Menahem Pressler (1923-2023), beim Echo Klassik 2015

KlassikWoche 19/2023

Von Erre­gungen und Stadt­thea­tern

von Axel Brüggemann

8. Mai 2023

Der Tod von Menahem Pressler mit 99 Jahren, die Lage des Musikunterrichts an Bremens Schulen, der Bau der neuen Orgel in der Laeiszhalle.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit eroti­scher Erre­gungs-Gefahr, einer Reise in den hohen deut­schen Norden, mit lautem Schweigen und einer wunder­baren Face­book-Battle. Da dieses ein durch und durch repu­bli­ka­ni­scher News­letter ist, wird die Königs-Krönung leider ledig­lich im P.S. abge­han­delt. 

Der Mensch als König

ist tot, er starb mit 99 Jahren. Er war einer dieser Menschen, die jedem anderen Menschen das Herz öffneten. Einer dieser Musiker, die Musik als unbe­dingten Ausdruck des Mensch­seins verstanden – und vermit­telt haben. Einer dieser Künstler, die ewige Wärme versprüht haben. Geboren wurde Pressler in Magde­burg, floh mit seiner Familie vor den Nazis, zunächst nach Italien, dann nach Paläs­tina. Er grün­dete das Beaux Arts Trio, dessen Inter­pre­ta­tionen bis heute zu den innigsten der Musik­ge­schichte gehören.

Als Pianist gab Pressler über 6.000 Konzerte – kein einziges, das ange­kün­digt war, ließ er ausfallen. Das Alter war für ihn stets Ansporn zu weiterem Staunen: Mit 90 Jahren debü­tierte Pressler bei den Berliner Phil­har­mo­ni­kern (siehe Video oben, einfach auf das Bild klicken), mit 91 Jahren nahm er alle Mozart-Klavier­so­naten in Angriff. , ein Freund und sein Trio-Kollege, schrieb am Tag der Krönung von Charles auf Twitter, die Welt habe einen neuen König bekommen, „wir haben heute aber auch einen verloren“. Menahem Pressler war ein König als Mensch. Und bleibt unver­gessen, in seiner Musik und in seinem Leben.

Neue Studien: Schwimmbad statt Oper

Statis­tiken, die zum Nach­denken anregen. Rainer Glaap ordnet auf seiner Seite Publi­kums­schwund den Erfolg der Jugend-Konzepte ein, mit denen Städte wie Berlin und Bremen ihren jungen Mitbür­ge­rInnen Gutscheine für Kultur zur Verfü­gung gestellt haben. Die Ergeb­nisse sind ernüch­ternd: Die Berliner Jugend­kul­tur­karte (ein 50 Euro Gutschein) sorgte für 160.000 Kultur­be­suche – die meisten davon in Museen. Aller­dings verzeich­neten die drei Berliner Opern­häuser ledig­lich 1.900 Guthaben-Einlö­sungen. Ähnlich war die Reso­nanz in Bremen, wo die Jugend­li­chen mit der Frei­Karte 60 Euro für ein weitaus brei­teres Angebot (inklu­sive Schwimm­bäder) zur Verfü­gung hatten. 407.000 Tickets wurden umge­setzt: Spit­zen­reiter waren Kinos und Schwimm­bäder. Ledig­lich 2.200 Karten wurden für Thea­ter­be­suche in Bremen und Bremer­haven einge­setzt.

Der Stan­dard in Öster­reich wertet eine Umfrage des öster­rei­chi­schen Kultur­mi­nis­te­riums positiv, nach der das Publikum in die Theater zurück­kehren würde. Fakt ist aber auch: 11 bis 18 Prozent der Menschen haben ihre Kultur­tä­tig­keit noch nicht wieder aufge­nommen. Und vor allen Dingen: Das jüngere Publikum hat eher weniger Inter­esse an Thea­tern und Oper. Wenn ich die Zahlen sehe, unter­strei­chen sie die Notwen­dig­keit für einen grund­le­genden Struk­tur­wandel inner­halb der Kultur. 

