KlassikWoche 31/2021
TOPS und FLOPS des Festival-Sommers
von Axel Brüggemann
2. August 2021
Der Festspiel-Sommer in Salzburg, Bayreuth und Bregenz, das Ende von Joana Mallwitz in Nürnberg, der Abschied von Nikolaus Bachler in München
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute mit einem kleinen – zutiefst persönlichen – Ranking der Festspiele und einem Blick auf die Attraktivität unserer Orchester.
FESTSPIELE OHNE KOORDINATENSYSTEM
Zurück vom Festival-Jet-Set! Und einigermaßen ratlos: Was soll man davon halten, wenn das Salzburger Klunker-Publikum nach der „Höllenfahrt“ des „Don Giovanni“ aufsteht, um im finalen Ensemble „Questo è il fin di chi fa mal!“ erschrocken in den Gängen zu stehen und zu merken, dass es noch weitergeht? Was davon, wenn eine Kritikerin, die sich selber gern als „letzten Mohikaner der Klassik-Kritik“ beschreibt, nach dem Bayreuther „Holländer“ im Radio ununterbrochen von Senta als Amy Winehouse fabuliert, obwohl auf der Bühne offensichtlich Billie Eilish gemeint war? Klar, Fehler passieren (keiner weiß das wie ich!), aber wenn selbst das VAN Magazin von „Billy Eilish“ schreibt, zeigt das auf erschreckende Weise, wie unbekannt vielen Klassik-Fuzzis die Welt jenseits ihres Tellerrandes ist.
Tja, und was soll man davon halten, dass ein Großteil des deutschen Feuilletons Teodor Currentzis und Romeo Castellucci endgültig entzaubert, während die Kollegen aus Österreich einhellig weiter um den heißen Brei herum schreiben und Musikkritik eher als Huldigungs-Journalismus verstehen? Haben wir überhaupt noch ein gemeinsames Koordinatensystem, in dem wir uns positionieren, unsere unterschiedlichen Perspektiven austauschen und debattieren? Oder bewegen wir uns längst im luftleeren Raum, in dem Show, Effekt, hohle Behauptungen und Scharlatanerie sich Bahn brechen? Hier auf jeden Fall meine ganz persönlichen Sieger und Verlierer des bisherigen Festspielsommers.
DIE 10 TOPS UND FLOPS DER FESTSPIELE
Asmik Grigorian wurde bei den Salzburger Festspielen als Salome entdeckt, Franz Welser-Möst hat sie behutsam in das dramatische Fach begleitet, in dem sie dieses Jahr in Bayreuth eigene Wege geht: Ihre fulminante Senta war ein Ritt auf der Rasierklinge, eine akustisch-physische Psycho-Reise, von der Grigorian wahrscheinlich am besten weiß, dass sie auch deshalb so begeistert, weil sie stets die Grenzen ihrer Stimme auslotet. Diese Art zu singen, ist so gefährlich wie spektakulär – Begeisterungsstürme, zu Recht!
Im letzten Corona-Jahr war Franz Welser-Möst der große Gewinner, weil er mit seiner „Elektra“ einen Opern-Schocker in die Stille stellte. Wer hätte gedacht, dass auch die Wiederaufnahme in diesem Jahr noch einmal als „Ereignis“ gefeiert würde? Schon in den sinfonischen Strauss-Konzerten mit der „Alpensymphonie“ war offensichtlich zu hören, wie eng verbunden die Wiener Philharmoniker inzwischen mit dem Dirigenten sind, wie man sich beim Musizieren auf dem hohen Grat der tiefen Deutung trifft und als Seilschaft einen Achttausender nach dem anderen erklimmt. Ein Beweis dafür, dass Ausdauer, Tiefe und Hingabe zur Musik am Ende durchaus spektakulär sein können.
