KlassikWoche 47/2021

Löwen in Nürn­berg, Proteste in Lemberg und Lock­down in Öster­reich

von Axel Brüggemann

22. November 2021

Das Denkmal für Franz Xaver Mozart in Lwiw, der Rauswurf von Peter Konwitschny, der West-Side-Story-Film von Steven Spielberg

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute geht es direkt aus dem öster­rei­chi­schen Lock­down in die deut­sche Vorweih­nachts­zeit. Außerdem: Ein Regis­seur verirrt sich in Afrika, die Klassik sucht ihr Heil in der Vergan­gen­heit und: Die Kultur-Strei­chungen gehen weiter. 

MEHR MUT, LEMBERG!

Gestern erreichte mich eine Nach­richt der Diri­gentin . Seit Jahren kümmert sie sich um das Erbe von Franz Xaver Mozart, dem Sohn Wolf­gang Amadeus Mozarts, der fast 30 Jahre lang unter anderem bei Familie Baroni-Caval­cabò im heute ukrai­ni­schen Lwiw (Lemberg) wohnte und dort auch als Pianist und Kompo­nist wirkte. Zur Eröff­nung ihres „Mozart-Festi­vals“ gab Lyniv eine Skulptur von Franz Xaver Mozart beim Bild­hauer Sebas­tian Schwei­kert (ein Schüler von Alfred Hrdlicka) in Auftrag: Der Mozart-Sohn ist mit einer viel zu großen Perücke seines Vaters und zwei linken Füßen zu sehen. Gegen die Skulptur regt sich nun Protest: Zu modern, heißt es, sie beein­träch­tige das öffent­liche Stadt­bild, und derar­tige Kunst­werke gehörten in „geschlos­sene Räume“.

Inzwi­schen hat das ukrai­ni­sche Spieß­bür­gertum sogar eine Peti­tion gegen das Kunst­werk ins Leben gerufen und kämpft offensiv gegen Oksana Lyniv! Dabei zeigt die Diri­gentin durch ihren Einsatz für Franz Xaver Mozart die inter­na­tio­nale Bedeu­tung von Kunst, erklärt gerade in Zeiten wach­senden Natio­na­lismus, dass es so etwas wie einen „euro­päi­schen Geist“ gibt, ein gemein­sames Verständnis für Mitmensch­lich­keit und Huma­nismus. Schwei­kerts Skulptur ist kein Affront, sondern ein Denk­an­stoß für die Bürden der Kunst, ein Zeichen des allzu Mensch­li­chen im Hehren und Schönen. Und genau deshalb ist eine Skulptur auch 230 Jahre nach der Geburt des Mozart-Sohnes so wichtig im Stadt­bild, nicht nur von Lemberg: Irri­ta­tion, Auffor­de­rung zum Nach­denken, Klassik nicht als Tapete, sondern als allge­gen­wär­tige Heraus­for­de­rung. Oksana Lyniv will nun im Stadtrat für die Skulptur kämpfen. Unter­stüt­zung hat sie dafür bereits unter anderen von Arie Hartog (Gerhard-Marcks-Haus), Bild­hauer Bernd Alten­stein oder dem Präsi­denten der Stif­tung Mozar­teum Johannes Honsig-Erlen­burg erhalten – und natür­lich auch von mir! Und in den kommenden Tagen hoffent­lich auch von anderen euro­päi­schen Medien.

LÖWEN IN NÜRN­BERG

Peter Konwitschnys Inszenierung von Verdis "Troubadour"

Puh – schwerer Fall. Regis­seur wurde während der „Trou­ba­dour“-Proben in gefeuert. Er hätte eine Choristin verlet­zend belei­digt, hieß es aus dem Theater, man wollte die konkrete Belei­di­gung aller­dings nicht zitieren. Das tat der Regis­seur einen Tag später dann selber: Die Choris­tinnen sollten in einer Szene scho­ckiert blicken, weil sie von einer Waffe bedroht wurden. „Eine der Nonnen war eine schwarze Sängerin, Frau M., mit der ich schon lange zusam­men­ar­beite“, sagte Konwit­schny, „und die hat sich ganz abge­wandt, aus Angst vor der Pistole. Da habe ich unter­bro­chen und gesagt: ‚Frau M., das ist anders, wenn man in so einer Horror­si­tua­tion ist, dann will der Körper weg, aber der Blick bleibt haften, den kriegt man nicht weg.‘ Und dann habe ich einfach gesagt: ‚Das ist wie in Afrika, wenn Ihnen ein Löwe entge­gen­kommt, dann können Sie auch nicht weggu­cken.‘ Das war´s.