Hommage an die deut­schen Stadt­theater

Es ist schon ein wenig absurd, wie derzeit über die Idee des Deut­schen Symphonie-Orches­ters Berlin gestritten wird, in jedem Konzert das Werk einer Frau aufzu­führen. Das Stadt­theater Bremer­haven unter seinem GMD Marc Niemann hat das schon letzte Saison gemacht. Über­haupt zeigt das kleine Haus im Norden auf so vielen Ebenen, warum wir uns in Deutsch­land 150 staat­liche Theater leisten. In Bremer­haven (wie an vielen anderen klei­neren Häusern) wird musi­ka­li­sche Bildung in Brenn­punkt-Bezirken gemacht und allabend­lich an höchster musi­ka­li­scher Qualität gear­beitet – in Musi­cals oder bei Urauf­füh­rungen. Ich möchte Ihnen heute meine Podcast-Repor­tage aus dem hohen Norden ans Herz legen: Inten­dant erklärt, dass er dem Publikum mit Unter­hal­tung entge­gen­kommen muss, dafür aber auch ernst­hafte Ausein­an­der­set­zung mit Kunst erwartet. GMD Marc Niemann erklärt, warum Bremens Bildungs­po­litik eine Kata­strophe ist (siehe unten) und wie er versucht, Defi­zite an Schulen zu bekämpfen und gleich­zeitig hohe Qualität zu garan­tieren. Die Sängerin Victoria Kunze berichtet von ihrem Aben­teuer Stadt­theater, außerdem besuche ich die Proben des Kinder­chores (hier geht es zum Podcast für alle Formate, oder drücken Sie auf das Bild oben für Spotify). 

Bremer Bildungs­krise: Schule ohne Musik 

Da wir gerade im Norden sind und im Land Bremen Wahlen bevor­stehen, sei an dieser Stelle noch der Landes­mu­sikrat Bremen zitiert, der warnt: „In Bremen ist es möglich, die gesamte Schul­zeit ohne das Fach Musik zu durch­laufen!“ Anders als etwa in Nieder­sachsen ist an Bremer Grund­schulen ledig­lich Unter­richt aus dem neu defi­nierten Cluster „Ästhe­ti­sche Fächer“ verpflich­tend, also Sport, Kunst ODER Musik. Weil Bremen nicht genug Lehre­rInnen hat, wird das Fach einfach umbe­nannt. Das ist, als würde man eine kaputte Straße dadurch repa­rieren, dass man ein „Zone 30“-Schild aufstellt (okay, das passiert in Bremen natür­lich auch!).

Der Landes­mu­sikrat fordert, Musik explizit verpflich­tend zu machen, um einen verbind­li­chen Musik­un­ter­richt zu gewähr­leisten. Musik muss in Bremen eigen­ständig in der Stun­den­tafel ausge­wiesen werden, sowohl in der Primar­stufe als auch in der Sekun­dar­stufe 1. Ironie der Sache: Bremens Bürger­meister (begeis­terter Hobby-Gitar­rist) will ein „Stadt­mu­si­kan­ten­haus“ errichten – das aber soll nicht der Musik dienen, sondern der Lite­ratur. Esel, Hund, Katze und Hahn pfeifen schon jetzt aus allen Löchern! 

Unvoll­endete Orgasmus-Gedanken

Die Nach­richt hat sowohl US-Late-Night Talker Jimmy Kimmel beschäf­tigt als auch die BILD-Zeitung: Eine Frau schrie lust­voll auf, während in der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles Tschai­kow­skys Fünfte Sinfonie erklang. Hatte die Frau vom bloßen Hören einen Orgasmus? Inter­es­sant, wie sehr diese Frage (haupt­säch­lich männ­liche) Klassik-Jour­na­listen beschäf­tigte, die das Thema eine Woche lang von oben bis unten durch­ge­nu­delt haben. Dabei ist all das gar nicht neu. In meiner SKY-Doku zu den Bayreu­ther Fest­spielen habe ich einmal im Sexshop nach­ge­fragt, welche Spiel­zeuge sich während der Fest­spiel­zeit besser verkaufen als sonst. Die Antwort: SM-Toys und fern­ge­steu­erte Dildos, die vom Sitz­nach­barn (oder der Sitz­nach­barin) zum Vibrieren gebracht werden können. Die gibt es in LA sicher­lich auch! 

