KlassikWoche 45/2020

————— still

von Axel Brüggemann

2. November 2020

Der neue Lockdown, Grütters Feigheit, das Statement von Till Brönner und eine Aufforderung zur Besonnenheit

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

es ist so viel passiert, bis nichts mehr passieren darf. Und das macht müde, frus­triert und traurig. Aber: Hilft ja nix! Hier die Klas­sik­Woche – kämp­fe­risch, mit aufge­krem­pelten Ärmeln und dem Willen, die Zukunft schon heute in die Hand zu nehmen.

ZUM LETZTEN MAL

Okay, das war’s mal wieder. Mein letzter Opern-Besuch vor Schlie­ßung: Caval­leria / Bajazzo in der . Es war bereits durch­ge­si­ckert, dass es die vorletzte Oper am Ring vor Lock­down sein würde (heute Abend noch einmal die gleiche Auffüh­rung), und so war die Stim­mung ein biss­chen wie ein nost­al­gi­sches Klas­sen­treffen: der alte mit Martha und Maske, der alte Ioan Holender (ohne Maske), (mit Platz­wechsel), viele Kolle­ginnen und Kollegen und Opern-Freaks – alle wollten noch einmal Live-Musik tanken und beklatschten nach seiner großen Bajazzo-Arie, als wollten sie einfach alle bis Ende November durch­ap­plau­dieren. Auch das letzte Konzert der unter muss bewe­gend gewesen sein, berichtet Frederik Hanssen vom Tages­spiegel: „Alles, scheint dieser Abend in der Phil­har­monie wider besseres Wissen zu sagen, wird gut.“ Aber nun gehen erst einmal die Lichter aus – von bis .

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„GRÜT­TERS IST FEIGE“

Nikolaus Bachler, Intendant der Bayerischen Staatsoper

Monika Grüt­ters ist feige“ – das hat Münchens Opern­in­ten­dant Niko­laus Bachler am Tag der Lock­down-Entschei­dung gesagt, als ich ihn ange­rufen habe (das ganze Gespräch mit vielen guten Punkten ist hier nach­zu­hören). Erst war natür­lich eine Entschul­di­gung fällig! Ich habe Bachler erklärt, dass ich das Video von damals noch immer lustig finde, heute aber auch sehe, dass er mit seinem bedin­gungs­losen Fest­halten an der Öffnung des Hauses und dem Verweis auf das Sicher­heits­kon­zept schon beim ersten Lock­down richtig lag. Und Bachler ist nicht müde geworden – er kämpft weiter. Monika Grüt­ters hätte nicht den Mut gehabt, sagt er nun, sich gegen­über Merkel und den Minis­ter­prä­si­denten für Künst­le­rinnen und Künstler einzu­setzen und habe damit einer demo­kra­tisch frag­wür­digen „Fokus­sie­rung der Entschei­dungen auf ‚die wenigen Führer‘ tatenlos zuge­stimmt“.

Die Bedeu­tungs­lo­sig­keit der CDU-Poli­ti­kerin wurde dieser Tage auch ande­ren­orts offenbar: Till Brönner nahm sie in seinem Face­book-Video als Ansprech­part­nerin gar nicht mehr ernst („wir müssen uns an Peter Altmaier wenden“). Aber Grüt­ters stört all das nicht, sie macht weiter wie immer. Nachdem sie wochen­lang nichts getan hatte, erklärte sie nun wort­reich, dass sie sich vehe­ment einsetzen wolle. Dem Deutsch­land­funk sagte ausge­rechnet die Poli­ti­kerin, die beim ersten Lock­down noch zynisch von Künst­lern sprach, die auch ohne Hilfen nicht über­le­bens­un­fähig seien, plötz­lich: „Ich meine, die Kultur darf eben nicht zum leicht­fer­tigen Opfer der Krise werden.“ Genau das, Frau Grüt­ters, hätten Sie vor einer, zwei und drei Wochen sagen sollen, als es noch nicht opportun war! Aber jetzt, nachdem es zu spät ist, ist es wieder nur billiger Popu­lismus. Ja, Monika Grüt­ters ist feige! Wie tragisch, wenn selbst der Rück­tritt einer Poli­ti­kerin egal wäre, weil sie ihr Amt längst selber durch unso­li­da­ri­sche Selbst­dar­stel­lung abge­schafft hat.

