KlassikWoche 40/2023
Thielemann: „Sie werden sich noch wundern!“
von Axel Brüggemann
2. Oktober 2023
Christian Thielemann als neuer Generalmusikdirektor an der Staatsoper Berlin, Teodor Currentzis’ direkte Verbindung in den Kreml, die Analyse »Die Zwei-Klassik-Gesellschaft« im Buchhandel.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute mit einer WhatsApp von Christian Thielemann, mit einer direkten Linie von Teodor Currentzis in den Kreml, einer vorgezogenen Geburtstagsfeier für Maria Callas – und: einer Debatte um die Zukunft der klassischen Musik.
Thielemann: „Was ist schon museal?“
Dafür, dass alle Bescheid wussten, ist der Stein dann aber doch ziemlich laut in die Spree geplumpst! Christian Thielemann wird neuer Generalmusikdirektor der Staatsoper Berlin und folgt damit auf Daniel Barenboim. Da gab es ein vielfältiges Medien-Echo: Einen Wutausbruch von Manuel Brug auf Twitter, gemäßigte Kommentare (der BR fasst die Reaktionen zusammen) und ultimative Lobhudeleien, etwa in der Welt oder in der Zeit. Dass Autorin Christine Lemke-Matwey am Ende ihrer Jubelhymne einen Transparenzhinweis druckte, in dem sie erklärt, dass sie Bücher gemeinsam mit Thielemann verfasst habe, wurde von einigen Kollegen scharf kritisiert – ich fand das eigentlich ziemlich gut. Das Interview in der Welt führte schließlich auch Thielemann-Body Mathias Döpfner. Was in der aktuellen Bewertung etwas unterging, war die Gesamtsituation der Berliner Opernhäuser. In einem Essay hatte ich vor einigen Monaten noch über den Charme einer Neuaufteilung der Berliner Opern-Szene philosophiert: die Deutsche Oper mit dem designierten Intendanten Aviel Cahn als vollkommen neues, hoffentlich mutiges Haus der Experimente, die Komische Oper als Labor der Neuerfindung der Oper und die Staatsoper als goldenes und klangberauschtes Opern-Hauptstadt-Museum mit Christian Thielemann an der Spitze (ähnlich der Wiener Staatsoper). Aber ich habe die Rechnung ohne den designierten GMD gemacht. Nach seiner Ernennung schrieb Thielemann mir in einer WhatsApp (die ich hier zitieren darf), was er sich vorstellt: „Ich glaube, das Repertoire in Berlin sollte gleichermaßen verteilt sein, jedem Hause gemäß. Natürlich hilft man sich gegenseitig, bespricht sich, aber es muss am Ende auch Autonomie geben. Es geht um vertrauensvolle Gemeinsamkeit, aber ich selber bin nur zu wenigen ‚musealen‘ Schritten zu haben. Was heißt das auch: ‚museal‘? Sie werden sich noch wundern! Wir müssen ja sehen, dass wir die Oper frisch erhalten. Und ich will mich übrigens ja auch frisch halten. Ich habe so viel Strauss und Wagner dirigiert, und die Tradition des Hauses bietet ja so viel … so viele Entdeckungen. Elisabeth Sobotka und ich schauen uns das derzeit ganz genau an. Was ich jetzt schon sagen kann: Es geht in erster Linie darum, was das Haus braucht. Und ich freue mich darauf.“
Transparenzerklärung: Der Autor dieser Zeilen hat zeitweise mit Christian Thielemann zusammengearbeitet, sich mit ihm gezofft, sich mit ihm vertragen, dann wieder gestritten, weiter debattiert – also: eigentlich ganz normal!
Wie nahe kommen wir Maria Callas?
Am 2. Dezember würde sie ihren 100. Geburtstag feiern: Maria Callas! Wie nahe können wir ihr heute noch kommen? Und warum ist sie die vielleicht lebendigste Tote der Klassik? In der neuen Ausgabe des Podcasts Alles klar, Klassik? spreche ich mit den Autoren der beiden aktuellen (und großartigen!) Maria-Callas-Biografien, mit Arnold Jacobshagen (Kunst und Mythos, Reclam) und Eva Gesine Baur (Die Stimme der Leidenschaft, C. H. Beck). Jacobshagen versucht, die Mythen feinsäuberlich durch Fakten zu entrümpeln, und Baur tänzelt gekonnt und mit historischem Detailwissen fast romanhaft aus vielen Perspektiven um die Callas. Zwei grundverschiedene Zugänge, die zusammen ein spannendes Bild ergeben. Außerdem kommen die großen Sängerinnen unserer Zeit zu Wort: Marlis Petersen, Camilla Nylund und Chen Reiss. (Hier gibt es den Podcast kostenlos für alle Player, für applePodcast oder für Spotify)
Putin zahlt Currentzis für Kultur-Propaganda
Neue Recherchen zeigen, dass das russische Diaghilev-Festival, bei dem Dirigent Teodor Currentzis künstlerischer Leiter ist, Geld aus dem russischen Präsidentenfonds bekommt. Es handelt sich um 29 Millionen Rubel (ca. 280.000 Euro). Explizit wurde in der Begründung auf Currentzis Arbeit in Europa, etwa als „langjähriger Gast bei den Salzburger Festspielen“ hingewiesen. Der Präsidentenfonds für Kultur wurde von Wladimir Putin ins Leben gerufen und untersteht der Präsidialverwaltung im Kreml. Dem Kuratorium gehört unter anderem der Vertreter der Separatisten in Luhansk an (dort ist der Fonds besonders aktiv).