Grund­sätz­lich verstehe ich die Aufre­gung nicht, denn für derar­tige Vorkomm­nisse sollte es doch längst klare Regel geben (Hatte der Bühnen­verein nicht gerade welche vorge­schlagen?): Wenn sich jemand auf Grund seiner Herkunft, Haut­farbe, seines Geschlechts oder seiner sexu­ellen Orien­tie­rung oder Reli­gion von einer Aussage belei­digt fühlt, gilt es das zu akzep­tieren. Dafür aber ist es nötig, diese Belei­di­gung (die dem Gegen­über oft nicht als solche bewusst ist) auch offen zu formu­lieren. Nach einer Entschul­di­gung wäre der Fall dann abge­schlossen. In Nürn­berg ist die Sache nun eska­liert, weil der Vorfall nicht direkt thema­ti­siert, sondern über Inten­dant gespielt wurde – und der sah sich zum sofor­tigen Handeln gezwungen, nicht zum Schlichten. Mehr noch, er nannte die Vertrags­auf­lö­sung „die einzig mögliche Konse­quenz“. Ich bin sicher, es hätte auch eine andere Lösung gegeben, in der Konwit­schny verstanden hätte, dass der „alte Kinds­kopf“ von früher, wie er sich selber gerne nennt, heute ein wenig erwachsen sein sollte. 

EIN BISS­CHEN SPASS MUSS SEIN

Zum Glück ist Beet­hoven zu taub, um Podcasts hören zu können! Der eigent­lich ehren­werte öster­rei­chi­sche „Falter“ hat sich in die (hier schon vor Wochen thema­ti­sierte) Debatte, ob Beet­hoven afri­ka­ni­sche Wurzeln hatte, einge­schaltet und – im Ernst – Roberto Blanco eine halbe Stunde lang als „Experten“ einge­laden. Und der quatschte mindes­tens so viel Unsinn wie Svenja Flaß­pöhler bei „Hart aber Fair“. Das Thema ist viel zu span­nend für einen Quack­salber! Lieber „Falter“, wie wäre es mit einem echten Experten – oder wenigs­tens damit, nachts einfach mal ein wenig am Zentral­friedhof nach DNA-Beweisen zu buddeln?

DIE RETRO-KLASSIK

In der letzten Woche wurde viel darüber geschrieben, dass die Menschen sich gerade in diesen Zeiten gern wieder den Frottee-Pyjama aus Kinder­zeiten anziehen, um „Wetten, dass..?“ oder „TV total“ zu schauen und so zu tun, als wären wir noch in der guten alten Zeit. Ein biss­chen scheint es diesen Trend in der Klassik eben­falls zu geben: Letzte Woche habe ich von dem Plácido-Domingo-Zarzuela-Abend an der geredet, davon, dass eine 30 Jahre alte „Carmen“ von als Première gefeiert wird (Wer sehen will, wie vier alte weiße Männer Domingo frei­spre­chen, sollte sich diese Horror-Show einmal anschauen.).

Und wenn man dieser Tage nach schaut und sieht, wie Simon Rattle mit Magda­lena Kožená und dem ein biss­chen Bach macht, kommt man sich vor wie im Anfang der 2000er-Jahre. Und wenn man sich dann noch den Trailer zu Steven Spiel­bergsWest Side Story“ anschaut, denkt man: Warum gibt es eigent­lich ein Remake? Sieht doch aus wie in den 50ern, und die Version von 1961 hat doch auch schon für aller­hand Tränen gesorgt, aller­dings OHNE durch Holly­wood-Sound aufzu­blasen. Hey: Klassik ist eh immer eine Konfron­ta­tion mit dem Alten, kann die, bitte, wieder etwas mehr aus unserem Heute statt­finden? Danke! 

CORONA-TICKER

Wiener Staatsoper

Das war’s: Öster­reich macht dicht! Wahr­schein­lich 20 Tage lang Lock­down von heute an. Und ? Es sieht nicht gut aus auf unseren Inten­siv­sta­tionen, auch bei uns scheinen regio­nale Lock­downs nicht ausge­schlossen – und haben den Kultur­be­trieb bereits herun­ter­ge­fahren (25 Prozent Auslas­tung). Und das, obwohl die Auswer­tung der Luca-App zeigt, dass der Anteil von Anste­ckungen im Kultur­be­reich mit weniger als ein Prozent äußerst gering ist. Und, ja: Die 2G+-Lösung könnte ich persön­lich mir in Kultur­ein­rich­tungen durchaus vorstellen – allein, um die Kultur am Laufen zu halten! So oder so: Schon jetzt pras­selt es überall Absagen, Klang­körper wie das Beet­hoven Orchester in müssen Konzerte auf Grund hoher Infek­ti­ons­zahlen im Ensemble strei­chen. Aber die wirk­lich Leid­tra­genden der aktu­ellen Corona-Situa­tion sind wieder einmal die Solo­selbst­stän­digen: Überall auf Face­book ist erneut von Konzert­ab­sagen zu lesen, auch in Bundes­län­dern, in denen Auftritte eigent­lich noch möglich wären. Es scheint sich eine Selbst­re­gu­lie­rung der Kultur­be­triebe anzu­bahnen. Fakt ist, dass auch die Besu­che­rInnen vorsichtig werden. Allein die Kino-Branche verbuchte in der vorletzten Woche Umsatz-Einbrüche gegen­über der vorvor­letzten Woche um 31 Prozent.

