KlassikWoche 45/2022
Radio-Orchester unter Druck und ein schwarzer Gürtel
von Axel Brüggemann
7. November 2022
Die desaströsen Einsparungspläne von WDR-Intendant Tom Buhrow, die zweifelhafte Klassik-Kompetenz von Claudia Roth, der neue Film von Roland Emmerich.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute mit einer Grundsatzdebatte zu Radio-Orchestern, mit großen Klassik-Sparmaßnahmen in England, einer Musterklage gegen die Salzburger Festspiele und allerhand Personalien.
Der Anfang vom Ende der Radio-Orchester?
Das war ein Hammer, was WDR-Intendant Tom Buhrow da bei einer „privaten Rede“ in Hamburg gesagt hat. Klar, der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss neu gedacht werden – radikal und ohne Denkschranken. Und es muss gespart werden. Und da fielen Buhrow als erstes die 2.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der 16 Musikensembles der ARD ein. Und dieses Mal meint er es ernst, damals, als der NDR-Chor gerettet wurde, hätte man noch auf die Lobbys gehört. Damit soll nun Schluss sein. In Buhrows Rede heißt es: „Es gibt in Deutschland mehr als 120 Berufsorchester. So viele wie in keinem anderen Land. Die ARD unterhält insgesamt 16 Ensembles (…) Wollen die Beitragszahler das? Wollen sie es in dieser Größenordnung? Oder wollen sie ein Best-of? Das beste Sinfonieorchester, den besten Chor, die beste Big Band, das beste Funkhausorchester?“ Aber brauchen wir den Rundfunk für „Best-of“ – haben wir das nicht schon mit den Berliner Philharmonikern? Buhrow ist ein Kulturbanause, umso erschreckender, dass er auch ein bisschen recht hat: Viele Orchester haben es versäumt, ihre Aufgabe zu definieren – was unterscheidet sie von den städtischen Philharmonien? Warum spielen ARD und ZDF im Hauptprogramm zu Silvester Berliner Philharmoniker und Staatskapelle Dresden statt Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks oder MDR-Sinfonieorchester? Überhaupt: Warum werden die 16 Ensembles im Programm so schlecht abgebildet, wäre mehr musikalische Bildung im Radio, eine Radio-Oper, mehr Konzert-Streams nicht die Grundlage für die Legitimation der Orchester?
Und dann ist da noch das Problem mit der Glaubwürdigkeit. Kann der NDR seriös über die Elbphilharmonie berichten, die er zum großen Teil mitfinanziert, der SWR sich journalistisch kritisch mit dem Fall Teodor Currentzis auseinandersetzen? Offensichtlich: nein. Passend dazu: Warum wurden die AfD-Angriffe von Danger Dan aus dessen Opus-Klassik-Rede geschnitten? Angst regiert den Rundfunk, erklärte schon Klassik-Doku-Regisseur Enrique Sánchez Lansch, als er mit arte-Chef Wolfgang Bergmann im Podcast „Alles klar, Klassik?“ über die Musik im Fernsehen gesprochen hat. Dabei ist es gerade in Zeiten, in denen der öffentlich-rechtliche Rundfunk von den parteipolitischen Rändern in Frage gestellt wird, wichtig, mit Transparenz, Offenheit, journalistischer Glaubwürdigkeit zu antworten – und, ja, auch mit Selbstkritik und Reformen. Sehenswert dazu auch Jan Böhmermanns Neo Magazin Royal, das einige Tage nach Buhrows Rede herauskam. Es könnte sein, dass Buhrows Rede der Anfang vom Ende der öffentlich-rechtlichen Orchester ist. Es könnte aber auch sein, dass sie eine längst überfällige Debatte lostritt. Meine persönlichen Gedanken habe ich am Tag nach Buhrows Rede im Video (siehe oben) sortiert.