GUT UND / ODER TEUER: UNSERE OPERN­HÄUSER

Das Kölner Opernhaus

Für kein Projekt in werden so viele Steuern verwendet, wie für die Sanie­rung der und des Schau­spiel­hauses. 841 Millionen Euro kostet die Sanie­rung bislang. Darauf weist der Bund der Steu­er­zahler in seinem aktu­ellen „Schwarz­buch“ hin, meldet der WDR. Zunächst war die Stadt von 253 Millionen Euro ausge­gangen. 2012 begann die Sanie­rung am Offen­bach­platz. Sie sollte ursprüng­lich im November 2015 abge­schlossen sein. Statt­dessen rechnet die Stadt jetzt damit, dass Oper und Schau­spiel­haus erst 2023 fertig werden. Da kann man in Berlin bei der Reno­vie­rung der Komi­schen Oper viel besser machen. Nun wurde bekannt­ge­geben, dass das Aachener Büro kada­witt­feld­ar­chi­tektur die Ausschrei­bung gewonnen hat. Sein Entwurf ist oben zu sehen.

DER CORONA-TICKER

Ach ja, Leute, bitte, auch wenn’s schwer ist, verliert nicht so leicht die Nerven! Das ist eher kontra­pro­duktiv! Wie soll man zusam­men­kriegen, wenn an einem Tag stolz wie Bolle postet, dass er auf zu sehen ist, um am nächsten Tag zu posten, dass beim ORF die „LÜGNER“ arbeiten, die aus Anti-Corona-Demons­tranten „Holo­caust­leugner“ machen würden. Fatal, aber ich bin da wie der ORF und stehe (so oder so) zu Groiss­böcks Sanges­kunst. +++ Während Inten­danten wie Niko­laus Bachler sich vehe­ment gegen einen Lock­down ausge­spro­chen haben, gibt es auch welche, die Einsicht haben – unter ihnen Chris­toph Lieben-Seutter, Inten­dant der : „Es ist zwar schade um die vielen schönen Konzerte im November, aber ich halte die Entschei­dung prin­zi­piell für den rich­tigen Weg, um die Pandemie in den Griff zu bekommen.“ – „Schade um die Konzerte?“ – Das ist alles? +++ Simon Rattle befürchtet, dass die Corona-Schlie­ßungen auch struk­tu­relle Folgen für die Klassik haben. Er befürchtet, dass viele junge Musiker gezwungen sind, sich andere Jobs zu suchen: „Dieser Exodus findet gerade statt und wird erst bemerkt, wenn es zu spät ist.“ +++ Enga­giert war in : Er zog die Première des Lohen­grin kurz­fristig vom 7. November auf den letzten mögli­chen Spieltag, den 1. November, vor. „Wann, wenn nicht jetzt?!“, sagte Schirmer. „Wir rollen am letzten Tag vor der erneut notwen­digen Schlie­ßung noch einmal den roten Teppich aus.

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Der an COVID-19 verstorbene Dirigent Alexander Wedernikow

Kompo­nist ist nun offi­ziell zum Präsi­denten des Kompo­nis­ten­ver­bandes ernannt worden. Glück­wunsch! Gleich­zeitig zeigt er, wie modernes Aufnehmen heute geht: Via Crowd­fun­ding soll sein „Fußbal­l­ora­to­rium“ auf CD kommen. +++ Wie nahe Covid der Klassik leider auch ist, hat der Tod von Diri­gent Alex­ander Weder­nikow gezeigt: Der auch in Berlin sehr präsente Musiker ist mit 56 Jahren auf der Inten­siv­sta­tion verstorben. The Strad ruft ihm nach. +++ Sebas­tian Ritschel wird künst­le­ri­scher Leiter des Thea­ters Regens­burg, neuer Finanz­di­rektor wird Matthias Schlo­derer. +++ Wir hatten ihn schon lange im Auge für den Job des neuen Concert­ge­bou­wor­kest-Chefs. Nun wird erst einmal Ehren­di­ri­gent des Orches­ters. +++ Till Brönner: Die sind euro­päi­sche Orchester, das wieder auf Asien-Tour geht. Im November sind die Musiker mit in . Dafür gehen sie einen Tag vor Abflug in Hotel-Quaran­täne in Wien und sind auf Tour kaum in Kontakt mit Einhei­mi­schen. 

UND NUN?

