KlassikWoche 30/2022
Im Auge der Festspiele
von Axel Brüggemann
25. Juli 2022
Die sexuellen Übergriffe bei den Bayreuther Festspielen, die Oberflächlichkeit bei den Bregenzer Festspielen, der Zoff um die Renovierung der Stuttgarter Oper.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute Abend ist es so weit: Der Vorhang bei den Bayreuther Festspielen wird sich heben, danach geht es weiter in Salzburg. Bregenz hat bereits Première gehabt. Logisch, dass sich der heutige Newsletter vor allen Dingen um das Festspielgeschehen kümmert.
Bayreuther Berührungen
Den Kladderadatsch, der da in Bayreuth aufgekommen ist, muss man erst einmal auseinanderdröseln. Also: Gegenüber dem Nordbayerischen Kurier haben mehrere Frauen erklärt, es sei während der Festspiele zu sexuellen Übergriffen gekommen: unerwünschte Berührungen, bedrängende SMS. Katharina Wagner zeigte sie geschockt. Als ich sie am Freitag angerufen habe, erklärte sie mir: „Diese Vorgänge waren mir vollkommen unbekannt. Ich werde keine sexuellen Belästigungen bei den Bayreuther Festspielen dulden. Ich bitte die Betroffenen, sich bei mir oder beim Betriebsrat zu melden, wir haben inzwischen extra einen Briefkasten aufgestellt, in dem die Vorfälle auch anonym berichtet werden können. Aber nur wenn ich weiß, worum es konkret geht, kann ich auch Konsequenzen ziehen. Ich versichere den Betroffenen, dass sie keinerlei Nachteile von Seiten der Festspiele zu befürchten haben. Ich habe großes Interesse daran, derartige Vorwürfe transparent und offen aufzuklären.“ Dass Wagner selber Opfer sexueller Übergriffe (unfreiwilliger Berührungen und verbaler Ausfälle eines prominenten Künstlers) geworden sei, bestätigte sie ebenfalls, erklärte aber auch mit fränkischem Selbstbewusstsein: „Ich habe das in diesem Fall auf meine Art geregelt.“
Bleiben die Vorwürfe gegen Dirigent Christian Thielemann, dem frauenfeindliche Sprüche und ein bedenklicher Umgangston gegenüber dem Festspielorchester vorgeworfen wird. Wer Thielemann kennt, weiß, dass ihm eine Berliner Schnauze gewachsen ist, dass seine Sprüche, wenn er mit der musikalischen Qualität unzufrieden ist, durchaus gewöhnungsbedürftig sein können und dass er eher keine Karriere als Diplomat beginnen könnte. Thielemann hat sich im Ton vergriffen, ja das ist blöde, aber: eher kein Skandal. Skandalös wirkt dagegen, dass so ziemlich alle Träger des Festspielhauses, von Claudia Roth bis zum Bayreuther Bürgermeister Stellung bezogen haben – allein der Chef des Verwaltungsrates, Georg Freiherr von Waldenfels zieht den Kopf ein und scheint weiter davon zu träumen, dass sich in der alten Opernwelt bitte nichts verändern soll (hier noch meine Einschätzung der Situation in der Abendschau beim BR). Interessant übrigens, nächstes Jahr soll Pablo Heras-Casado den neuen Parsifal dirigieren und Nathalie Stutzmann den Tannhäuser.
Bregenzer Naivität
Als ich bei der Madame-Butterfly-Première bei den Bregenzer Festspielen saß, habe ich mich plötzlich gefragt: „Was mache ich hier eigentlich?“ Ich kam mir ein bisschen vor wie bei der Musicalpremiere von Miss Saigon. Auf der Seebühne wird die Leidensgeschichte einer 15-jährigen Japanerin vorgespielt, die von einem US-Seemann nach Strich und Faden verarscht wird – und all das erzählt Andreas Homoki im Jahre 2022 vollkommen naiv, nein mehr noch: nutzt den Stoff als Grundlage eines hübschen und effektvollen See-Spektakels. Dass alles mit einer durchschnittlichen Stadttheater-Besetzung. Man könnte auch sagen: Eine solche Aufführung ist gar nicht dafür gemacht, ernsthaft besprochen zu werden. Sie will lediglich an der Oberfläche begeistern.