Sparmaßnahmen in England
In England macht die neue Regierung bereits vor, wie schnell und erbarmungslos an der Kultur gespart werden kann. Die neuen Ankündigungen dürften das Ende der English National Opera in London (ENO) einläuten. Ihr sollen die kompletten 12,6 Millionen Pfund Förderung gestrichen werden. Stattdessen bekommt sie 17 Millionen Pfund, um sich in den kommenden drei Jahren neu zu erfinden.
ENO-Chef Stuart Murphy zeigte sich überrascht, weil seine Oper gerade für junge Menschen da sei. Nun überlegt er, das Haus nach Manchester umzuziehen. Auch andere britische Klassik-Institutionen sind von Kürzungen unter der neuen Regierung betroffen: Glyndebourne Productions in Sussex wurde bereits die Hälfte der Förderung gestrichen, die Welsh National Opera verlor ein Drittel der Staatsgelder, in Covent Garden wurde um zehn Prozent gekürzt.
Claudia Roths Klassik-Kompetenz
Sicher ist, dass Kulturstaatsministerin Claudia Roth regelmäßig Klassik-Konzerte und Opern besucht, aber die einstige Ton-Steine-Scherben-Groupie scheint in Sachen Klassik nicht sonderlich parkettfest zu sein. Das jedenfalls schreibt FAZ-Mann Jan Brachmann, nach Roths Rede zu Felix Mendelssohn Bartholdys 175. Todestag in Leipzig. Unter anderem fragt er, „wie kann die Ministerin für Kultur behaupten, dass Mendelssohns Musik nach dessen Tod ‚für fast hundert Jahre aus dem Musikleben verschwand‘?! Es ist ja gerade bezeichnend, dass Wagners Pamphlet für den Geschmack des Publikums, aber auch für die ästhetische Ausrichtung der Hochschulen in Leipzig wie in Berlin weitgehend wirkungslos blieb. Das deutsche Publikum – und selbst die Salon-Antisemiten darunter – liebte Mendelssohns Violinkonzert, die Italienische und Schottische Sinfonie, seine Schauspielmusik zu Shakespeares Sommernachtstraum, zu deren Hochzeitsmarsch landauf, landab geheiratet wurde.“ Das letzte Mal trat Roth öffentlich ins Fettnäpfchen, als sie ausgerechnet den Bayreuther Festspielen, die mit Kinderoper, Oper im Kino und kostenlosen Open-Airs so etwas wie Pioniergeist bewiesen haben, vorwarf, publikumsfern zu sein.
Personalien der Woche I
Was macht Dirigent Andris Nelsons eigentlich wirklich stolz? Sein neuer schwarzer Taekwondo-Gürtel, den er mit seinem Trainer und Meister in Boston bei Twitter zeigt! +++ Letzte Woche habe ich auf Twitter noch gefragt, was es über die Bedeutung der Klassik aussagt, dass junge Umweltschützer sich lieber in Museen an Bilder kleben als Konzerte zu stören. Ich weiß nicht, ob die Leute von Extinction Rebellion Newsletter-AbonnentInnen sind, auf jeden Fall haben sie nun in Amsterdam auch das Konzertwesen ins Visier genommen und störten eine Aufführung von Giuseppe Verdis Messa da Requiem im Concertgebouw.
Die Sopranistin Camilla Nylund wird neue Trägerin des Lotte-Lehmann-Gedächtnisringes. Die gebürtige Finnin erhält die Ehrung am kommenden Mittwoch im Anschluss an die Ariadne auf Naxos-Vorstellung an der Wiener Staatsoper auf offener Bühne. +++ „Ich muss übrigens gar nicht mehr Chef sein“, erklärte Christian Thielemann Markus Thiel vom Merkur auf die Frage, ob er Nachfolger von Daniel Barenboim an der Staatskapelle in Berlin werden könne. Understatement oder Überzeugung? Bereits im großen Podcast-Sommer-Interview erklärte der Dirigent, dass das Freisein ihm durchaus guttue.
