KlassikWoche 42/2023
Der Intendanten-Gipfel
von Axel Brüggemann
16. Oktober 2023
Der Intendant der Metropolitan Opera, Peter Gelb, über die Krise der Klassik und das Desinteresse des breiten Publikums, Daniel Barenboims Appell an Frieden im Nahen Osten, Christian Thielemanns Pläne für das Wiener Neujahrskonzert 2024.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute mit Peter Gelb, Aviel Cahn und Laura Berman, die über den Beruf des Intendanten sprechen und über den Wandel in der Klassik-Szene. Außerdem reisen wir in die Krisengebiete der Welt und hoffen mit Daniel Barenboim auf Humanität.
Der Intendanten-Gipfel I – Peter Gelb
Wie steht es um die Klassik? Das wollte ich von drei IntendantInnen wissen und habe sie in meinen Podcast Alles klar, Klassik? eingeladen: ein Gipfeltreffen mit vollkommen unterschiedlichen Perspektiven. Peter Gelb, Intendant der Metropolitan Opera in New York, erklärt, wie fatal es war, dass die Opernwelt sich in den letzten Jahrzehnten in Sicherheit wiegte: „Wir haben das letzte halbe Jahrhundert gepennt. Gerade in den USA, in denen das klassische Repertoire eingefroren war. Es gab eine Zeit lang genügend loyale Opern-Liebhaber, die sich für die Kunst eingesetzt haben und bei denen man denken konnte: Alles wird irgendwie gut. Aber wir haben uns in einer falschen Sicherheit gewiegt. Wir haben übersehen, was seit langem begonnen hatte: Das Publikum ist überaltert, und ein junges Publikum zeigt nur wenig Interesse an der der alten Form der Oper.“ Gelb regiert nun, indem er den Kurs wechselt: Weniger Il trovatore und mehr Dead Man Walking: „Es muss darum gehen, die Oper wieder mit der aktuellen Gesellschaft in Einklang zu bringen.“
Allein die weltweiten Kino-Übertragungen haben der (mit nur einem halben Prozent öffentlich geförderten) Met bislang 17 Millionen Dollar in den 300-Millionen-Etat gespült. Aber auch hier sind Besucherrückgänge zu verzeichnen („die Kino-Krise ist global“). Gelb setzt darauf, dass er mit neuen, ästhetisch und inhaltlich berührenden Opern das bestehende Publikum ansprechen und ein neues Publikum begeistern kann. Den Trend, dass Klassik zu einer Nische ohne gesellschaftliche Relevanz schrumpft, prognostiziert Gelb auch Europa: „Wovor ich persönlich am meisten Angst habe, ist, dass sich die europäischen Staaten aus ihrer kulturellen Unterstützung zurückziehen. Wir sehen ja schon erste Anzeichen in oft populistisch regierten Ländern: Viele führende Politiker besuchen die Oper hier schon gar nicht mehr, weil sie Angst haben, dass sie dann als elitär gelten. Für mich ist das ein Warnsignal, was die staatliche Unterstützung angeht! Jeder, der ein Theater leitet, hat die Verantwortung, den Menschen zu dienen – und dafür ist es eine Grundlage, dass man auch an die Menschen denkt und nicht in erster Linie an die Kritiker oder die intellektuelle Élite.“ Wenn Sie oben auf das Bild klicken, sehen Sie eine englische Zusammenfassung unseres Gespräches, zum ausführlichen Podcast-Gespräch (übersetzt) geht es hier entlang. Das aktuelle Kino-Programm der MET gibt es hier.
Zoff an der Musikhochschule Hannover
Susanne Rode-Breymann hat die Musikhochschule Hannover in 14 Jahren zu einer Vorzeige-Ausbildungsstätte entwickelt. Doch nun droht ein Krach um ihre Nachfolge das gute Image grundlegend zu gefährden. Darum geht es: Als Nachfolger von Rode-Breymann wurde Philipp Ahner bestimmt, der bislang in Trossingen ist – ein Spezialist in Sachen musikalischer Pädagogik. 40 von 94 ProfessorInnen der Musikhochschule haben nun aber gegen die Wahl Ahners protestiert, da sie die praktische musikalische Ausbildung an der Hochschule gefährdet sehen. In einem Schreiben fordern sie stattdessen Oliver Wille als zukünftigen Präsidenten. Wille ist Musik-Praktiker, Professor für Kammermusik in Hannover, außerdem Intendant der Sommerlichen Musiktage in Hitzacker. Politisch scheint man derzeit noch an Ahner festhalten zu wollen, stellte bei dessen Wahl allerdings Verfahrensfehler fest. In der Hannoverschen Allgemeinen kommentiert Stefan Arndt die Situation so: „Die Hochschule hat sich in ein Dilemma manövriert. Der Schaden, den der Streit um die Personalie mit sich bringt, ist groß: Eigentlich sind jetzt beide Kandidaten kaum noch als Präsident vertretbar.“
Der Intendanten-Gipfel II – Aviel Cahn