Bewahrheiten sich die Recherchen, bröckelt das Narrativ westlicher Veranstalter wie zuletzt von der Gesamtleiterin des SWR Symphonieorchesters, Sabrina Haane. Currentzis« Arbeit in Europa lässt sich also durchaus als von Wladimir Putin unterstützte Kulturpropaganda verstehen. Es setzt sich fort, was bereits im Kuratorium von musicAeterna angelegt ist: Hier entscheiden der VTB-Bank-Chef, der Gouverneur von St. Petersburg und die Chefin der russischen Nationalbank mit über die internationale Ausrichtung des Orchesters.
Natürlich habe ich sowohl beim SWR als auch bei den Salzburger Festspielen um eine Stellungnahme gebeten. Die Festspiele, bei denen es gerade um die Vertragsverlängerung von Intendant Markus Hinterhäuser geht, vertrösten uns und wollen der neuen Sachlage erst einmal selber nachgehen. Der SWR antwortete bislang (welch Wunder!) gar nicht. Wir bleiben dran.
Das Ringen in Rostock
Gerade noch hat Marcus Bosch eine gelungene Carmen-Première am Rostocker Opernhaus dirigiert, Regisseurin Vera Nemirowa kehrte an das Haus ihrer Mutter zurück, Julia Rutigliano übernahm die Titelrolle. Hinter den Kulissen aber rumort es: Der Theaterneubau in Rostock schien längst Fakt zu sein. Aber nun wird erneut diskutiert! Die CDU forderte einen Bürgerentscheid. Zu erwarten ist, dass die FDP der Forderung folgt, denn auch den zwei liberalen Mitgliedern in der Bürgerschaft soll zu viel Geld für das neue Theater ausgegeben werden. Und auch die SPD hat noch Fragen, schreibt der NDR. Immerhin glaubt Rostocks Oberbürgermeisterin weiterhin an den Neubau: „Wenn wir jetzt den Neubau absagen, dann machen wir uns lächerlich, in der Stadt, im Land und der ganzen Republik“, sagt Eva-Maria Kröger. Dieser Jahrhundertbau, wie sie ihn nennt, sei nach so langer Zeit des Stillstands einfach alternativlos. Dafür aber braucht es: Mehr Rückhalt!
Personalien der Woche
Nein, Sie haben nicht die Opernwelt des letzten oder vorletzten Jahres gelesen – es war das aktuelle Heft, das die Frankfurter Oper von Bernd Loebe – mal wieder – zum Opernhaus des Jahres erkoren hat. Außerdem ausgezeichnet: Kirill Petrenko wurde Dirigent des Jahres, Regisseur des Jahres Dmitri Tscherniakov (für seine Inszenierung von Sergei Prokofjews Krieg und Frieden an der Bayerischen Staatsoper). Das Bayerische Staatsorchester von Vladimir Jurowski ist zum wiederholten mal Orchester des Jahres geworden, und Michael Volle Sänger des Jahres. +++ Seit 2010 ist Antonello Manacorda künstlerischer Leiter der Kammerakademie Potsdam. Die Saison 2024/2025 wird die letzte in dieser Funktion. Er will Potsdam aber verbunden bleiben. +++ Der Leiter der Thüringer Bachwochen, Christoph Drescher, verlässt das Musikfestival nach 20 Jahren. Es wird nach einem Nachfolger gesucht. +++ Waltraud Meier nimmt Abschied von der Opernbühne – ihre letzte Rolle wird die Klytämnestra in Elektra sein – die Serie an der Staatsoper Berlin beginnt am 7. Oktober.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier: Wir müssen miteinander reden! Die Klassik zerfällt vor unseren Augen, und wir schauen nicht nur zu, sondern machen oft auch noch mit – indem wir wütend debattieren, statt nach Schnittmengen (oder ganz neuen Wegen) zu suchen. Das muss anders werden! Vor einem Jahr habe ich in der Jahresausgabe von CRESCENDO zehn Thesen entwickelt, die ich im letzten Jahr zu einem Buch weitergedacht und ausrecherchiert habe. Nun kommt es mit dem Titel Die Zwei-Klassik-Gesellschaft heraus und versucht, die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Kulturwelt zu beschreiben und Brücken durch Debatten zu bauen. Es geht in den einzelnen Kapiteln um die unterschiedlichen Erwartungen des Publikums und der KünstlerInnen an unsere Kultur, es geht um das Bildungsversagen an den Schulen, um die Unternehmenskultur bei Kulturunternehmen, den Zustand des Musikjournalismus, die Bedeutung des Politischen in der Kultur, um Nachhaltigkeit und die kulturelle Verantwortung des Staates für die Kultur – es geht um eine Bestandsaufnahme der Phonoindustrie und um multimediale Kultur-Perspektiven. Kurzum: Was kann die „letzte Generation“ eigentlich noch mit dem kulturellen Erbe der „sterbenden Generation“ anfangen? Welche Leerstellen gibt es oder wird es geben, und wie können wir sie besetzen? Das Buch ist ab heute erhältlich (u.a. hier), und ich freue mich, die Thesen möglichst breit und an vielen Häusern zu debattieren – unter anderem am 21. Oktober um 14:30 Uhr am Stand der F.A.Z. auf der Frankfurter Buchmesse mit dem Intendanten des Opernhauses des Jahres, Bernd Loebe.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr