Konstantin Krimmel

Bilder und eine Welt

von Ruth Renée Reif

23. August 2023

Der Bariton Konstantin Krimmel durchläuft eine beeindruckend steile Karriere. Sein Wirkungsfeld findet er in der Oper sowie im Lied- und Konzertgesang. Im Gespräch erzählt von bewegenden Erfahrungen und beglückenden Momenten.

CRESCENDO: Herr Krimmel, wir sitzen in der Baye­ri­schen Staats­oper, deren Mitglied Sie seit 2021 sind. Wie ist es für Sie, wenn Sie auf der Bühne singend eine Person darstellen? Sind Sie dann diese Person?

: In der Oper kommen zum Singen das Kostüm, das Bühnen­bild und die Kolle­gInnen hinzu, die an der Insze­nie­rung auch mitwirken. Das hilft mir, mich als den Charakter zu empfin – den, den ich verkör­pere. Zugleich bleibt aber auch die eigene Persön­lich­keit präsent. Das macht wohl die unter­schied­li­chen Sänge­rInnen einer Rolle aus.

Seit Beginn des Jahres 2023 proben Sie Hanjo von , eine faszi­nie­rende geheim­nis­volle Drei­ecks­ge­schichte. Wie haben Sie Zugang zur Figur des Yoshio gefunden?

Große Unter­stüt­zung hatte ich vom ehema­ligen Studi­en­leiter Donald Wages, der auch die Proben korre­pe­tiert. Er hat schon eine Insze­nie­rung des Stücks begleitet und verfügt über viele Erfah­rungen. Das ist das Schöne daran, dem Ensemble eines großen Hauses anzu­ge­hören. Für diese Musik mit ihren schwie­rigen Klängen und Akkord­folgen war es beson­ders wichtig. Als die szeni­schen Proben mit dem Regis­seur und den beiden Kolle­ginnen auf der Bühne begannen, war es ein Prozess des allmäh­li­chen Rein­kom­mens, ein Sich-Suchen im Stück: Wer bin ich in dem Gebilde? Wo führt mein Weg und der der einzelnen Figuren hin? Wir kamen alle von verschie­denen Punkten, fanden uns aber schnell in der gemein­samen Suche.

Hanjo mit Konstantin Krimmel und Charlotte Hellekant
Konstantin Krimmel als Yoshio und Char­lotte Helle­kant als Jitsuko Honda in der Oper Hanjo von Toshio Hoso­kawa

Die Oper basiert auf dem Nō-Thea­ter­stück Die getauschten Fächer von Yukio Mishima. Ist es schwer, dieses Verhal­tene auszu­drü­cken, in dem Gefühle unter der Ober­fläche bleiben?

Die Schwie­rig­keit besteht darin, der sphä­ri­schen und medi­ta­tiven Musik gerecht zu werden und trotzdem die psychi­schen Vorgänge, die sich zwischen den Figuren abspielen, zum Ausdruck zu bringen. Das sind kleine Bewe­gungen, manchmal nur das Drehen des Kopfes. Noch proben wir mit Klavier. Bei der Auffüh­rung im Haus der Kunst sitzt das Orchester, das mit üppigen Schlag­werk­in­stru­menten besetzt ist, eben­falls auf der Bühne. Das wird vor allem für die zart gestal­teten gespro­chenen Texte eine klang­lich neue Erfah­rung.

Konstantin Krimmel und inter­pre­tieren das Lied Die Insel von .

Eine weitere bedeu­tende Facette Ihrer Kunst ist der Lied­ge­sang. Mit der Pianistin Hélène Grimaud haben Sie das Album „Silent Songs“ aufge­nommen. Es enthält Valentin Silvestrovs Verto­nungen elegi­scher Gedichte von Alex­ander Puschkin, dem mit ihm befreun­deten Jewgeni Bara­tynski und Ossip Mandel­stam. Wie haben Sie sich in diese Welt hinein­ge­funden?

Ich bin kurz­fristig in das Projekt einge­stiegen. Aber ich habe mich der Aufgabe sehr gern gestellt, mit dieser gran­diosen Künst­lerin zu singen und aufzu­nehmen. Als ich die Musik zum ersten Mal hörte, war ich unfassbar begeis­tert. Es gibt melo­diöse und abstrakte Passagen, und es scheint, als hätte man Silvestrov in der Romantik einge­froren und heute wieder aufge­taut.

Aus dem gesamten Zyklus von 24 Liedern haben wir zwölf aufge­nommen. Sie stehen alle in einer großen Piano-Stim­mung. Es ist eben­falls eine sphä­ri­sche, still stehende Musik. Sie vermit­telt den Eindruck, als stünden auch außer­halb der Gedichte die Welt und die Zeit still. Jede Verto­nung soll so zart und zurück­hal­tend wie möglich gesungen werden. Das ist eine Heraus­for­de­rung ange­sichts ihres stimm­li­chen Umfangs. Man muss tech­nisch gut trai­nieren, um das zu schaffen.

Die Aufnahme erfolgte im August 2022 in einer ehema­ligen Turbi­nen­halle am Stienitzsee bei Berlin. Beton und Holz sind groß­ar­tige Schall­leiter, und so konnten wir viel mit der Balance, der Dynamik und dem Klang auspro­bieren. Schwierig war die Sprache, weil ich kein Russisch spreche. Aber ich hatte eine Russin als Coachin, die auch für die Oper arbeitet und daher wusste, wie man mit dem Atem und lang gedehnten Worten umgeht, wie man Vokale färbt und Beto­nung setzt. Bei einem Konzert in Berlin war Silvestrov eben­falls anwe­send, und das ist ein beson­deres Erlebnis, wenn der Kompo­nist, dessen Musik man singt, am Ende neben einem auf der Bühne steht.

Konstantin Krimmel

»Es muss nicht jeder Kunst verstehen. Man kann sich auch einfach nur berührt fühlen«

Von Sergej Jessenin ist das berühmte Herbst-Gedicht aus dem Jahr 1914 auf dem Album. In dem bild­ge­wal­tigen Gedicht kratzt der Herbst, „die rote Stute“, seine Mähne, und „der MönchWind“ küsst am Eber­eschen­strauch „die roten Wunden des unsicht­baren Christus“. Können Sie diese Verbin­dung von Natur­er­fah­rung und reli­giösem Erleben nach­emp­finden, oder muss man das als Inter­pret gar nicht?

Ich habe solche Bilder in Wirk­lich­keit noch nicht gesehen. Aber man muss als Inter­pret nicht unbe­dingt reli­giös sein oder diese verschie­denen Natur­bilder selbst gesehen haben, um die Aussage des Gedichts nach­emp­finden zu können. Das Schöne an Gedichten ist, dass uns in Form von Texten eine Welt und Bilder eröffnet werden, die wir vor dem inneren Auge durch­leben oder einfach nur präsen­tieren können. Mir gelingt es gut, mich in die Texte hinein­zu­ver­setzen und mir auch vorzu­stellen, wie es sich für Valentin Silvestrov anfühlen muss, wenn er diese Gedichte liest und seine Musik schreibt.

Ein Kritiker schrieb über Ihre „inter­pre­ta­to­ri­sche Tiefe“. Was braucht es, um diese Tiefe zu errei­chen?

In erster Linie sind uns die Musik und der Text gegeben. Ich schaue mir immer zuerst den Text an. Bei den Silvestrov-Verto­nungen war es eine Über­set­zung. Ich habe mir von meinem Coach die Lieder auch wört­lich über­setzen lassen. Zudem halfen mir die Erfah­rungen von Hélène Grimaud, die schon einige Kompo­si­tionen für Klavier solo von Silvestrov gespielt und sich mit seinem Leben ausein­an­der­ge­setzt hat. Ich habe alles aufge­saugt, was mir gegeben wurde, und versucht, daraus etwas zu gestalten.

Konstantin Krimmel und Hélène Grimaud inter­pre­tieren das Lied Welt, leb wohl … von Valentin Silvestrov und Taras Schewtschenko.

Das Album enthält auch ein Gedicht von Taras Schewtschenko, der als Begründer der modernen ukrai­ni­schen Sprache gilt. Es entstammt dem Verspoem Ein Traum, das aufgrund seines aggres­siven poli­ti­schen Charak­ters zu Lebzeiten Schewtschenkos nicht erscheinen konnte. Das wirft die Frage auf, ob dieses Album auch poli­tisch zu verstehen ist.

In der jetzigen Zeit liegt der Gedanke nahe. Zwar hat Silvestrov die Lieder schon lange vor diesem schreck­li­chen Krieg kompo­niert, aber sicher schwingt da etwas Poli­ti­sches mit. Politik ist immer dabei, auch in jedem Schu­bert-Lied oder Goethe-Gedicht. Wir als Inter­pre­tInnen haben die Aufgabe, der Musik den Vortritt zu lassen. Darüber, was Silvestrov oder die Dichter sich gedacht haben, maße ich mir kein Urteil an.

