KlassikWoche 38/2022
Heizkostenzuschlag für VTB-„Tristan“ in Dortmund und Baden-Baden?
von Axel Brüggemann
19. September 2022
Die Angst der Theater vor einer elektronischen Zeiterfassung, die Frage, wie Klassik im Fernsehen geboten wird, die Gewinner des 71. ARD-Musikwettbewerbs.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
Es ist schon verrückt: Teodor Currentzis wird in St. Petersburg von jenem Mann gefeiert, der das Telefon nicht einmal abnimmt, wenn Olaf Scholz anruft, und in Baden-Baden und Dortmund plant man weiterhin Produktionen mit MusicAeterna – so als würde Deutschland nicht mitten in einem Energie-Krieg stecken. Wird es einen Heizkosten-Zuschuss bei den Aufführungen in Baden-Baden und Dortmund geben? Weil dieses Thema viele LeserInnen nervt, stehen die neuen Recherchen dazu am Ende dieses Newsletters (noch nach meiner Verabschiedung). Vorher fragen wir uns, ob unser Fernsehen eigentlich Klassik kann und wie ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts die Zukunft unserer Theater grundlegend in Frage stellt!
Was ist eigentlich Arbeitszeit?
Deutsche Theater haben Angst! Derzeit kämpfen sie gegen Inflation, drastisch steigende Energiepreise, höhere Tarifverträge bei gleichzeitiger Deckelung der Etats und Publikumsschwund. Und was sich am Horizont anbahnt, könnte eine weitere Bombe für das deutsche Stadttheater werden: Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, eine elektronische Zeiterfassung einzuführen. Was so selbstverständlich klingt, hat es in sich. Denn der NV Bühne (der Normal-Vertrag für Bühnenbeschäftigte) hat die Frage nach Arbeitszeiten derzeit nicht geregelt. Auch, weil Arbeitszeiten in kreativen Berufen oft fließend sind.
Nun müssen die Tarifpartner und der Bühnenverein eventuell viele ganz heiße Eisen anpacken: Wie kommen KünstlerInnen und BühnenarbeiterInnen in Premierenwochen auf nur 48 Stunden Arbeitszeit? Ja, was ist überhaupt „Arbeitszeit“? Das Studium einer Rolle zu Hause? Die Probenzeit? Die Maskenzeit? Die Arbeitsphase an einem Regie-Konzept? Und wie soll all das dokumentiert und verrechnet werden? Wie umgehen mit Privat-Auftritten während der eigentlichen „Einstudierungszeit“? Der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts zwingt die Bühnen, Fragen neu zu beantworten, die bisher offen waren. Haarig wird es, weil die soziale Seite mit der kreativen Seite abgewogen werden muss. Bei Orchester-Tarifverträgen zeigt sich bereits jetzt, dass einige Privilegien in der angespannten Situation von Bühnen und Orchestern kaum noch finanzierbar sind. Es wird spannend, die Debatten darüber zu verfolgen, wie Arbeit an unseren Theatern sozialer, lebensnäher und familienfreundlicher gestaltet werden und der Spielbetrieb gleichzeitig aufrecht erhalten werden kann.
Kann die Glotze Klassik?
Kann Fernsehen Klassik? Wie sinnvoll ist es, wenn das deutsche Hauptprogramm den Opus Klassik zeigt oder eine gekürzte Carmen aus der Arena in Verona, obwohl wir in Deutschland weit über 100 Opernhäuser und Festivals haben? Wie steht es um den Bildungsauftrag von ARD und ZDF? Wie um Spartenkanäle wie 3sat und arte? Sind sie ein Freiraum, um Kultur als Abenteuer zu wagen, oder müssen sie die Masse bedienen? Schaffen die Sparten mehr Kultur-Angebote für ein kleineres Publikum?
