespro­chen. Dieses Mal mit Gramo­phone. Seine Initi­al­zün­dung: Eine Turandot-Auffüh­rung mit Birgit Nilsson, als er 10 Jahre alt war. „Ich erin­nere noch heute jede Sekunde.“ +++ Wirk­lich lesens­wert, allein die Intro von Manuel Brug zur Scala-Eröff­nung in der Welt, zum ganzen Text geht es hier: „Liliana Segre, 93-jährige Holo­caust-Über­le­bende und Sena­torin auf Lebens­zeit, sitzt in der glei­chen ersten Reihe der blumen­ge­schmückten Königs­loge wie der post­fa­schis­ti­sche Senats­prä­si­dent Ignazio La Russa und der linke Mailänder Bürger­meister Giuseppe Sala. Und noch vor der blas­ka­pel­ligen (…) Natio­nal­hymne, schreit es aus einer Loge ‚No al fascismo‘ und hinterher aus einer anderen ‚Viva l’Italia, viva l’Italia anti­fa­scista‘. Poli­ti­sches Paradox als Normal­zu­stand.“

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Ich habe diese Woche ein Album gehört, das mich zutiefst berührt hat. Und dabei bin ich gar kein großer Ligeti-Fan. Aber was das Quatuor Diotima da ausge­graben hat, hört sich an wie eine urei­gene, neue Welt, der man beim Entstehen zuhören kann – ja: ein ganzer Kosmos, in dem die Schwer­kraft der Tona­lität in schönster Form aufge­löst wird! 1945 erschien das erste Streich­quar­tett von Ligeti, in dem die Bartók-Tradi­tion noch brav mitge­schleppt, aber schon voll­kommen neu ausge­leuchtet wird. Im zweiten Quar­tett hat Ligeti dann seine eigene Welt aus Licht, Schweben und Zwischen­tönen erschaffen – kein Wunder, dass dieses Stück längst zum Klas­siker geworden ist. Und trotzdem so neu klingt. Ab in den Ohren­sessel, Kopf­hörer auf – und: losge­hört!

In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de