KlassikWoche 19/2023
Von Erregungen und Stadttheatern
von Axel Brüggemann
8. Mai 2023
Der Tod von Menahem Pressler mit 99 Jahren, die Lage des Musikunterrichts an Bremens Schulen, der Bau der neuen Orgel in der Laeiszhalle.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute mit erotischer Erregungs-Gefahr, einer Reise in den hohen deutschen Norden, mit lautem Schweigen und einer wunderbaren Facebook-Battle. Da dieses ein durch und durch republikanischer Newsletter ist, wird die Königs-Krönung leider lediglich im P.S. abgehandelt.
Der Mensch als König
Menahem Pressler ist tot, er starb mit 99 Jahren. Er war einer dieser Menschen, die jedem anderen Menschen das Herz öffneten. Einer dieser Musiker, die Musik als unbedingten Ausdruck des Menschseins verstanden – und vermittelt haben. Einer dieser Künstler, die ewige Wärme versprüht haben. Geboren wurde Pressler in Magdeburg, floh mit seiner Familie vor den Nazis, zunächst nach Italien, dann nach Palästina. Er gründete das Beaux Arts Trio, dessen Interpretationen bis heute zu den innigsten der Musikgeschichte gehören.
Als Pianist gab Pressler über 6.000 Konzerte – kein einziges, das angekündigt war, ließ er ausfallen. Das Alter war für ihn stets Ansporn zu weiterem Staunen: Mit 90 Jahren debütierte Pressler bei den Berliner Philharmonikern (siehe Video oben, einfach auf das Bild klicken), mit 91 Jahren nahm er alle Mozart-Klaviersonaten in Angriff. Daniel Hope, ein Freund und sein Trio-Kollege, schrieb am Tag der Krönung von Charles auf Twitter, die Welt habe einen neuen König bekommen, „wir haben heute aber auch einen verloren“. Menahem Pressler war ein König als Mensch. Und bleibt unvergessen, in seiner Musik und in seinem Leben.
Neue Studien: Schwimmbad statt Oper
Statistiken, die zum Nachdenken anregen. Rainer Glaap ordnet auf seiner Seite Publikumsschwund den Erfolg der Jugend-Konzepte ein, mit denen Städte wie Berlin und Bremen ihren jungen MitbürgerInnen Gutscheine für Kultur zur Verfügung gestellt haben. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Die Berliner Jugendkulturkarte (ein 50 Euro Gutschein) sorgte für 160.000 Kulturbesuche – die meisten davon in Museen. Allerdings verzeichneten die drei Berliner Opernhäuser lediglich 1.900 Guthaben-Einlösungen. Ähnlich war die Resonanz in Bremen, wo die Jugendlichen mit der FreiKarte 60 Euro für ein weitaus breiteres Angebot (inklusive Schwimmbäder) zur Verfügung hatten. 407.000 Tickets wurden umgesetzt: Spitzenreiter waren Kinos und Schwimmbäder. Lediglich 2.200 Karten wurden für Theaterbesuche in Bremen und Bremerhaven eingesetzt.
Der Standard in Österreich wertet eine Umfrage des österreichischen Kulturministeriums positiv, nach der das Publikum in die Theater zurückkehren würde. Fakt ist aber auch: 11 bis 18 Prozent der Menschen haben ihre Kulturtätigkeit noch nicht wieder aufgenommen. Und vor allen Dingen: Das jüngere Publikum hat eher weniger Interesse an Theatern und Oper. Wenn ich die Zahlen sehe, unterstreichen sie die Notwendigkeit für einen grundlegenden Strukturwandel innerhalb der Kultur.
Hommage an die deutschen Stadttheater
Es ist schon ein wenig absurd, wie derzeit über die Idee des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin gestritten wird, in jedem Konzert das Werk einer Frau aufzuführen. Das Stadttheater Bremerhaven unter seinem GMD Marc Niemann hat das schon letzte Saison gemacht. Überhaupt zeigt das kleine Haus im Norden auf so vielen Ebenen, warum wir uns in Deutschland 150 staatliche Theater leisten. In Bremerhaven (wie an vielen anderen kleineren Häusern) wird musikalische Bildung in Brennpunkt-Bezirken gemacht und allabendlich an höchster musikalischer Qualität gearbeitet – in Musicals oder bei Uraufführungen. Ich möchte Ihnen heute meine Podcast-Reportage aus dem hohen Norden ans Herz legen: Intendant Lars Tietje erklärt, dass er dem Publikum mit Unterhaltung entgegenkommen muss, dafür aber auch ernsthafte Auseinandersetzung mit Kunst erwartet. GMD Marc Niemann erklärt, warum Bremens Bildungspolitik eine Katastrophe ist (siehe unten) und wie er versucht, Defizite an Schulen zu bekämpfen und gleichzeitig hohe Qualität zu garantieren. Die Sängerin Victoria Kunze berichtet von ihrem Abenteuer Stadttheater, außerdem besuche ich die Proben des Kinderchores (hier geht es zum Podcast für alle Formate, oder drücken Sie auf das Bild oben für Spotify).
Bremer Bildungskrise: Schule ohne Musik
Da wir gerade im Norden sind und im Land Bremen Wahlen bevorstehen, sei an dieser Stelle noch der Landesmusikrat Bremen zitiert, der warnt: „In Bremen ist es möglich, die gesamte Schulzeit ohne das Fach Musik zu durchlaufen!“ Anders als etwa in Niedersachsen ist an Bremer Grundschulen lediglich Unterricht aus dem neu definierten Cluster „Ästhetische Fächer“ verpflichtend, also Sport, Kunst ODER Musik. Weil Bremen nicht genug LehrerInnen hat, wird das Fach einfach umbenannt. Das ist, als würde man eine kaputte Straße dadurch reparieren, dass man ein „Zone 30“-Schild aufstellt (okay, das passiert in Bremen natürlich auch!).
Der Landesmusikrat fordert, Musik explizit verpflichtend zu machen, um einen verbindlichen Musikunterricht zu gewährleisten. Musik muss in Bremen eigenständig in der Stundentafel ausgewiesen werden, sowohl in der Primarstufe als auch in der Sekundarstufe 1. Ironie der Sache: Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (begeisterter Hobby-Gitarrist) will ein „Stadtmusikantenhaus“ errichten – das aber soll nicht der Musik dienen, sondern der Literatur. Esel, Hund, Katze und Hahn pfeifen schon jetzt aus allen Löchern!
Unvollendete Orgasmus-Gedanken
Die Nachricht hat sowohl US-Late-Night Talker Jimmy Kimmel beschäftigt als auch die BILD-Zeitung: Eine Frau schrie lustvoll auf, während in der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles Tschaikowskys Fünfte Sinfonie erklang. Hatte die Frau vom bloßen Hören einen Orgasmus? Interessant, wie sehr diese Frage (hauptsächlich männliche) Klassik-Journalisten beschäftigte, die das Thema eine Woche lang von oben bis unten durchgenudelt haben. Dabei ist all das gar nicht neu. In meiner SKY-Doku zu den Bayreuther Festspielen habe ich einmal im Sexshop nachgefragt, welche Spielzeuge sich während der Festspielzeit besser verkaufen als sonst. Die Antwort: SM-Toys und ferngesteuerte Dildos, die vom Sitznachbarn (oder der Sitznachbarin) zum Vibrieren gebracht werden können. Die gibt es in LA sicherlich auch!
Das Schweigen der Lämmer
Vor seinen anstehenden Dirigaten in Europa gibt es allerhand neue Meldungen rund um den Dirigenten Teodor Currentzis. Er steht in der Kritik, weil er sich nicht von der Kriegspropaganda seiner MusikerInnen bei musicAeterna distanziert, sich von der VTB Bank ebenso finanzieren lässt wie von Gazprom (dem Unternehmen, das gerade eine eigene Armee gegen die Ukraine ins Feld schickt). Currentzis wurde nun auch zum Honorarprofessor am Staatlichen Moskauer P.-I.-Tschaikowsky-Konservatorium ernannt. Im Auswahlgremium: Russlands Ex-Kulturminister Alexander Sokolow, der homoerotische Kunst aus russischen Museen verbannte. Man kann das durchaus als staatliche Belohnung für Currentzis Russland-Treue interpretieren. Kollege Alexander Strauch hat gerade Bilder gepostet, wie Currentzis dem in Deutschland auf Grund seiner Heizungs-Videos suspendierten Musiker (er postete ein anti-deutsches Video auf der Deutschland-Tournee) herzlichen Dirigier-Unterricht im DOM-Radio gibt. Von wegen Konsequenzen!