Ebenfalls zu Gast in Alles klar, Klassik? ist Aviel Cahn, designierter Intendant der Deutschen Oper in Berlin und derzeit sehr erfolgreich in Genf. Cahn beobachtet, dass besonders innerhalb der Opernbetriebe und bei den Mitarbeitenden neue Prioritäten gesetzt werden: „Früher war es den Leuten egal, ob sie fünf oder elf Stunde geschlafen haben – sie sind für die Oper gekommen. Heute spielt das Thema ‚Work-Life-Balance‘ eine große Rolle, auf die IntendantInnen reagieren müssen.“ Cahn glaubt, dass die Felder Human Resources, Marketing, Nachhaltigkeit und Bildung in Zukunft einen wesentlich größeren Platz in der Klassik einnehmen werden. Und dass ein für alle Mal Schluss ist mit dem Geniekult von KünstlerInnen und der großen Klassik-Sause: „Gerard Mortier konnte noch eine Flasche Château Petrus auf Hauskosten bestellen, dafür würde ich heute sicherlich fristlos entlassen werden.“ Für Berlin ist es Cahn wichtig, „dass alle Häuser ein unverwechselbares, starkes Profil bekommen“. Auf die Frage, ob eines der drei Opernhäuser in einen Staggione-Betrieb überführt werden könnte, erklärt er: „Das ist letztlich eine Frage der Mittel und des Publikums. Berlin ist größer als Wien mit seinem Theater an der Wien, und es gibt eine große Tradition, dass es die Häuser mit ihren eigenen Ensembles gibt. Ob es eine Entwicklung in die eine oder andere Richtung geben wird, hängt sicherlich davon ab, wie viel Publikum die Häuser in Zukunft finden und wie viele Mittel, um sie zu betreiben, noch vorhanden sind.“ Den ganzen Podcast hören Sie, wenn Sie unten auf das Bild klicken (Spotify), oder auf apple Podcast oder für alle Player.
Klassik-Reaktionen auf den Nahost-Konflikt
Die Brutalität des Terrors auf Israel ist nicht nur unerträglich, sie ist selbst kulturell schwer zu verarbeiten. In Israel hat die Musik erst einmal geschwiegen. Viele Konzert- und Opernvorstellungen wurden abgesagt, auch die Saisoneröffnung des Israel Philharmonic Orchestra unter Lahav Shani und der Betrieb der Oper in Tel Aviv (sie spielt inzwischen wieder). Eine Operngala in Kairo mit Jonas Kaufmann wurde ebenfalls abgesagt. Julian Rachlin, neuer Chef des Jerusalem Symphony Orchestra, drückte seinen Schock aus („Ich finde keine Worte, eine Woche, die Musik und den Zusammenhalt feiern sollte, wurde von der harten Realität des Terrorismus und des Konfliktes überschattet.“). Mirga Gražinytė-Tyla verlas eine Friedens-Botschaft vor ihrem Konzert mit den New Yorker Philharmonikern. Hörenswert ist ein Interview, das Dirigent Steven Sloane dem Deutschlandfunk zur aktuellen Situation gegeben hat.
Daniel Barenboim hat, wie ich finde, in der Süddeutschen Zeitung die richtige Tonlage getroffen. Er verweist nicht nur auf die Stimmung im West-Eastern Divan Orchestra, sondern mahnt zur Besonnenheit: „Unsere Friedensbotschaft muss lauter sein denn je. Die größte Gefahr ist doch, dass alle die Menschen, die sich so sehnlichst Frieden wünschen, von Extremisten und Gewalt übertönt werden. Jegliche Analyse, jegliche moralische Gleichung, die wir möglicherweise aufsetzen, muss aber als Basis dieses Grundverständnis haben: Es gibt Menschen auf beiden Seiten. Menschlichkeit ist universell, und die Anerkennung dieser Wahrheit auf beiden Seiten ist der einzige Weg. Das Leiden unschuldiger Menschen auf egal welcher Seite ist absolut unerträglich.“
Russia Today
Im Angesicht des Terrors in Israel droht der brutale Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine in den Hintergrund zu rücken. Manchen Protagonisten könnte das nur recht sein. Auf jeden Fall haben wir von den Salzburger Festspielen und Markus Hinterhäuser noch keine Antwort auf unsere Frage erhalten, was die Festspiele dazu sagen, dass das russische Diaghilev-Festival, bei dem Teodor Currentzis künstlerischer Leiter ist, inzwischen Geld aus dem russischen Präsidentenfonds bekommt, und dass in der Begründung explizit auf Currentzis Wirken bei den Salzburger Festspielen hingewiesen wird. Aber vielleicht erledigt sich all das ja auch von allein: Der chinesische Journalist Rudolph Tang berichtet auf Facebook, dass ein Konzert von Yuja Wang in Shanghai in nur vier Minuten ausverkauft war, während für das China-Debüt von Teodor Currentzis und musicAeterna in den letzten beiden Wochen gerade mal 44 Tickets verkauft worden sein sollen. Tja.