Das Schweigen der Lämmer

Vor seinen anste­henden Diri­gaten in Europa gibt es aller­hand neue Meldungen rund um den Diri­genten . Er steht in der Kritik, weil er sich nicht von der Kriegs­pro­pa­ganda seiner Musi­ke­rInnen bei musi­cAe­terna distan­ziert, sich von der VTB Bank ebenso finan­zieren lässt wie von Gazprom (dem Unter­nehmen, das gerade eine eigene Armee gegen die Ukraine ins Feld schickt). Curr­entzis wurde nun auch zum Hono­rar­pro­fessor am Staat­li­chen Moskauer P.-I.-Tschaikowsky-Konservatorium ernannt. Im Auswahl­gre­mium: Russ­lands Ex-Kultur­mi­nister Alex­ander Sokolow, der homo­ero­ti­sche Kunst aus russi­schen Museen verbannte. Man kann das durchaus als staat­liche Beloh­nung für Curr­entzis Russ­land-Treue inter­pre­tieren. Kollege Alex­ander Strauch hat gerade Bilder gepostet, wie Curr­entzis dem in Deutsch­land auf Grund seiner Heizungs-Videos suspen­dierten Musiker (er postete ein anti-deut­sches Video auf der Deutsch­land-Tournee) herz­li­chen Diri­gier-Unter­richt im DOM-Radio gibt. Von wegen Konse­quenzen!

Nachdem selbst die alten Curr­entzis-Sympa­thi­santen Louw­rens Lange­voort (Phil­har­monie Köln) und Wiens Konzert­haus­chef erklärt haben, dass Curr­entzis« Schweigen sie veran­lasst, den Diri­genten vorerst nicht wieder einzu­laden, erstaunt das immer lauter werdende Schweigen seiner treuen Förderer in Deutsch­land. Die Inten­dantin des SWR-Orches­ters, deren Chef­di­ri­gent Curr­entzis ist, Sabrina Haane, lässt Mails mit Anfragen zu den aktu­ellen Entwick­lungen neuer­dings ebenso unbe­ant­wortet wie die Curr­entzis-Veran­stalter der Konzert­di­rek­tion Adler. Wir erin­nern uns: Auch Konzert­ver­an­stalter Andreas Richter schrieb mir einst, dass er die Pres­se­frei­heit zwar schätze, aber auch die Möglich­keit, nicht auf jede Frage antworten zu müssen. Danach stellte sich heraus, dass er neben Teodor Curr­entzis Teil­haber der Euphonia gGmbH ist, die Curr­entzis« Utopia-Orchester orga­ni­siert. Allein das Funk­haus Berlin, das an Teodor Curr­entzis fest­hält, bekräf­tigt seine loyale Haltung auf meine Anfrage mit erstaun­li­chem Selbst­be­wusst­sein: „Wenn andere Häuser dies anders hand­haben: Wie could not care less.“ 

