KlassikWoche 22/2020

Adre­nalin, vorsich­tige Öffnungen und Volle im Inter­view

von Axel Brüggemann

25. Mai 2020

Die ersten Konzertplanungen, Helga Rabl-Stadlers Durchhalte-Parolen bei den Salzburger Festspielen, Anna Netrebkos Empörung über die Corona-Regelungen.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit viel Adre­nalin nach den ersten öffent­li­chen Auftritten seit Wochen, mit einem vorsich­tigen Wackeln am Oliven­baum und natür­lich mit Neuig­keiten aus dem Wiener Trep­pen­haus.

DER RAUSCH DER BÜHNE

Das Staats­theater – ein Post auf dem Insta­gram-Profil von

Es sind nur wenige, sehr, sehr wenige und sehr privi­le­gierte Häuser, an denen der Konzert­be­trieb allmäh­lich wieder hoch­ge­fahren wird – natür­lich unter höchsten Sicher­heits­be­din­gungen. Und die Künstler können es kaum erwarten. In den sozialen Medien wird jeder Auftritt wie eine MET-Première gefeiert. Das Sänger­paar Gabriela Scherer und Michael Volle war in Wies­baden – um einen konzer­tanten Quer­schnitt des „Flie­genden Holländer“ zu singen. Die beiden haben schon beim Hinflug Social-Media-Geschichte geschrieben, als Volle ein Bild aus dem dicht gedrängten Flieger von Berlin nach und ein Bild des leeren Zuschau­er­saals mit versprengtem Publikum in Zwei­er­gruppen gepostet hat.

SOMMER­PLA­NUNGEN

Eupho­risch auch die Posts von , Cathe­rine Foster und , die Bilder ihrer „Tristan“-Aufführung in Wies­baden ins Netz stellten. Gesungen wurde konzer­tant mit Klavier, und Schagers Frau, Lidia Baich, spielte an der Geige. All das macht Kai-Uwe Laufen­berg (jaha!!!) sicher­lich nicht zu einem mensch­li­cheren Inten­danten, wohl aber – und das muss man einge­stehen – zu einem Pionier. Nun werden ihm auch andere Häuser folgen: Die Frank­furter Oper will vor 100 Menschen spielen, und auch Schloss Elmau plant klei­nere Konzerte. wird das Ravenna Festival eröffnen. Franz Xaver Ohnesorg hat mir erklärt, dass er beim Künstler wie zwar nur einmal bezahlen wird, sie aber zweimal im Corona-gerecht ausge­stat­teten Saal spielen werden. Und es bleiben auch Unmöglichkeiten:Kleinere Theater und Privat­theater sind kaum in der Lage zu öffnen. Der Tages­spiegel berichtet über die Situa­tion „wenn Spielen teurer ist als Schließen“. Und spricht mit Sabine Renne­fanz in der Berliner Zeitung Klar­text: „Ich erlebe sehr viel Verstö­rung und Über­las­tung.

SALZ­BURGER SICHER­HEITS­KON­ZEPT

wendet sich mit beschwö­renden Worten an ihre Mitar­beiter.

Die sind unter Druck geraten, nachdem das Festival bekannt gegeben hat, dass es – so oder so – statt­finden wird. Aber an der Salzach lässt man sich nicht drängen. Für die Salz­burger Fest­spiele sendet Fest­spiel-Präsi­dentin Helga Rabl-Stadler erst einmal Durch­halte-Parolen. Auf Face­book adres­siert sie ihr Publikum: Wer Karten hat, wird im Krisen-Spiel­plan, der even­tuell im August 2020 statt­finden soll, bevor­zugt. Und dann gibt es ein Video, das der „Klas­sik­Woche“ vorliegt, in dem sich Rabl-Stadler an ihre Mitar­beiter wendet: „Wir haben erkämpft, dass wir die Kurz­ar­beit anwenden können, das ist für jeden eine finan­zi­elle Einbuße. Aber wir sind uns doch alle klar, es ist die einzige Alter­na­tive zu Kündi­gungen.“ Es ginge darum, bei den Sicher­heits­an­for­de­rungen, „künst­le­risch Sinn­volles und wirt­schaft­lich Vertret­bares mitein­ander zu kombi­nieren“, sagt Rabl-Stadler, „Der Teufel liegt im Detail“. Dann gesteht sie offen ein: „Wir haben noch keine Idee, wie das mit den Proben geht, keine Ahnung, was mit Orchester und Chören möglich ist.“ Sie bittet ihre Ange­stellten: „Ich bitte Euch, lernt, mit der Unge­wiss­heit zu leben.

NERVÖSE STIMMEN 

Zum Wohl – hat ihre Malar­beiten beendet. Nun kümmert sie sich um Corona.