Personalien der Woche I
Die English National Opera muss weiter sparen: In einer internen Mail wurden nun massive Kürzungen im Orchester angedroht: Weniger Stellen und Streichung von 60 Prozent der jährlichen Arbeitszeit, die ebenfalls mit einem 60-prozentigen Lohnverzicht einhergehen soll. +++ Zubin Mehta musste mehrere Konzerte (unter anderem bei den Berliner Philharmonikern) krankheitsbedingt absagen. Gute Besserung! +++ Der Umbau der Semperoper ist in der Diskussion. Eine neue Probebühne soll am Zwinger entstehen. Keine gute Idee, findet der Chefredakteur der Dresdner Neuesten Nachrichten, Dirk Birgel: „Aber muss die Probebühne zwingend am Zwinger stehen also vis-à-vis der Oper? Oder warum muss die Verwaltung in Rufweite sein? Das einst von der Bundesbank genutzte Gebäude an der St. Petersburger Straße steht weitgehend leer. Das wäre nachhaltig im Gegensatz zu einem neuen Betonklotz.“ +++ Berlin hat die Haushalts-Streichungen für die Lautten Compagney zurückgenommen. Das ist gut, aber die freien Ensembles werden von der öffentlichen Hand grundsätzlich viel zu wenig wahrgenommen, findet auch Michael Stallknecht in der Süddeutschen Zeitung.
Der Intendanten-Gipfel III – Laura Berman
Auch die Intendantin der Staatsoper Hannover, Laura Berman, war zu Gast beim IntendantInnen-Gipfel von Alles klar, Klassik?. Sie erklärt, wie schwer es für sie persönlich war, sich als Frau in der Klassik-Welt durchzusetzen: „Man hat mir auch von außen selten das Gefühl gegeben, dass ich ein Haus leiten könnte“, sagt sie, „und das liegt daran, dass ich eine Frau bin, klein bin und Ausländerin.“ Berman erklärt, dass einige Strukturen die alltägliche Arbeit erschweren. So wird die Oper in Hannover lediglich vom Land Niedersachsen getragen. „Das macht die Arbeit vor Ort in Hannover schwer“, erklärt Berman, „denn in der Landesregierung ist man zuweilen weiter weg von der Kultur in der Stadt als vor Ort.“ Vor allen Dingen aber plädiert Berman dafür, dass die Oper sich radikaler öffnet. Sie selber habe mit der Reihe „Stimmen“ das Repertoire für Gruppen jenseits der Klassik (etwa türkische Musikgruppen) geöffnet, und im Schauspiel Hannover könne man schon lange beobachten, dass nicht jeden Abend ein Schauspiel auf der Bühne gegeben werde: „Da gibt es Diskussionen oder ein Konzert. Und ich bin sicher, dass die Oper der Zukunft sich ebenfalls anderen Kulturen öffnen muss und mehr zum Spiegel unserer bunten und vielfältigen Gesellschaft werden muss.“
Personalien der Woche II
Die Elbphilharmonie verlängert die Zusammenarbeit mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester und verkauft das als großen Erfolg. Was nicht zur Sprache kommt: Das von Gebühren finanzierte Radio-Orchester finanziert durch diesen Deal einen Großteil der Kosten der Elbphilharmonie quer. Und seit Einzug in den neuen Prunk-Bau musste das Orchester offensichtlich sparen, ist weniger auf Tour gegangen und hat an internationalem Glanz verloren. Wirklich ein guter Deal? +++ Der Geiger und Kulturmanager Guido Gärtner wird neuer geschäftsführender Intendant der Bremer Philharmoniker. Gärtner übernimmt den Posten ab März 2024. +++ Acht Erstaufführungen während eines Neujahrskonzerts in Wien stehen auf dem Programm, wenn Christian Thielemann das Konzert am 1. Januar zum zweiten Mal dirigieren wird. Nicht unbedingt alles musikalisch hochwertige Trouvaillen. Zum Bruckner-Jubiläum gibt es auch dessen Quadrille (WAB 121). +++ Waltraud Meier nimmt Abschied von der Bühne und kritisiert die Zusammenarbeit mit Dirigenten im Münchner Merkur: „Mit ihnen über Rollengestaltung zu sprechen, damit kommt man nicht so wahnsinnig weiter. Außerdem stoßen die meisten erst in der Endphase der Proben dazu.“
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es nur? Ehrlich gesagt: das Positive ist in dieser Woche nur schwer zu finden. Und ich persönlich finde auch, dass die Klassik sich nicht wirklich mit Ruhm bekleckert hat, was eine Positionierung zum Massaker in Israel angeht. Wo bleibt die Kunst in einer derartigen Krise? Ist es wirklich nur Barenboim, der die richtigen Worte findet, um an das universell Menschliche zu appellieren? Und, bitte: Vergessen wir über dem Konflikt in Nahost nicht das andauernde, weitere Morden an Menschen und Kultur durch russische Soldaten in der Ukraine.
Aber gut, gönnen wir uns am Ende noch ein Schmankerl: Wir haben es bereits letzte Woche an dieser Stelle angekündigt: Angelina Jolie wird Maria Callas im Kino spielen. Diese Woche haben auch andere Zeitungen darüber berichtet – und es wurden erste Bilder veröffentlicht. Hier ist eines!
Auch, wenn es schwer fällt: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
brueggemann@crescendo.de