Die Bregenzer Festspiele gelten als Festspiele des Spektakels, was sie mit ihrem Seebühnen-„Rigoletto“ auch dieses Jahr wieder unter Beweis gestellt haben. Aber in der „Hausoper“ zeigen die Festspiele dann eben doch immer wieder spannende Trouvaillen wie dieses Jahr Arrigo Boitos Absurd-Oper „Nerone“, in der Beethoven-Orchester-Chef Dirk Kaftan durch die Gischt der Partitur manövrierte, sich nie zum Kitsch oder hohlen Pathos verführen ließ und die Unordnung der Dinge mit präziser Kühle geordnet hat. Eine echte Entdeckung!
Sie hat es wirklich gut gemacht, hatte die Akustik im schwierigen Bayreuther Festspielhaus gut im Griff, hat sich um viele Details gekümmert und wusste genau, was sie von Wagners „Holländer“ wollte. Und, ja, Oksana Lyniv war die erste Frau, die bei den Bayreuther Festspielen eine Première dirigierte.
Aber, bitte: Sie ist keine Heilsbringerin und hat keine übermenschlichen Kräfte. Zur Wahrheit gehört auch: Bei ihrem Dirigat war durchaus noch Luft nach oben, besonders, was den Sog des Ganzen, den Atem, betrifft. Lynivs Karriere braucht jetzt keine Superlative, sondern weitere Schritte – am besten einen nach dem anderen.
Die litauische Sängerin Vida Miknevičiūtė stand vor einer schwierigen Aufgabe: Sie übernahm die Salzburger Chrysothemis von Asmik Grigorian – und begeisterte! „Dazu Miknevičiūtės Stimme: ideal für Strauss! Dieser glänzende, leicht metallene, trompetenhafte Strahl in der Höhe – nie kalt, nie scharf, aber immer mühelos sich auf die Orchesterwogen schwingend. So beherrscht sie die ganze Schlussszene“, schrieb Maximilian Maier für den BR.
Auf Platz sechs, aber irgendwie noch ein Gewinner: Blutkünstler Hermann Nitsch, der die Bayreuther „Walküre“ in tropfende Farben hüllte. Ein nicht unbedeutender Mitwirkender der Festspiele formulierte es in der Pause so: „Dieses Farb-Gedöns auf der Bühne ist mir lieber als beknacktes Regiegedöns“ (einzig einige Sänger fühlten sich vom unrhythmischen Klatschen der Farbeimer irritiert). Tatsächlich hat Katharina Wagner mit dieser einmaligen Aktion ein geschicktes Händchen für den Übergangssommer bewiesen.
Überhaupt lässt sich ihre Bilanz durchaus sehen: Barrie Koskys gefeierte „Meistersinger“ laufen das letzte Mal, Tobias Kratzers „Tannhäuser“ ist auch in diesem Jahr wieder Kult bei Presse und Publikum, der neue „Holländer“ wurde weitgehend gefeiert. Auch die Zukunft ist vielversprechend: Jay Scheibs „Parsifal“ 2023 wird erstmals Augmented Reality in ein großes Opernhaus holen und sicherlich ein Zeichen setzen. Einziges Fragezeichen ist, ob Pietari Inkinen seinen „Ring“ im kommenden Jahr etwas souveräner gestalten kann als seine diesjährige „Walküre“?
So langsam muss Markus Hinterhäuser aufpassen, dass er nicht zur Karikatur seiner selbst wird. Als männlicher Teil eines absurd-lustigen Führungs-Duos an der Seite der scheidenden Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler (die beiden haben sogar die Corona-Regeln für das Publikum eingesprochen und ein fast bizarres Glückwunsch-Video auf Italienisch für Riccardo Muti ins Netz gestellt). Angetreten ist Hinterhäuser als intellektueller Innovator, inzwischen muss er sich fragen lassen, für wen er seine Festspiele eigentlich veranstaltet und ob sie wirklich noch seinen eigenen Ansprüchen entsprechen.