Und die großen Gesang­stars? Anna Netrebko hat die Corona-Krise dazu genutzt, ihre gesamte Dach­ter­rasse im Ersten Wiener Gemein­de­be­zirk anzu­pin­seln – mit Birken und Nacht­mond. Aber jetzt reicht es ihr! „So soll unser Leben bis Früh­ling aussehen?“, fragt sie auf Insta­gram unter dem Bild eines schlecht gefüllten Thea­ters, „ich finde, wer sich diese Rege­lungen ausge­dacht hat, soll verschwinden.“ (Putin hätte es nicht besser sagen können!) Darunter die Hash­tags: „Stoppe dumme Rege­lungen“ und „Bringt die Kultur zurück“. Eher stoisch gelassen über­brückt dagegen die Tage und zeigt, wie er gut gelaunt auf einem polni­schen Golf­platz an seinem Handicap arbeitet (inklu­sive Schlag aus dem Sand!). Und die Wut hat sich auch noch nicht gelegt. Der Sänger etwa erklärt (aller­dings inhalt­lich nicht ganz korrekt), in Frank­reich seien auf Druck des Staates Ersatz-Gagen bis zu 100 Prozent gezahlt worden, weil der Passus der „höheren Gewalt“ sofort gekippt worden sei. In seien die Vertrags-Absagen eben mit diesem Passus der „höheren Gewalt“ begründet worden. Er kriti­siert den büro­kra­ti­schen Aufwand und das regio­nale Hick-Hack. 

DER OLIVEN­BAUM

Neulich habe ich mit einer renom­mierten Musik-Mana­gerin gespro­chen. Corona sei, sagte sie, wie das Rütteln an einem Oliven­baum. Die Frage ist, welche Oliven dabei herab­fallen würden und welche bis zum Ende hängen bleiben. Mit anderen Worten: es geht in diesen Tagen um Grund­le­gendes. In diesem Zusam­men­hang empfehle ich den Text „System­red­un­danz“ von Hartmut Welscher in VAN, der davor warnt, dass die Klassik sich in einen Opfer-Status begibt: „Statt alptraum­haft von der eigenen Irrele­vanz zu träumen, wäre es wich­tiger, jetzt dabei mitzu­helfen, ein besseres System für die Kultur zu schaffen. Das mit der Rele­vanz kommt dann von ganz alleine.“ Aufschluss­reich auch, was Michael Volles Rechts­an­walt Turgay Schmidt zu sagen hat. Er erklärt in der FAZ zur Ernüch­te­rung vieler Sänger: „Zwar koche jedes Theater sein eigenes Süpp­chen und schließe indi­vi­duell gestal­tete Verträge ab. Der rote Faden aber sei: Sowohl die Leis­tungs­pflicht als auch das Ausfall­ri­siko müssen die Künstler schul­tern.“ 

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Jetzt auf CRESCENDO​.DE

Samuel Mariño: »Die Musik steht im Mittel­punkt, dann kommen Ausdruck und Gefühle, erst zuletzt denke ich an meine Stimme.«

Lesen Sie das Porträt des Sopra­nisten Samuel Mariño auf CRESCENDO​.DE

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Etwas locker am Oliven­baum hängen derzeit auch viele Agen­turen. Sie werden zum großen Teil vergessen. Wer glaubte, dass Agen­turen ledig­lich von der Kunst anderer profi­tieren, irrt. Hörens­wert, wie die Künstler-Agentin Helga Mach­reich-Unter­zau­cher gemeinsam mit der Sängerin in einem YouTube-Video über die Situa­tion und die Rolle der Agen­turen spricht. Und wie steht es um Monika Grüt­ters? Ist sie eine fallende Olive? Auf jeden Fall hat sie schon wieder neue Maßnahmen verspro­chen, obwohl bislang nur wenige ihrer Ankün­di­gungen erfolg­reich waren. In unserer letzten News­letter-Ausgabe haben wir gesehen, dass Partei­kol­le­ginnen wie Elisa­beth Motsch­mann schon in den Start­lö­chern stehen. Allein der Gene­ral­se­kretär des Deut­schen Musik­rates, Chris­tian Höppner, scheint noch nibe­lun­gen­treu an Grüt­ters Seite zu stehen. Und dann ist da noch die Über­le­gung, dass Corona ja nur der Anfang ist – wie sieht die Klassik-Welt aus, wenn auch die Wirt­schaft danie­der­liegt und die Spon­soren abspringen. Eine feste Olive scheint in diesem Sinne das zu haben: In der NZZ wird erklärt, warum der Roche-Konzern seine Unter­stüt­zung für das Lucerne Festival trotz Absage der Sommer­saison aufrecht­erhält. Die Musik-Mana­gerin und ich sind irgend­wann von der Klassik zur Kuli­narik gekommen und haben gefragt: Welches Restau­rant sucht man eigent­lich nach zwei Monaten Entbeh­rungen auf? Wir waren einig: Ins „Borchardt“ geht in so einer Situa­tion nur jemand wie Chris­tian Lindner – wir würden den kleinen Italiener an der Ecke, in dem Oma kocht und Giovanni uns kennt, bevor­zugen. Wir waren einig: Barrie Koskys Komi­sche Oper wäre so ein fami­liäres Klassik-Restau­rant, das wir als erstes besu­chen würden.

KLASSIK-NACH­RICHTEN

Raum­pa­trouille-Orion-Kompo­nist Peter Thomas ist gestorben.