In der neuen Folge meines Podcasts „Alles klar, Klassik?“ vermisst Erfolgs-Regisseur Enrique Sánchez Lansch (Rhythm Is It!) den Mut zur Innovation in einigen Redaktionen und kritisiert die Macht der Quote und das hierarchische Denken in den Sendern. „Gerade weil Deutschland ein einmaliges System hat, müssen wir es immer wieder befragen.“ Der Deutschland-Geschäftsführer von Arte, Wolfgang Bergmann, antwortet: Seit Arte-Gründung gebe es mehr Kultur im Fernsehen, man sei kein Spartensender und achte sehr wohl darauf, dass jeder, der für Arte zahlt, auch Arte schauen kann. Für Bergmann ist selbstverständlich, dass jemand wie David Garrett zu den Arte-Gesichtern gehört – weil er ein großes Publikum erreicht „und geigen kann“. Seine Vision für den Sender: „Europa, Europa, Europa!“ Debattieren Sie mit! Den gesamten Podcast gibt es hier für alle Formate.
Kritik der Kritik
2021 sorgte Karin Beier, Intendantin am Schauspielhaus Hamburg, für Aufregung unter Journalisten. Die Theaterkritik sei „die Scheiße am Ärmel der Kunst“, fand sie. Journalist Tobi Müller hat nun beim Deutschlandfunk einen spannenden Text über die Kritik an der Kritik geschrieben – aus gegebenem Anlass: Der Schauspieler Benny Claessens beschimpfte seine Kritiker auf niedrigstem Niveau. Müller überlegt, wie sich ein Dialog zwischen Kritikern und Kritisierten gestalten könnte und sucht nach den Wurzeln der aktuellen Aufgeregtheit: „Den Theatern geht es besser als der Kritik, auch weil die Häuser öffentlich gefördert sind und die Medienhäuser nicht. Wie nur schon der Publikumsschwund die Kunst bedroht, ist mit ein Grund, warum der Stärkere nervös und lauter wird. Statt sich so rüde mit der Kritik zu beschäftigen, sollte man sich aktuell etwas mehr um das Publikum kümmern, das in der Pandemie keine Rolle gespielt hat und jetzt als relevante Größe zurückkehrt.“
Personalien der Woche
Anfang des Jahren haben wir an dieser Stelle zum ersten Mal berichtet, dass es den Konzertmeister der Münchner Philharmoniker, Lorenz Nasturica-Herschcowici, an die Seite seines alten Chefdirigenten Valery Gergiev nach Russland zieht. Die Pressestelle beschwichtigte, ging auf Distanz – und nun hat man sich offensichtlich vom Geiger getrennt. Gründe wurden nicht genannt, das Orchester dankte Nasturica-Herschcowici „für 30 wertvolle Jahre“. +++ Letzte Woche hatten wir geschrieben, dass Dirigent und Pianist Mikhail Pletnev keinen Zugang mehr zu seinem Orchester in Russland habe und ein neues Ensemble gegründet hat. Nun erklärte das Russische Nationalorchester auf Telegram, dass es auch offiziell die Zusammenarbeit mit Pletnev einstellt. +++ Zur Saison-Eröffnung trat der aserbaidschanische Tenor Yusif Eyvazov am Bolschoi-Theater in Tschaikowskis Piqué Dame auf. Russische Medien wundern sich, berichtet der BR, dass der Sänger im Westen „überraschenderweise“ weniger streng beurteilt wird als seine Frau Anna Netrebko.
Der Sänger Wolfgang Ablinger-Sperrhacke schrieb mir nach dem letzten Newsletter und erklärte, dass es sich bei der Rechtfertigung von Salzburgs Festspielchef Markus Hinterhäuser um eine Farce handelte. Ablinger-Sperrhacke hat, stellvertretend für andere SängerInnen den Umgang der Festspiele in der Corona-Krise beklagt. Nun sagt er: „Die Festspiele können gerne alles Mögliche von sich weisen, haben in der Presseaussendung aber exakt meine Vorwürfe bestätigt. Den Vertretern des Extrachores wurde von der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor direkt nur eine Abschlagszahlung für die bereits geleisteten im Feb/März bezahlt. Mit den Sängern der geplanten Produktionen Boris Godunow, als auch Don Pasquale hat man sich auf gar nichts geeinigt, denn diese Produktionen entfielen ersatzlos, bei den verschobenen Produktionen hat man sich ‚geeinigt‘, die Rechtsansprüche für 2020 auf Auszahlung verfallen zu lassen und kompensationslos in spätere Jahre zu verschieben, obwohl eigentlich ein Rechtsanspruch auf 100%ige Auszahlung bestand. Insofern handelt es sich hier um ein Non-statement und klärt den Sachverhalt mitnichten, sondern bestätigt ihn im Gegenteil.“ +++ Die Gewinner beim ARD Musikwettbewerb stehen fest: Im Fach Flöte ging der erste Preis an Yubeen Kim (25) aus Südkorea, im Fach Posaune errang der Brite Kris Garfitt (30) einen ersten Preis, im Fach Streichquartett konnte sich das Barbican Quartet (Bulgarien/Deutschland/Kanada/Niederlande) durchsetzen und im Fach Klavier errang Lukas Sternath (21) aus Österreich einen ersten Preis. Wie sinnvoll Musikwettbewerbe sind, darüber habe ich mich in diesem Podcast u.a. mit Daniel Hope unterhalten.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Ach ja, zuweilen schreiben mir Leute über Positives. Eine der Nachrichten betrifft den Bürgerchor des Gürzenich Orchesters Köln (wir haben das Projekt hier vorgestellt, als es um mehr Nähe zum Publikum in der Klassik ging). Der Chor ist aufgestellt – und singt: zur Saisoneröffnung in Köln. Und dann ist da noch die „Lange Nach der Komponistinnen“, die am kommenden Samstag im Berliner Nikolaisaal stattfindet: Von 18 Uhr bis nach Mitternacht gibt es Werke von Fanny Hensel, Josephine Lang, May Aufderheide, Amy Beach, außerdem gibt es Lesungen und Debatten u.a. mit Freia Hoffmann, Kyra Steckeweh, Arno Lücker und Iris ter Schiphorst. Kreative, neue Formate – Spannung garantiert! Wie lange das mit der Emanzipation in der Klassik dauern kann, zeigen die Regensburger Domspatzen: Vergangene Woche startete das Schuljahr, und erstmals in der mehr als 1000-jährigen Geschichte wurden auch Mädchen zugelassen. 34 Schülerinnen nahm das Gymnasium auf, rund die Hälfte von ihnen geht auch auf das zugehörige Internat. Und nun steht das erste Konzert des neuen Mädchenchores auf dem Plan.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
Axel Brüggemann
brueggemann@crescendo.de
Weil es sein muss: VTB-Tristan in Baden-Baden und Dortmund
Eine kleine Vorbemerkung noch: Ich habe in den letzten Wochen und Monaten mehrfach erlebt, dass man als Journalist, der sich mit dem russischen Netzwerk in der europäischen Kultur beschäftigt, mit Drohungen und Verleumdungen zu tun hat und mit einer starken Kultur-Lobby, die kritische Berichterstattung verhindern oder diskreditieren will. Ich habe mich entschlossen, diesen Schauplatz nicht in meine Berichterstattung zu integrieren, sondern Beschwerde beim Österreichischen Presserat gegen die Salzburger Festspiele, ihren Intendanten Markus Hinterhäuser und ihre Pressesprecherin einzureichen, um einer neutralen Instanz die Bewertung in dieser Sache zu überlassen. Und dennoch (oder gerade deshalb!) halte ich es für wichtig, auch weiterhin nachzufragen. Ich verstehe es als Aufgabe des Musikjournalismus, kritische Fragen zu stellen und Antworten zu dokumentieren. So auch in folgendem Fall:
Auf der Seite von musicAeterna wurde der deutsche Sänger Matthias Goerne für den 14. November als Mitwirkender in einer Moskauer Produktion von „Tristan und Isolde“ angekündigt. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass Goerne darüber nicht informiert war, an seiner Mitwirkung beim MusicAeterna-Gastspiel in Baden-Baden im November hält er indes fest. Der Moskauer „Tristan“ von Dirigent Teodor Currentzis und sein gesamtes Orchester MusicAeterna werden (auch daraus macht das Orchester keinen Hehl) unter anderem von der VTB Bank unterstützt, jener Bank also, die Putins Krieg gegen die Ukraine finanziert, die auf der europäischen Sanktionsliste steht und deren Vorstandsvorsitzender, Andrei Kostin, neben der russischen Zentralbankchefin und dem Gouverneur von St. Petersburg im Vorstand von Currentzis« Orchester sitzt. Deutschen Unternehmen ist es derzeit verboten, Geschäfte mit der VTB Bank zu machen. Matthias Goerne scheint das nicht zu stören – er hält an seiner Zusammenarbeit mit MusicAeterna fest.
