KlassikWoche 36/2023

Das Geheimnis der Stimme

von Axel Brüggemann

4. September 2023

Das Ausbleiben des Klassik-Publikums, die Gerüchte um Christian Thielemann und die Staatsoper Unter den Linden, die Öffentlichkeitsarbeit des SWR Symphonieorchesters.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute geht es um die Frage nach dem Publikum: Warum will es kommen und kommt nicht? Wodurch kann es gelockt werden? Und wie wird es für Statis­tiken miss­braucht? 

Muss Lüne­burg das Musik­theater opfern?

Wenn Theater gezwungen werden, Bera­ter­firmen zu enga­gieren, geht das selten gut. In Lüne­burg kam das Unter­nehmen actori zu dem Schluss, dass das Haus nur eine Zukunft ohne oder mit radikal verklei­nertem Musik­theater habe. Eine Milch­mäd­chen-Rech­nung: Natür­lich hat ein Orchester an einem Theater das größte Einspar­po­ten­zial. Deshalb schlägt die Studie den Gesell­schaf­tern des Thea­ters nun vor: Entweder die Verklei­ne­rung des Orches­ters um ein Drittel oder die Abschaf­fung des gesamten Orches­ters bei Beibe­hal­tung des Spiel­be­triebs oder die komplette Schlie­ßung der Sparte. „Alle drei vorge­stellten Szena­rien eint, dass Einspa­rungen in rele­vanten Größen­ord­nungen nur über einen Perso­nal­abbau reali­siert werden können, da das Theater bereits jetzt äußerst kosten­ef­fi­zient arbeitet und dies im Bera­tungs­ver­fahren bestä­tigt wurde“, heißt es in einer Pres­se­mit­tei­lung des Thea­ters. Ob in einer derar­tigen Studie auch die Kosten gegen­ge­rechnet werden, die der Verlust an Lebens­qua­lität in Lüne­burg nach sich zieht?

Sie wollen die Klassik, aber kommen nicht

Eine span­nende Umfrage des Royal Phil­har­monic Orchestra in London wurde letzte Woche veröf­fent­licht: 84 Prozent der briti­schen Bevöl­ke­rung erklären darin, dass sie grund­sätz­lich Inter­esse daran hätten, ein klas­si­sches Konzert zu besu­chen. Das wollten 2018 nur 79 Prozent. Und dennoch lässt das Ergebnis viele Fragen offen: Warum, verdammt, gehen die Leute nicht einfach hin?

Ich hatte diese Nach­richt bereits auf meinem neuen Insta-Profil debat­tiert und Post von einigen Lehre­rinnen und Lehrern bekommen, die mir berichtet haben, dass ihre Schü­le­rInnen tatsäch­lich Berüh­rungs­ängste mit der Oper und der Konzert­welt hätten: Wie sollen sie sich benehmen? Was sollen sie anziehen? Wird die Welt der Klassik sie aufnehmen? Sind sie „parkett­si­cher“? Manch profes­sio­nelle Konzert­ver­an­stalter mögen über diese Fragen lächeln, aber auch der Rele­vanz­mo­nitor Kultur der Bertels­mann Stif­tung kam zu ähnli­chen Ergeb­nissen (wir haben die Zahlen in einer älteren Version des Podcasts Alles klar, Klassik? vorge­stellt). Mit anderen Worten: Manchmal sind viel­leicht nur kleine Hilfen nötig, um ein großes, neues Publikum in die Konzert­häuser zu bekommen.

Pay what you can in Leipzig

Das Modell machte Schule nach der Corona-Pandemie: Zum Beispiel haben die Thüringer Bach­wo­chen gute Erfah­rungen mit dem Konzept „Pay what you can“ gesam­melt. Das Publikum bekommt eine Karte für das Geld, das es geben kann oder will. Nun expe­ri­men­tieren auch das Gewand­haus zu Leipzig, die Oper Leipzig, das Schau­spiel Leipzig und das Theater der Jungen Welt mit dieser Idee. Wenn man sich die Auslas­tungs­zahlen, etwa der Leip­ziger Oper anschaut, scheinen die Zahlen die Häuser auch zu neuen Wegen zu zwingen: Selbst gut besetzte Auffüh­rungen wie Wagners Meis­ter­singer verkaufen sich nur schlep­pend (das Foto oben zeigt die Auslas­tung am Tag der Auffüh­rung). Liegt das an der tradi­tio­nellen Erwar­tungs­hal­tung des Publi­kums? Daran, dass die Häuser anders in die Stadt kommu­ni­zieren müssten? Über­haupt scheinen Häuser im Osten (etwa auch in Dresden) beson­ders mit Publi­kums­schwund nach Corona zu kämpfen. Zuge­geben, das sind zwar zutiefst subjek­tive Beob­ach­tungen, aber viel­leicht auch ein Thema, das man sich geson­dert vornehmen sollte.

Perso­na­lien der Woche I

Wir haben den Umbau der Berliner Klassik-Szene bereits letzte Woche beschrieben. Nun werden die Gerüchte immer lauter, dass in den kommenden Tagen an der Staats­oper Unter den Linden unter­schreiben soll. Sicher ist: wird seinen Chef­posten an der Deut­schen Oper 2026, ein Jahr vor Vertrags­ende, beenden, da er seinen Lebens­mit­tel­punkt in die USA verlegen will. +++ Der briti­sche Diri­gent Sir nimmt nach der Schlag-Attacke auf einen Sänger eine längere Auszeit. Der 80-Jährige werde alle Enga­ge­ments bis zum nächsten Jahr aussetzen und sich gemeinsam mit medi­zi­ni­schen Bera­tern auf seine mentale Gesund­heit konzen­trieren, teilte seine Agentur Inter­mu­sica am Donnerstag mit. „Er bereut sein Verhalten zutiefst und versteht, dass es erheb­liche Auswir­kungen auf Kollegen hatte, die er zutiefst schätzt und respek­tiert.“

Eine Peti­tion „Kein Auftritt von Anna Netrebko“ hat in der letzten Woche über 31.000 Unter­schriften gesam­melt. Dennoch hält die Berliner Staats­oper am Auftritt von fest. „Sie hat sowohl durch ihr State­ment als auch durch ihr Handeln seit Kriegs­aus­bruch eine klare Posi­tion einge­nommen und sich distan­ziert. Das gilt es anzu­er­kennen“, heißt es in der Erklä­rung weiter. Netrebko singt ab dem 15. September an vier Tagen die Rolle der Lady Macbeth in Verdis Oper Macbeth. Unmit­telbar nach Beginn des Krieges war die Zusam­men­ar­beit mit der Star-Sängerin zunächst auf Eis gelegt worden.

Die Feig­heit des SWR Sympho­nie­or­ches­ters

Fast drei Monate ist es her, dass der Kompo­nist und Blogger und ich beim SWR ange­fragt haben, ob man den Bass Alexey Tikho­mirov wirk­lich mit dem SWR Sympho­nie­or­chester und in Stutt­gart, Frei­burg, Mann­heim und Hamburg auftreten lassen wolle. Tikho­mirov ist in sozialen Medien mit seiner Nähe zu Putins Krieg und durch Auftritte mit dem Sankt-Georgs-Band aufge­fallen, außerdem hatte er einer kreml­kri­ti­schen Musi­kerin gedroht, sie beim russi­schen Geheim­dienst anzu­zeigen. Der SWR versprach mir damals, die Sach­lage zu prüfen, ließ dann aber nichts mehr von sich hören – auch nicht auf die Bitte, sich mit Ergeb­nissen zu melden. Als Alex­ander Strauch vorletzte Woche nach­hakte, erklärte der Sender, dass in diesem Falle „kein Kommu­ni­ka­ti­ons­be­darf“ bestünde. Wir haben an dieser Stelle darüber berichtet und gefragt, wie ein öffent­lich-recht­li­cher Sender derart handeln kann. Offen­sicht­lich ist nun doch etwas passiert. Denn jetzt erklärt der SWR plötz­lich, dass Alexey Tikho­mirov seine Auftritte in Deutsch­land „aus privaten Gründen“ abge­sagt hätte. Für den SWR haben sich damit alle weiteren Fragen erle­digt. Doch was verwun­dert, ist, dass Tikho­mirov weiter gemeinsam mit Curr­entzis in Russ­land probt – in den von der VTB Bank finan­zierten Räumen des Dom Radios. Nicht auszu­schließen, dass der Bass bei den Auffüh­rungen in Russ­land weiterhin mit dem Chef­di­ri­genten des SWR auftreten wird. Bleibt die Frage: Welches Licht wirft das auf das SWR Sympho­nie­or­chester, auf seine hane­bü­chene und zöger­liche Öffent­lich­keits­ar­beit und vor allen Dingen auf seine Gesamt­lei­terin Sabrina Haane? Mich würde inter­es­sieren, wie Jour­na­lis­tInnen des SWR reagieren würden, wenn sie an anderer Stelle mit einer Öffent­lich­keits­ar­beit wie beim SWR zu tun hätten. Es ist über­flüssig zu berichten, dass der SWR die Frage, was Teodor Curr­entzis zu diesen Vorgängen sagt, unbe­ant­wortet lässt. Die aktu­ellen Entwick­lungen fasst Strauch hier zusammen