Die New York Times hatte vor einer Woche darüber geschrieben, wie London und Boston versucht haben, mit Madama Butterfly umzugehen, die Oper in unsere Zeit zu retten – intellektuelle Reflektionen, die in Bregenz keine Rolle spielten. Klar: 7.000 Plätze müssen jeden Abend gefüllt werden, aber muss für dieses Entertainement wirklich Butterfly als Kulisse dienen? Würde sich der Barbier von Sevilla nicht besser eignen? Dass diese vollkommene Kritiklosigkeit System hat, zeigte sich am folgenden Abend auch im Festspielhaus bei der Première der zu Recht vergessenen Giordano-Oper Siberia. Nun diente der russische Gulag als exotische Aufladung einer Heiligen-und-Huren-Geschichte, die der russische Regisseur Vasily Barkhatov vollkommen gedankenlos als hübsch-dramatisches Liebesspiel in Szene setzte. Wenn die Oper gar nichts mehr mit unserer Welt zu tun hat, wird sie es auch schwer haben, in unserer Welt zu überleben. Wird Elisabeth Sobotka den Kurs der bedingungslosen Schönheit des Schrecklichen ändern, wenn sie die Staatsoper in Berlin übernimmt?
Internationaler Druck auf Salzburg
Lange Zeit hat Salzburg-Intendant Markus Hinterhäuser versucht, Vorwürfe gegen das Russen-Sponsoring in Salzburg und gegen die Putin-Verstrickungen von Dirigent Teodor Currentzis als persönliche Angriffe auf die Salzburger Festspiele darzustellen. Eine Taktik, die nun krachend scheitert. Jetzt zeichnet auch die britische Zeitung The Guardian das Bild vielfältiger Russland-Verstrickungen der Festspiele, und der internationale Blick auf Salzburg trübt massiv ein. Nach Currentzis« (musikalisch offensichtlich großartiger) Eröffnung der Festspiele mischte sich in jede Rezension eine (unvermeidbare) Auseinandersetzung mit der Putin-Nähe des Dirigenten und seines Orchesters (wie hier in der Abendzeitung). Hinterhäusers viel zu provinzieller Blick auf Salzburg führt nun zum nachhaltigen Schaden der Festspiele. Wie überfordert er und seine Präsidentin Kristina Hammer sind, zeigt auch das Interview, das Hammer diese Woche dem BR gegeben hat. Auf die Frage, was sie davon halte, dass Currentzis bei Putins Wirtschaftsforum aufgetreten sei, antwortet sie: „Sie beziehen sich auf eine Meldung, die wir auch in einem Blog gelesen haben. Dort hieß es allerdings, hier sei Zwang im Spiel gewesen.“ Es gibt keinen Blog, in dem von „Zwang“ die Rede ist. Und, nein: Currentzis wird nicht „gezwungen“, Putins Gelder anzunehmen und für Putin durch Russland zu reisen! Hammer argumentiert hier nicht nur falsch, sondern scheint die Propaganda-Taktik wirklich noch immer nicht verstanden zu haben. Mehr noch, ob man überhaupt mit Currentzis im Gespräch sei, will der BR wissen. Hammers Original-Antwort: „Selbstverständlich sind wir mit Teodor Currentzis im Gespräch. Und allen, die sich jetzt aufregen, will ich auch nochmal sagen: Teodor Currentzis hat sich in Wien darum bemüht, ein Benefizkonzert zugunsten der Ukraine zu spielen, was ich schon für ein sehr deutliches Zeichen halte. Das hat man ihm dann allerdings untersagt, weil der ukrainische Botschafter sich dagegen gewehrt hat. Ich möchte das gar nicht kommentieren. Ich sage nur: Wenn wir die Dinge beurteilen, sollten wir uns schon das ganze Bild ansehen.“ Statt über ihre Gespräche mit Currentzis zu berichten, macht Hammer hier im Ernst den ukrainischen Botschafter zum Schuldigen und betreibt eine Opfer-Täter-Umkehr in bester Putin-Manier. In Wahrheit sagte damals das Rote Kreuz das Whitewashing-Konzert ab, und daraufhin der Intendant des Konzerthauses, Matthias Naske. Hammers Argumentation ist ein Hohn gegenüber der aktuellen Situation in der Ukraine. Die Faktenlage der Currentzis-Verstrickungen ist erdrückend (Gazprom-Tour, musicAeterna-Vorstand, Zahlungsflüsse des DOM-Radios und St. Petersburg durch Putins Geliebte etc.), und nun wurde noch ein weiterer Propaganda-Auftritt bei der Digital-Messe an der Seite des russischen Ministerpräsidenten bekannt. Die Welt blickt auf Salzburg. Der britische Journalist Norman Lebrecht polemisiert bereits, es seien die schlimmsten Festspiele seit 1941. Markus Hinterhäuser steht als strategisch überforderter Intendant bereits als Verlierer fest, ebenso seine Festspiele.