Auch, wenn die Politik offenbar nicht vom letzten Shut­down lernen wollte, da sie nicht zur Kenntnis nahm, dass Opern- und Konzert­häuser sicher sind und dass es unlo­gisch ist, sie zu schließen, während der Media­Markt offen bleibt (hier mein SWR-Kommentar dazu, einen Tag vor dem Shut­down-Beschluss), so sollte doch wenigs­tens die Klassik-Welt lernen. Es ist erstaun­lich, dass sofort wieder die alten Reflexe zuschlagen: „Warum kämpft das Publikum nicht für uns, warum steht es nicht auf?“, war irgendwo, fast belei­digt, zu lesen. „Ich finde, das sollten wir einklagen!“ Zuge­geben, die Frage nach dem passiven Publikum ist gut, und eine ehrliche Antwort wäre wichtig. Aber ein Publikum hilft eben nur dann, wenn es helfen will. Und wenn nicht, dann müssen wir um das Publikum kämpfen, statt es zu beschimpfen oder ihm gar eine Mitschuld zu geben! Ähnlich verhält es sich mit der andau­ernd zur Schau gestellten Künstler-Indi­vi­dua­lität. Während viele auf Face­book gerade den Banner „Ohne kUNSt&Kultur wird’s still“ unter ihre Fotos heften, fangen andere sofort an, diesen kollek­tiven Soli­da­ri­tätsakt klug­schei­ße­risch zu kriti­sieren: „Lächer­lich, es wird nicht nur still, sondern unsere kultu­relle Iden­tität ist in Gefahr“, oder „ich finde, Musik lässt sich nicht in Laut und Leise einteilen“, oder „der Satz ist falsch, die Stille ist Teil der Musik“. Ja, liebe Leute, und Ihr wundert Euch, warum keiner für Euch aufsteht? So wird das nix mit einer großen Bewe­gung! Dabei ist genau das das Fatale: Es gibt leider keine Künst­le­rInnen-Lobby, sondern nur sehr viele, persön­lich gekränkte und meinungs­starke Diven und Divos! 

Ach so, na klar – auch Kritik an der eigenen Posi­tio­nie­rung sollte legitim sein. Ich finde auch, dass Till Brönner das State­ment der Woche abge­geben hat! Klug. Gut in der Tona­lität. Und klar für alle! Aber es ist eben auch legitim, wie Tobi Müller in der Zeit zu fragen, wen genau Brönner mit den 1,5 Millionen Betrof­fenen eigent­lich meint: „Er redet mal von der Veran­stal­tungs­branche, mal von Solo­selbst­stän­digen. Selbst­stän­dige gibt es in rund 1,45 Millionen, in dieser Zahl stecken aber auch 116.000 Ärzte, 50.000 Zahn­ärzte, 124.000 Rechts­an­wälte (…). Aber was, wenn Lieber­berg und Brönner nur die Musik­wirt­schaft meinen? Dann wären es 127.000 Selbst­stän­dige, davon rund 50.000 Musi­ke­rinnen und Musiker laut einem Bericht des Bundes­ver­bands der Konzert- und Veran­stal­tungs­wirt­schaft.“ Dass Müller für diesen Text einen Shit­s­torm geerntet hat, finde ich jeden­falls: blöde. 

Künst­lern, Thea­tern und Orches­tern bleibt dieser Tage die Möglich­keit, sich noch besser aufzu­stellen als zuvor. Es ist absehbar, dass am Ende dieser Krise viel Gewohntes über Bord gehen wird (manches, weil es schon lange nicht mehr zeit­gemäß war). Viel­leicht haben wir diesen Sommer tatsäch­lich noch einmal gedacht, dass alles weiter­gehen könnte wie immer. DAS WIRD ES NICHT! Es macht Sinn, diese Verän­de­rungen jetzt voraus­zu­denken, sie mitzu­ge­stalten, um am Ende viel­leicht eine andere, aber nicht unbe­dingt schlech­tere Welt von Kunst und Kultur zu haben. Der schönste Spruch im ersten Lock­down kam von , der sagte, er habe immer Angst gehabt an Herz­in­farkt zu sterben und wisse, nun sei die Leber­zir­rhose wahr­schein­li­cher. Es ist wieder Lock­down-Zeit: Ein Wein­chen auf den Schock ist gut, aber nie war es so wichtig, nüch­tern und besonnen zu bleiben wie jetzt, da wir die Zukunft planen.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

P.S.: #SangUnd­Klanglos Ach so, heute, am Montag, den 2.11.2020 um 20 Uhr, ruft das Bündnis #Alarm­st­ufeRot und #SangUnd­Klanglos, unter anderem mit Unter­stüt­zung der , dazu auf, Videos, Live­streams und Beiträge zu veröf­fent­li­chen, die indi­vi­duell darge­stellt Stille zeigen und einen Moment „ohne klin­gende Kultur“ zu schaffen. Schweigen, um aufzu­hor­chen!