Perso­na­lien der Woche II

Die Hoch­schule für Musik in Weimar hat den Vertrag mit der US-Pianistin Claire Huangci gekün­digt, pikan­ter­weise, als sie in Baby­pause war. Nun klagt die Musi­kerin. +++ Es ist schon inter­es­sant, wie unter­schied­lich bei den Fest­spielen mit Auslas­tungs­zahlen jongliert wurde. Die Bayreu­ther Fest­spiele und Inten­dantin standen im Sommer andau­ernd in der Kritik, weil sich die von der Gesell­schaft der Freunde zurück­ge­ge­benen Ring-Karten nicht sofort verkauften und die Preise gestiegen sind. Am Ende sah die Bilanz hier voll­kommen okay aus: 97 Prozent Auslas­tung – und auch finan­ziell und künst­le­risch über­zeugten die Wagner-Fest­spiele. Die Salz­burger Fest­spiele und prahlten derweil andau­ernd mit ihrem Super-Sommer, aber wenn sie nun Bilanz ziehen, steht neben einem mehr als mäßigen Programm zwar eben­falls eine Auslas­tung von 98,5 Prozent, aber auch ein Einnahmen-Minus. Mit 29 Mio. Euro blieb man unter dem Vorjah­res­er­gebnis (31 Mio. Euro). Konse­quenz: Auch in Salz­burg werden die Karten­preise kommenden Sommer steigen – und hoffent­lich auch das künst­le­ri­sche Niveau (in einer vorigen Version hieß es fälsch­li­cher Weise, dass Salz­burg 29 Mio Euro weniger Einnahmen hatte, es sind natür­lich „nur“ zwei Millionen weniger).

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht ja hier. Diese Woche möchte ich Sie für eine ganz beson­dere Ausgabe des Podcasts Alles klar, Klassik? werben: Der aktu­elle Fest­spiel­sommer war durch Absagen gekenn­zeichnet: , , und am Ende gab auch noch Wagner-Tenor bekannt, dass er seine Karriere krank­heits­be­dingt beendet. Veran­stalter leiden unter kurz­fris­tigen Absagen, das Publikum wird enttäuscht. Aber was ist schuld daran? Der stei­gende Druck? Zu wenig Zeit zur Rekon­va­les­zenz? Oder Unwissen über die Stimm-Pflege? Ich habe für die aktu­elle Ausgabe des Podcasts Alles klar, Klassik? beim Wagner-Tenor nach­ge­fragt und beim Stimm-Professor der Ludwig-Maxi­mi­lians-Univer­sität in München, bei Matthias Echter­nach. Echter­nach begleitet viele promi­nente Stimmen und gibt in dieser Ausgabe Einblicke in seine Arbeit und konkrete Stimm­tipps. Den Podcast können Sie auf Spotify hören, wenn Sie das Bild unten ankli­cken, oder mit diesen Links bei Apple Podcast oder für jeden Player.

Ich hoffe, dass Sie das Hören inspi­riert. Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

 

brueggemann@​crescendo.​de