Diese Jahr biedern sie sich auf jeden Fall gefährlich dem Klunker-Publikum aus der „Bunten“ an, nicht nur mit der Anna-Netrebko-„Tosca“ sondern auch mit den auf Effekt getrimmten Scharlatanen der Klassik, mit Teodor Currentzis oder Romeo Castellucci. Die Festspiele liefern eine hübsche Oberfläche für die Après-Klassik-Champagner-Sause in den Etablissements der Festspielstadt. Sie tun nicht weh, sie bleiben nicht in Erinnerung. Sie sind: oft sehr egal. Es dürfte spannend werden, ob sich nach dem Abgang von Helga Rabl-Stadler daran etwas ändert. Als Nachfolger sind im Gespräch der amtierende ORF-Intendant Alexander Wrabetz, wenn er seine Wiederwahl beim Sender verliert, und (wohl wahrscheinlicher für die lokalpatriotischen Salzburger) der amtierende Landeshauptmann Wilfried Haslauer, der neue Herausforderungen zu suchen scheint.
Zur aktuellen Salzburg-Ästhetik passt, dass Markus Hinterhäuser Romeo Castelluccis „Don Giovanni“ ernsthaft als „Der ungewöhnlichste Giovanni, den die Welt je gesehen hat“ angekündigt hat: Dabei hat Castellucci weniger Regie geführt als vier Stunden Oper mit belanglosem Rummms ausgestattet und dekoriert wie das Schaufenster eines russischen Oligarchen. Ach ja: Wenn schon nackt, dann doch bitte auch richtig! Dieser „Don Giovanni“ war langweilig, oberflächlich und unendlich prüde! Man hatte einen besseren.
Es hat lange gedauert, aber nun, langsam beginnt sie endlich, die öffentliche Entzauberung von Teodor Currentzis, der Mozart auch in Salzburg nur dazu benutzt, sein eigenes Ego zu erheben. Aber die Kritik wird lauter. Die Welt schreibt über den „originalitätssüchtigen Adepten“: „Aber ausgerechnet vom Dirigenten wird er (Mozart) misshandelt. Und – schlimmer noch – von dessen Hammerklavierspielerin Maria Shabashova, die sich besonders im zweiten Akt mit schrillen, atonalen, in Mollverzückungen exhibitionistisch windend, maßlos in den Vordergrund klappert. Sind wir wirklich so angeödet, dass wir solche entstellenden Gaumenkitzel brauchen, um unsere genussüberfrachteten Papillen noch irgendwie orgasmisch reizen zu können?“ Und in der FAZ war zu lesen: „Mozarts Musik [wird] zum Material für den neuen Führerkult um Teodor Currentzis.“
Es ist fast schon eine Tragödie, wenn es nicht so absehbar wie der Weltuntergang in der „Götterdämmerung“ gewesen wäre. Dass Günther Groissböck erst in der Generalprobe der Bayreuther „Walküre“ bemerkt haben will, dass die Rolle des Wotan für einen Bass einfach zu hoch liegen könnte, ist erstaunlich. Das Ärgerlichste aber war seine Begründung: Schuld an seiner „Formkrise“ sei die allgemeine Corona-Situation. Wie auch immer: Nachdem der Sänger nun ein Jahr lang quasi als alter Ego des Wotans durch die Interview-Welt marschiert ist und vor Götterkraft kaum gehen konnte, hat er seinen Abschied jetzt selber vorverlegt – still und leise, ganz ohne großen Feuerzauber. Vom Gottvater zur Götterspeise – so schnell kann’s gehen.
MALLWITZ KEHRT NÜRNBERG DEN RÜCKEN
Als bekannt wurde, dass Dirigentin Joana Mallwitz ihren Vertrag als Generalmusikdirektorin an der Staatsphilharmonie Nürnberg nach Ende der Spielzeit 2022⁄23 nicht verlängern wird, war ich zunächst stutzig. Ihre Begründung, dass sich die Prioritäten nach der Geburt ihres Kindes verschieben würden, zeigte, dass Karriere und Familie in der Klassik eventuell tatsächlich nicht miteinander vereinbar sind. Oder hat Mallwitz« Entscheidung etwa einen anderen Hintergrund: Könnte es sein, dass es einfach nicht mehr erstrebenswert ist, ein Orchester zu leiten, sich mit Tarifverträgen herumzuschlagen, mit Privilegien von Musikern und Erwartungen von Politikern?
Klassik Viral – ein Podcast von CRESCENDO
Wie schafft man es, sich von Corona nicht unterkriegen zu lassen?
Arnt Cobbers fragt nach. Bei dem Geiger Philipp Bohnen und dem Komponisten Jonathan Powell.
Könnte es sein, dass die Institutionen heute viel zu viel Kraft schlucken und vom Wesentlichen, der Musik, ablenken? Ist es inzwischen vielleicht attraktiver, sich einige, wenige Orchester auszuwählen, mit denen man eng zusammenarbeitet und seiner Kreativität vielleicht in einem eigenen Festival oder mit privaten Orchestern freien Lauf zu lassen? Fragen, die wir an anderer Stelle verfolgen sollten: Wie zeitgemäß sind unsere Orchester und ihre Führungsstrukturen eigentlich noch?
PERSONALIEN DER WOCHE
Abschied von Intendant Nikolaus Bachler in München: Nach 13 Jahren hat der Chef seine Staatsoper verlassen und wurde in einer großen Gala von zahlreichen Künstlerinnen und Künstlern gefeiert. Zuvor wurde Marlis Petersen noch schnell (und verdient!) zur Kammersängerin geadelt. An dieser Stelle haben wir uns in frisch gebügelten, weißen Hemden duelliert und dann wortreich und augenzwinkernd versöhnt. Ich ziehe meinen Hut vor einer wirklich große Opern-Ära! Gratulation, Nikolaus Bachler! +++ Peter Gelb will im September die berühmte Metropolitan Opera in New York eröffnen – als „vollständig geimpftes Haus“. Auch für Kinder soll es keine Ausnahmen geben. Das gilt vor und hinter der Bühne. +++ Der Chorleiter des Windsbacher Knabenchors, Martin Lehmann, soll nach dem Willen der Findungskommission zum neuen Kantor des Dresdner Kreuzchores berufen werden. Die vom Dresdner Stadtrat eingesetzte Kommission habe den 47-Jährigen einstimmig als 29. Kreuzkantor vorgeschlagen, teilte die Stadtverwaltung Dresden am Dienstag mit. +++ Das Staatstheater Oldenburg führt die „Demokratische Symphonie“ mit Original-Zitaten aus dem Bundestag auf: „Wir wollen zeigen, wie spannend und wichtig Politik ist und den Bundestag erlebbar machen“, erklärt Dramaturgin Anna-Teresa Schmidt. Das Stück ist als eine Art Sprechoper erklärbar. Hierbei spielt das Orchester und gibt dem Bundestag seine musikalische Note, während auf der Bühne zwölf Schauspieler die Debatten mit Sprache darstellen.
UND WO BLEIBT DAS GUTE, HERR BRÜGGEMANN?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht in der Nachricht, dass die Ex-Tennisspielerin und Dirigentin Marie Jacquot gemeinsam mit Bahnrad-Olympiasiegerin Miriam Welte einen neuen Podcast bei BR-Klassik starten wird – er heißt: „Dein Weg. Dein Ziel.“, beginnt am 8. August und erscheint alle zwei Wochen montags. Auch bei „Brüggemanns Begegnungen“ ist Marie Jacquot demnächst Talkgast – aber dafür müssen Sie sich noch bis nach den Sommerferien gedulden.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
brueggemann@crescendo.de
Fotos: Salzburger Festspiele, Simon Pauli (Staatstheater Nürnberg), Robert Haas (Bayerische Staatsoper)
PS.: In einer vorigen Version des Newsletters stand, dass in Bayreuth auch noch der „Lohengrin“ gespielt wird. Das ist natürlich Quatsch.