Im letzten News­letter haben wir noch über den Rück­tritt von Öster­reichs Kultur­staats­se­kre­tärin Ulrike Lunacek berichtet, nun ist ihre Nach­fol­gerin bekannt. In der Zeitung Die Presse wird Andrea Mayer vorge­stellt. +++ Seit einiger Zeit wurde darüber speku­liert, jetzt ist es offi­ziell: der Vertrag des kauf­män­ni­schen Geschäfts­füh­rers der , Holger von Berg, wurde nicht verlän­gert. Nun wird offi­ziell ein Nach­folger gesucht. Inter­es­sant auch: im Text wird die Nach­richt der Klassik-Woche bestä­tigt, dass der Vertrag von als Musik­di­rektor eben­falls noch nicht verlän­gert wurde (und even­tuell auch nicht verlän­gert werden soll). +++ In einem span­nenden Bericht erklärt die Washington Post, wie Internet-Roboter auf der Suche nach lizen­zierter Musik sind und dabei auch in Corona-Klassik-Streams u.a. mit Mozart fündig werden. +++ Die Nach­richt klang groß­artig: Chöre und Orchester dürfen in NRW wieder proben. Die Auflagen sind aller­dings hart: 1. In einer Reihe müssen seit­lich mindes­tens drei Meter Abstand einge­halten werden, 2. Bei Instru­men­tal­musik reicht ein seit­li­cher Abstand von 1,5 Metern, 3. Zur nächsten Reihe nach vorne müssen es bei Gesang wie Blas­musik sogar sechs Meter Abstand sein. +++ Die startet eine neue Online-Platt­form. Es ginge darum, den DG-Künst­lern eine weitere hoch­wer­tige Platt­form zu geben, sagt Präsi­dent Clemens Traut­mann. +++ Er war eine Legende, so, wie die Filme, zu denen er den Sound­track schrieb, etwa „Raum­pa­trouille Orion“: Nun ist Peter Thomas im Alter von 94 Jahren gestorben.

UNSER KLEINES TREP­PEN­HAUS

Große Bericht­erstat­tung nach Brüg­ge­manns Klassik-Woche: Öster­reich debat­tiert „Fidelio“-Bühnenbild

Letzte Woche haben wir gefragt, ob das Bühnen-Trep­pen­haus des Büros Barkow Leib­inger in Chris­toph Waltz« Wiener „Fidelio“ das Plagiat eines Entwurfes des jungen Archi­tekten Khoa Vu aus Los Angeles ist. In dieser Woche hat so ziem­lich jede öster­rei­chi­sche Zeitung darüber berichtet (siehe Bild). Der ORF war am Ende sicher: „Der Plagi­ats­experte Stefan Weber bezeichnet die Vorwürfe gegen das Bühnen­bild als ‚mit an Sicher­heit gren­zender Wahr­schein­lich­keit zutref­fend‘… Die ‚Zweck­ent­frem­dung‘ eines Plans für eine Biblio­thek für ein späteres Bühnen­bild sind seines Erach­tens ‚kein Gegen­ar­gu­ment gegen den Plagi­ats­vor­wurf‘.“ Barkow wieder­holte gegen­über inter­na­tio­nalen Medien nun mehr­fach, dass er Vus Vorlage zwar gekannt haben könnte, weist eine Kopie aber zurück. Dennoch hat er sich inzwi­schen persön­lich bei Vu gemeldet. Nun stehen die beiden in direktem Austausch. Nur so viel: Vu akzep­tiert Barkows Argu­men­ta­tion nicht und lässt ihn wissen, dass seine Treppe eine jahre­lange, sehr persön­liche Entwick­lung (begleitet von zahl­rei­chen Kollegen und Profes­soren) war. „Es würde mich sehr wundern, wenn Du in so kurzer Zeit zu genau dem selben Ergebnis kommen würdest“, schreibt Vu und vermutet, dass Barkows „Design-Team“ ihm sicher­lich besser Auskunft darüber geben könne, wie viel des Bühnen­bildes geklaut sei. 

FÜR DIE OHREN

Passend zu dieser Klassik-Woche kann ich Ihnen heute noch etwas für die Ohren empfehlen: beim Laufen, Kochen oder auf dem Sofa – ich habe mich zwei Stunden lang mit Michael Volle unter­halten. Nicht über Corona, nicht über seinen aktu­ellen Auftritt, sondern über den Menschen und Sänger. Wir haben über seine Kind­heit als Pfarrer-Sohn auf dem Land gespro­chen, über die Bayreu­ther Fest­spiele, seine Familie und seine beiden neuen Knie – und über einen gemein­samen Freund, den Stimm-Professor Matthias , der Michael Volle beim Singen von innen gezeigt hat und derzeit Luft- und Viren-Expe­ri­mente mit dem Chor des BR unter­nimmt. Viel Spaß bei Brüg­ge­manns-Begeg­nungen auf Spotify, die es auch mit , , und vielen anderen gibt.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif.

Ihr 

brueggemann@​crescendo.​de