Nachdem selbst die alten Currentzis-Sympathisanten Louwrens Langevoort (Philharmonie Köln) und Wiens Konzerthauschef Matthias Naske erklärt haben, dass Currentzis« Schweigen sie veranlasst, den Dirigenten vorerst nicht wieder einzuladen, erstaunt das immer lauter werdende Schweigen seiner treuen Förderer in Deutschland. Die Intendantin des SWR-Orchesters, deren Chefdirigent Currentzis ist, Sabrina Haane, lässt Mails mit Anfragen zu den aktuellen Entwicklungen neuerdings ebenso unbeantwortet wie die Currentzis-Veranstalter der Konzertdirektion Adler. Wir erinnern uns: Auch Konzertveranstalter Andreas Richter schrieb mir einst, dass er die Pressefreiheit zwar schätze, aber auch die Möglichkeit, nicht auf jede Frage antworten zu müssen. Danach stellte sich heraus, dass er neben Teodor Currentzis Teilhaber der Euphonia gGmbH ist, die Currentzis« Utopia-Orchester organisiert. Allein das Funkhaus Berlin, das an Teodor Currentzis festhält, bekräftigt seine loyale Haltung auf meine Anfrage mit erstaunlichem Selbstbewusstsein: „Wenn andere Häuser dies anders handhaben: Wie could not care less.“
Merkwürdige Gergiev-Feiern
Dirigent Valery Gergiev wurde 70 Jahre alt, und ein wenig verwundert das Wording in der FAZ schon. „Infolge des Ukrainekriegs hat der Triumphator fast alles wieder verloren“, schreibt Anastassia Boutsko, als wäre Gergiev Opfer des russischen Angriffskrieges. Er sei „Fleisch vom Fleisch des monströsen Imperiums und teilt dessen Schicksal“. Im BR berichtet Peter Jungblut dagegen sehr ausführlich, wie Gergiev zum Krieg steht: „Ich glaube, dass wir in eine Periode unserer Geschichte eingetreten sind, die uns ein riesiges neues Potenzial und eine neue Bedeutsamkeit erschlossen hat“, jubelte er über Putins Angriffskrieg: „Ich finde, dass Russland plötzlich eine Riesen-Chance bekommen hat. Wir sollten diese Gelegenheit nutzen und insgesamt etwas sehr Großes tun, das uns nicht auf den Boden niedergedrückt hält. Nur wenn Sie zu Hause Stärke zeigen, genießen Sie auch weltweit Respekt. Sie müssen im eigenen Land fest auf dem Boden stehen.“ Die Bilder oben zeigen Gergievs Geburtstagsfeier (mit merkwürdiger Noten-Torte und prominenten Deutschen), die ebenfalls von Alexander Strauch im Netz gefunden wurden.
Personalien der Woche
Elīna Garanča singt die Kundry in der Neuinszenierung des Bayreuther Parsifal. Die Lettin springt damit für Ekaterina Semenchuk ein, die ihre Auftritte aus „privaten Gründen“ abgesagt hatte. In weiteren Vorstellungen wird sie von Ekaterina Gubanova vertreten. Auch an der MET steht Semenchuk (die in Russland mit Valery Gergiev auftritt) für die nächste Saison nicht mehr auf dem Spielplan.
Wir haben vor einigen Wochen über die Gefahren der neuen Rechts-Regierung in Italien für die Kultur gewarnt. Nun hat die Regierung angekündigt, Leiter von Kultur-Institutionen sollten nicht älter als 70 Jahre alt sein. Tritt die Regel in Kraft, würde das das Ende der Intendanz von Stéphane Lissner in Neapel bedeuten. +++ Im Rahmen der Generalsanierung der Laeiszhalle wird bis zum Herbst 2026 eine neue Orgel entstehen, eine weitgehende Rekonstruktion der bei der Eröffnung 1908 eingebauten Walcker-Orgel. Die Arbeit übernehmen die auf Walcker-Orgeln spezialisierte Firma Orgelbau Lenter und die Orgelbaufirma Klais.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Zunächst einmal nehmen wir zur Kenntnis: Anna Netrebko hat in Wiesbaden gesungen, viele Menschen haben dagegen demonstriert, andere haben die Demonstranten mit Sekt in der Hand wie ein Bühnenspektakel begafft – und Intendant Kai Uwe Laufenberg konnte sich noch mal als Opfer von eh allem inszenieren (die FAZ nennt ihn neuerdings „Krawallschachtel“). Tja, und manchmal findet man auf dieser etwas veralteten blauen Plattform für old white men, bei Facebook, Dinge, die noch viel mehr aussagen als die aktuelle Berichterstattung. Ich bin über den obigen Dialog gestolpert, der offensichtlich etwas mit meinem letzten Newsletter und meiner Kritik an Wiesbadens Intendant Kai Uwe zu tun hat. Zur Einordnung und den Personen: NDR-Journalist Hans-Jürgen Mende verteidigt Laufenberg in seinem Kommentar offensichtlich gegen den Kritiker des Wiesbadener Kuriers, Volker Milch. Und der antwortet ihm mit wunderbarem Florett: Popcorn raus!
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
P.S.: Dieses ist ein durch und durch republikanischer Newsletter mit durchaus großem Verständnis für Klassik-Royalisten. Weil am Wochenende eigentlich alles über King Charles III, die Krönung und die Musik gesagt wurde – hier noch mal zusammengefasst alles über die 12 Auftragswerke zur Krönung.