Gerade noch gingen Currentzis und sein Orchester auf Gazprom-Tour durch Russland, bei einem Konzert in St. Petersburg am 2. September applaudierte ihnen jener Mann, der die Telefonate seiner Geschäftspartner aus Europa derzeit einfach ignoriert: Gazprom-Chef Alexei Miller. Currentzis hat nie gegen den Angriffskrieg in der Ukraine protestiert und profitiert offensichtlich vom russischen Geld.
Am 17. November soll die VTB-Produktion von Tristan und Isolde weiter nach Baden-Baden ans Festspielhaus wandern, wo Matthias Goerne als „Mark“ gelistet ist – Andreas Schager soll die Titelrolle übernehmen (er zog sich aus dem Moskau-Engagement zurück). Auf Anfrage beim Festspielhaus Baden-Baden erklärte Intendant Benedikt Stampa, man wolle Currentzis bitten, die Proben nicht in Russland stattfinden zu lassen (bislang sei man in diesem Punkt allerdings nicht weitergekommen). Außerdem sollen die Gagen über ein westeuropäisches Konto abgewickelt werden. Nur, wenn diese Punkte gewährleistet seien, stünde man zu diesem Konzert. Interessant ist es, dabei zu wissen, dass die MusicAeterna Stiftung u.a. ein Konto in Liechtenstein führt, auf dem laut musicAeterna-Seite „anonyme Spender“ einzahlen (und mit dem angeblich westliche Musiker bezahlt werden). Abgesehen davon ist eine Beteiligung von VTB am Tristan durch Stampas Forderungen natürlich nicht ausgeschlossen. Und die Russen-Produktion soll weiter touren: Das Konzerthaus Dortmund kündigt für den 25. November „das lang erwartete Tristan-Debüt von Teodor Currentzis“ an. Im Netz wird bereits gespottet, dass es kein Debüt sei, wenn die Vorstellung schon an zwei Orten zu sehen war, und es wird gefragt, ob es für die 195-Euro-Karten auch einen Heizkostenzuschuss gäbe. Dortmund-Geschäftsführer Raphael von Hoensbroech (er ist zufällig Nachfolger von Benedikt Stampa!) argumentiert nach altbewährtem Schema: „Wenn wir einen kulturellen Austausch im Rahmen des moralisch Vertretbaren aufrechterhalten wollen, ist das unvermeidbar und an sich nicht problematisch.“ Außerdem schreibt er: „Uns ist bekannt, dass VTB Sponsor von musicAeterna ist und wie alle russischen Banken auf der Sanktionsliste steht, um Finanzgeschäfte mit Russland einzuschränken. Praktisch alle großen Ensembles der Welt hängen an Drittfinanzierungen – die VTB zu ersetzen, ist kurzfristig in dieser Situation kaum möglich.“ Erstaunlich, dass es der gesamten westlichen Wirtschaft möglich war, ihr Russland-Geschäft binnen Wochen auf Eis zu legen. Currentzis weitete seine Russland-Abhängigkeit mit der Gazprom-Tour indes noch aus. Dazu erklärt von Hoensbroech: „Sich im Zusammenhang mit Gazprom zu zeigen, finde ich kritisch und habe das auch klar geäußert. Hier ist eine Emanzipation m.E. dringend geboten.“ Nun, auch diese „Emanzipation“ lässt auf sich warten, wie wir noch am 2. September in St. Petersburg gesehen haben. Currentzis« Netze nach Moskau werden immer enger und führen in die oberste Riege Russlands. Es bleibt spannend, ob die deutschen Veranstalter des VTB-Tristan, aber auch ob der SWR, wo Currentzis Chefdirigent ist, an ihrer Strategie des Tolerierens festhalten, während das politische und gesellschaftliche Europa Wladimir Putin und seinem ökonomischen System immer klarere Grenzen aufzeigt, weil es gelernt hat, dass Indifferenz am Ende ausgenutzt wird. Aber um das deutsche Orchester des Dirigenten kümmern wir uns dann nächste Woche.
HINWEIS DER REDAKTION: In einer vorigen Version hieß es, Matthias Goerne wolle in Moskau auftreten, das ist, wie Matthias Goerne feststellte, falsch, er war lediglich als Mitwirkender auf der MusicAeterna-Seite angegeben.