Musterklage gegen die Salzburger Festspiele
Es könnte nun auch juristisch ernst werden für Markus Hinterhäuser und die Salzburger Festspiele. Nach dem sommerlichen Eiertanz um Russen-Sponsoring und Currentzis-Engagement droht nun eine Musterklage gegen die Festspiele wegen Verletzung des Theaterarbeitsgesetzes (es geht u.a. um die Auslagerung von künstlerischem Personal und mangelnde Abgeltung der Proben), um unterschiedliche Entlohnung von Chormitgliedern bei gleicher Leistung und um den Vorwurf der Verletzung der Zahlungspflicht. Kammersänger Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Pianist Florian Krumpöck, Chorsänger Martin Thoma-Stammler und Rechtsanwalt Georg Streit wollen ihr Klage-Prozedere kommenden Freitag auf einer Pressekonferenz in Wien vorstellen. Außerdem geht es um die Erläuterung des Konzeptes einer KünstlerInnenkammer, um deren rechtliche Vertretung zu gewährleisten, Mindeststandards in den Verträgen und Mindestgagen auszuhandeln.
Personalien der Woche II
Filmregisseur Roland Emmerich präsentiert Ende November einen neuen Kinofilm: Das Vermächtnis der Zauberflöte. Eine Mischung aus Harry Potter und Schule der magischen Tiere. Im Musik-Internat gibt es es einen zauberhaften Weg in die Welt der Zauberflöte, wo ein junger Sänger Taminos Abenteuer bestehen muss. Hopp oder Flopp? Das ist im Trailer noch nicht wirklich zu erkennen. +++ So langsam steigt man durch die Termine von Teodor Currentzis und musicAeterna nicht mehr durch: Der in Baden-Baden und Dortmund geplante Tristan wird nun ein Verdi-Requiem, der Tristan am Konzerthaus in Wien am 23. November wurde schon vor einiger Zeit abgesagt, stattdessen werden Dirigent und Orchester an diesem Tag nun im Funkhaus Berlin angekündigt. Was für ein Hickhack. Das Internationale Festival von Colmar hat Alain Altinoglu zum künstlerischen Leiter ernannt. +++ Zunächst wurden die Konzerte von Daniel Barenboim beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks abgesagt, nun muss auch Zubin Mehta seine Auftritte absagen – auf Grund von akutem Erschöpfungszustand. James Gaffigan, Daniel Harding und Iván Fischer übernehmen. Alles Gute, Zubin Mehta! +++ Ebenfalls in der FAZ war diese Woche ein Gespräch zwischen Max Nyffeler und Dirigent Iván Fischer zu lesen. Seit 2018 leitet er ein Opernfestival in Vicenza. Fischer sucht einen neuen Weg zwischen politischem Deutungstheater und Museums-Inszenierungen: „Das sogenannte Regietheater ist für mich total passé“, sagt er. „Das haben wir fünfzig Jahre lang gehabt. (…) Mich interessiert: die Integration der verschiedenen Komponenten, wie bei den alten Griechen. Und deshalb bin ich hier im Teatro Palladio.“
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn. Vielleicht hier: Wo ist man, wenn man Musik hört – wahrscheinlich: vollkommen in Musik, umgeben von Musik. Und gleichzeitig: ganz bei sich. Intim. Diese Momente der Nähe zeigt der obige YouTube-Zusammenschnitt von Dirigenten, die vor dem Orchester die Stimme erheben – nicht, um zu korrigieren, sondern um zu singen. Sehenswert!
Und noch etwas Positives gibt es zu berichten. CRESCENDO ist nun auch auf Instagram. Regelmäßig Infos aus der Klassik, Links zu wichtigen Texten – nahe an den Musikerinnen und Musikern. Wir freuen uns, wenn Sie uns folgen.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
Axel Brüggemann
brueggemann@crescendo.de