Die AFP meldete, dass die „Bran­chen­aus­las­tung“ im Kultur­be­reich bereits Anfang November bei ledig­lich 40 Prozent lag. Und, ja, es wird zu Recht poli­ti­sches Versagen ange­klagt, gleich­zeitig haben wir es aber auch – man kann es drehen und wenden, wie man will – mit einem kollek­tiven Versagen der Einzelnen zu tun. Der Anteil der Unge­impften auf den Inten­siv­sta­tionen ist verhält­nis­mäßig hoch. Es nervt so langsam einfach nur noch, es ist so unend­lich anstren­gend – und: Auf der Strecke bleiben schon wieder dieselben Menschen wie in den vorigen Lock­downs. Wir brau­chen schnellst­mög­lich eine funk­tio­nie­rende kultur­po­li­ti­sche Lobby! Die Musik kann und muss weiter­spielen.

SCHWARZ­BUCH DER KLASSIK

Letzte Woche habe ich an dieser Stelle das „Schwarz­buch der Klassik“ begonnen. Die Phil­har­monie in Nürn­berg, die nicht gebaut wird, Einspa­rungen in den Kultur-Haus­halten der Städte und Gemeinden – ich habe Sie gebeten, mir zu schreiben, wo an der Klassik gekürzt wird. Alles wird ins „Schwarz­buch der Kultur-Strei­chungen“ aufge­nommen.

Diese Woche schrieb mir eine Leserin: Die Konzert­reihe Klos­ter­kon­zerte im Karme­li­ter­kloster am Main (Alte Musik von Renais­sance bis Spät­ba­rock) bangt um ihre Förde­rung. Seit vielen Jahren konnte die Agentur Allegra von Thomas Rainer diese Reihe mit je fünf jähr­li­chen Konzerten durch­führen, seit Corona muss sie um die Förde­rung kämpfen und hofft auf finan­zi­elle Unter­stüt­zung. Wie die möglich ist: hier mehr

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Daphne Evangelatos

Der vene­zo­la­ni­sche Schrift­steller Eduardo Casa­nova Sucre, Grün­dungs­mit­glied von „El Sistemaerhebt Klage gegen das Musik-System von José Antonio Abreu: El Sistema sei eine böswil­lige Propa­ganda-Einrich­tung gewesen, sagte Casa­nova Sucre. Etwas spät, könnte man sagen, aber Diri­genten wie ist bislang nicht einmal das über die Lippen gekommen, trotz all der Vorwürfe und entlarvten Miss­brauchs­fälle. +++ sagt Auftritte aufgrund eines Rücken­lei­dens ab. Betroffen auch seine Klavier­abende in , wo er am 1. Januar das Neujahrs­kon­zert diri­gieren soll. Die English National Opera hat gemeinsam mit Netflix die Serie „Tiger King“ als Oper für die Kurz­vi­deo­platt­form TikTok in Szene gesetzt: Musi­ka­lisch gibt es Musik aus „Carmen“ zu hören, gesungen von einem 40 Personen starken Chor und einem Streich­or­chester.

Der estni­sche Kompo­nist Arvo Pärt ist mit dem Bundes­ver­dienst­kreuz ausge­zeichnet worden. +++ Der Musik­wis­sen­schaftler, Regis­seur, Inten­dant, Kritiker und Impre­sario Peter P. Pachl ist im Alter von 68 Jahren uner­wartet verstorben. +++ Die grie­chi­sche Mezzo­so­pra­nistin und Gesangs­pro­fes­sorin Daphne Evan­ge­latos ist im Alter von 69 Jahren gestorben. 

UND WO BLEIBT DAS POSI­TIVE, HERR BRÜG­GE­MANN?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht da, dass unser News­letter inzwi­schen schon fast schamlos mit „Copy Paste“ abge­tippt wird: Hier das Original der „Porno­grafen der Klassik“ und seine Fälschung. Und dann, natür­lich, lieber , muss ich Ihnen sagen, dass ich neulich an Sie gedacht habe: Ich saß mit einem schönen Rotwein vor meinem Beamer, schaute auf Wilde Maus“ mit Josef Hader. Wir waren einig über die dürf­tige Darstel­lung der Klassik im deut­schen Fern­sehen. Hier nun haben wir es mit einem Klassik-Kritiker zu tun, für den es keinen Halt mehr in der kultur­losen Welt gibt. Abge­sehen davon, dass Hader die gleiche elek­tri­sche Zahn­bürste wie ich hat, ist er ein „sehr schrul­liger alter Mann“. Ich kannte den Film nicht, und finde: Er hat was. Außerdem ist er noch einige Tage in der Media­thek zu sehen – also los!

In diesen Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

 

brueggemann@​crescendo.​de

Titel­foto: Oksana Lyniv/​Evgeny Kraws, weitere Fotos: Bettina Stöss /