Aber die Diskussion wird weiterwandern: Wie positioniert sich SWR-Intendant Kai Gniffke, dessen Chefdirigent Currentzis ist (die SWR-Forderung nach einer Abkehr vom Russen-Sponsoring wurde nicht erfüllt, im Gegenteil Gazprom als zusätzlicher Geldgeber gefunden)? Und was passiert bei seinen geplanten Auftritten in der Elbphilharmonie und in Baden-Baden? Gegenüber CRESCENDO hat Intendant Benedikt Stampa erklärt, das Festspielhaus wird, entgegen der allgemeinen Gepflogenheiten, in Sachen Currentzis eine Ausnahme machen und bereits gekaufte Karten für seine Konzerte gegen Karten für andere Konzerte umtauschen, wenn dieses vom Publikum gewünscht wird. Außerdem suche man in Salzburg nun ein klärendes Gespräch mit Teodor Currentzis – danach wolle man sich auch öffentlich positionieren. Klar ist, so lange der Dirigent seine Intendanten an der Nase herumführt und Putins Strategie der Indifferenz und Unsicherheit perfektioniert, sind Currentzis« Putin-Verflechtungen eine andauernde Begleitmusik seiner Konzerte.
Zu viele Tote
Ein Schock für die MusikerInnen und das Publikum an der Bayerischen Staatsoper: Während der Aufführung von Strauss« Die schweigsame Frau stürzt der Dirigent Stefan Soltész vom Pult – sofortige Reanimationsversuche bleiben erfolglos. Soltész war musikalischer Assistent von Karl Böhm, Christoph von Dohnányi und Herbert von Karajan und leitete 1992 bis 1997 die Flämische Oper in Antwerpen/Gent, von 1997 bis 2013 war er Generalmusikdirektor der Essener Philharmoniker und Intendant des Aalto-Musiktheaters, das er zu einem der spannendsten Häuser Deutschlands machte. +++ Wer mit Nikolaus Harnoncourt sprechen wollte, musste erst einmal mit seiner Frau, mit Alice Harnoncourt, sprechen: Ohne sie hätte es ihren Mann so nicht gegeben. Alice ermutigte ihn, ein eigenes Orchester zu gründen, stellte in den frühen Konzerten gemeinsam mit ihm erst die Plakate und dann die Stühle auf, sie war der Mensch, mit dem er seine Ideen entwickelte, die ihn, den Vergeistigten, immer wieder durch die Welt der Dinge navigierte. Alice Harnoncourt war eine Seele von Mensch – nun ist sie gestorben. Und hoffentlich vereint mit Ihrem Mann. Ich habe mit ihr über das Leben ohne ihren Mann gesprochen, und lesenswert ist auch das VAN-Interview nach dem Tode ihres Mannes, in dem sie erklärt, dass sie die Bücher mit seinen Anmerkungen liest, um mit ihm im Dialog zu bleiben.
Personalien der Woche
Obwohl Berlins Kultursenator Klaus Lederer mehr Geld zur Verfügung hat, muss die Opernstiftung kürzen, der Tagesspiegel zeigt, wer in Berlin gewinnt und wer verliert. +++ Weiterhin Zoff um die Renovierung der Stuttgarter Oper. Der SWR berichtet: Die Baukosten der Opernsanierung explodieren. Statt bei einer Milliarde Euro lägen die zu erwartenden Kosten jetzt bei 1,5 Milliarden Euro. Finanzminister Danyal Bayaz von den Grünen will die CDU überzeugen, der Kabinettsvorlage zur Gründung einer Projektgesellschaft zuzustimmen. Doch die CDU möchte einen Architektenwettbewerb ausschreiben, um mehrere Varianten für die Sanierung und Erweiterung der Oper zu haben.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier: Es ist endlich soweit – ein halbes Jahr nach der Kinopremiere wird mein Film Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt nun auch im Fernsehen gezeigt. Der BR überträgt die Dokumentation am 27. Juli um 22:45 Uhr. Und natürlich können wir uns auch dieses Jahr wieder live begegnen, vielleicht am gleichen Tag, etwas früher, um 20:00 Uhr. Da führe ich mit Freude durch das kostenlose Festspiel-Open-Air Glaube. Liebe. Hoffnung. Das Orchester der Bayreuther Festspiele wird von Oksana Lyniv geleitet, als Solisten treten auf Kristiane Kaiser, Okka von der Damerau, Stephen Gould und Jens-Erik Aasbø. Die überdachte Konzertbühne befindet sich hügelaufwärts auf der linken Parkseite.
Und dann noch ein kleiner Tipp: Vor einigen Wochen habe ich gemeinsam mit einer Lübecker Schulklasse ein Podcast-Projekt über Brahms im Auftrag des Schleswig-Holstein Musikfestivals veranstaltet. Das Ergebnis ist nun auf allen Portalen zu hören – mit dabei auch die Klarinettistin Sabine Meyer.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
Axel Brüggemann
brueggemann@crescendo.de