Merk­wür­dige Gergiev-Feiern

Diri­gent wurde 70 Jahre alt, und ein wenig verwun­dert das Wording in der FAZ schon. „Infolge des Ukrai­ne­kriegs hat der Trium­phator fast alles wieder verloren“, schreibt Anast­assia Boutsko, als wäre Gergiev Opfer des russi­schen Angriffs­krieges. Er sei „Fleisch vom Fleisch des mons­trösen Impe­riums und teilt dessen Schicksal“. Im BR berichtet Peter Jung­blut dagegen sehr ausführ­lich, wie Gergiev zum Krieg steht: „Ich glaube, dass wir in eine Periode unserer Geschichte einge­treten sind, die uns ein riesiges neues Poten­zial und eine neue Bedeut­sam­keit erschlossen hat“, jubelte er über Putins Angriffs­krieg: „Ich finde, dass Russ­land plötz­lich eine Riesen-Chance bekommen hat. Wir sollten diese Gele­gen­heit nutzen und insge­samt etwas sehr Großes tun, das uns nicht auf den Boden nieder­ge­drückt hält. Nur wenn Sie zu Hause Stärke zeigen, genießen Sie auch welt­weit Respekt. Sie müssen im eigenen Land fest auf dem Boden stehen.“ Die Bilder oben zeigen Gergievs Geburts­tags­feier (mit merk­wür­diger Noten-Torte und promi­nenten Deut­schen), die eben­falls von im Netz gefunden wurden.

Perso­na­lien der Woche

Elīna Garanča singt die Kundry in der Neuin­sze­nie­rung des Bayreu­ther Parsifal. Die Lettin springt damit für ein, die ihre Auftritte aus „privaten Gründen“ abge­sagt hatte. In weiteren Vorstel­lungen wird sie von vertreten. Auch an der MET steht Semen­chuk (die in Russ­land mit Valery Gergiev auftritt) für die nächste Saison nicht mehr auf dem Spiel­plan.

Wir haben vor einigen Wochen über die Gefahren der neuen Rechts-Regie­rung in Italien für die Kultur gewarnt. Nun hat die Regie­rung ange­kün­digt, Leiter von Kultur-Insti­tu­tionen sollten nicht älter als 70 Jahre alt sein. Tritt die Regel in Kraft, würde das das Ende der Inten­danz von Stéphane Lissner in Neapel bedeuten. +++ Im Rahmen der Gene­ral­sa­nie­rung der Laeiszhalle wird bis zum Herbst 2026 eine neue Orgel entstehen, eine weit­ge­hende Rekon­struk­tion der bei der Eröff­nung 1908 einge­bauten Walcker-Orgel. Die Arbeit über­nehmen die auf Walcker-Orgeln spezia­li­sierte Firma Orgelbau Lenter und die Orgel­bau­firma Klais.

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Zunächst einmal nehmen wir zur Kenntnis: hat in Wies­baden gesungen, viele Menschen haben dagegen demons­triert, andere haben die Demons­tranten mit Sekt in der Hand wie ein Bühnen­spek­takel begafft – und Inten­dant Kai Uwe Laufen­berg konnte sich noch mal als Opfer von eh allem insze­nieren (die FAZ nennt ihn neuer­dings „Krawall­schachtel“). Tja, und manchmal findet man auf dieser etwas veral­teten blauen Platt­form für old white men, bei Face­book, Dinge, die noch viel mehr aussagen als die aktu­elle Bericht­erstat­tung. Ich bin über den obigen Dialog gestol­pert, der offen­sicht­lich etwas mit meinem letzten News­letter und meiner Kritik an Wies­ba­dens Inten­dant Kai Uwe zu tun hat. Zur Einord­nung und den Personen: NDR-Jour­na­list Hans-Jürgen Mende vertei­digt Laufen­berg in seinem Kommentar offen­sicht­lich gegen den Kritiker des Wies­ba­dener Kuriers, Volker Milch. Und der antwortet ihm mit wunder­barem Florett: Popcorn raus! 

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

P.S.: Dieses ist ein durch und durch repu­bli­ka­ni­scher News­letter mit durchaus großem Verständnis für Klassik-Roya­listen. Weil am Wochen­ende eigent­lich alles über King Charles III, die Krönung und die Musik gesagt wurde – hier noch mal zusam­men­ge­fasst alles über die 12 Auftrags­werke zur Krönung

Fotos: Wieland Aschinger