„Die Aufgabe von uns Künst­lern besteht darin, die Menschen daran zu erin­nern, dass wir eben auch eine sehr roman­ti­sche, natur­ori­en­tierte und damit huma­nis­ti­sche Seite in uns allen besitzen sollten“, sagte in einem Gespräch. Stimmen Sie dem zu?

Ja, gerade während der Pandemie, als so rigoros in der Kunst und Kultur gestri­chen wurde, weil es doch ohnehin ein Über­an­gebot gebe, dachte ich oft: Wenn wir das ernst nehmen und Kunst und Kultur komplett strei­chen, und sei es nur für einen Tag, gäbe es kein Fern­sehen, kein Netflix, kein Radio und kein Internet. Die Menschen, die eine solche Aussage treffen, vergessen, wo Kunst und Kultur überall drin­ste­cken. Ohne Kunst und Kultur wäre es sehr still und einsam auf der Welt. Denn wir haben diese roman­ti­sche Ader, von der Quast­hoff spricht. Es muss nicht jeder Kunst und Kultur verstehen. Man kann sie auch einfach nur annehmen, sich berührt fühlen und freuen, dass wir in unserem Land einen solchen Schatz und eine solche Viel­falt an Kunst und Kultur haben.

Konstantin Krimmel und inter­pre­tieren das Lied Das Wandern aus dem Zyklus Die schöne Müllerin von .

Das Lied sei die schönste Kunst­form, haben Sie einmal gesagt. Tatsäch­lich erlebt der Lied­ge­sang derzeit einen Boom. Das war vor 100 Jahren bereits so, und auch nach dem Zweiten Welt­krieg gab es große Begeis­te­rung für den Lied­ge­sang. Hat das etwas mit dem Lebens­ge­fühl der Zeit zu tun?

Es hängt mit der Zeit zusammen, aber auch mit den Sänge­rInnen, die zu der jewei­ligen Zeit leben. Zur Zeit Fischer-Dieskaus gab es zwei Hand­voll Sänge­rInnen, die in dem Genre viel leis­teten. Danach kam es wieder zu einem Bruch. Lied­ge­sang ist eine große Heraus­for­de­rung, weil die Stimme etwas Persön­li­ches und Geschmack­li­ches ist. Es kann einem eine bestimmte Stimme oder ein Stimm­fach nicht gefallen. Das Lied ist abhängig von Text­ver­ständ­lich­keit, der bei Sopranen eine physi­ka­li­sche Grenze gesetzt ist. Ab einer gewissen Höhe ist es tech­nisch nicht mehr möglich, den Text zu arti­ku­lieren und klare Vokale zu singen. Gegen­wärtig gibt es fantas­ti­sche Kolle­gInnen, die in die Lied­gat­tung und den Lied­ge­sang frischen Wind bringen. Das freut mich sehr, und ich hoffe, dass dieser Aufschwung anhält und dem Lied weiterhin eine Bühne gegeben wird.

Konstantin Krimmel

»Ich bin unglaub­lich glück­lich mit dem, was ich tue!«

Wie gehen Sie um mit der Tradi­tion des Lied­ge­sangs? Ist er eine Bürde?

Vorbilder wird es immer geben. Wenn man sich einen Zyklus wie Winter­reise vornimmt, hat jeder im Publikum eine Version im Hinter­kopf, manchmal auch eine Lieb­lings­ver­sion von einem bestimmten Sänger. Da kann man nur hoffen, dass sich das Publikum trotzdem öffnen kann und dem hingibt, was man ihm bietet. Auch ein und derselbe Sänger singt den Zyklus mit 30 anders als mit 40 oder 50 Jahren, weil die Lebens­er­fah­rung eine Inter­pre­ta­tion einfärbt.

„Schlimmer als Revo­lu­tion, die zuzeiten notwendig sein mag, ist Pseu­do­re­vo­lu­tion, mit der nur allzu oft Stagna­tion kaschiert werden soll“, erklärte der bereits erwähnte Fischer-Dieskau. Wie beur­teilen Sie all die Projekte, mit denen Menschen in klas­si­sche Konzerte gelockt werden sollen?

Es gibt sehr gute Ansätze und span­nende Projekte, aber auch Projekte, die mir nicht zusagen, selbst wenn sie erfolg­reich sind. Ich bin auf jeden Fall offen. Gerade beim Lied­ge­sang kann man durchaus wegkommen von der klas­si­schen Konzert­form mit der Bühne und dem Abstand zum Publikum. Eine überaus berüh­rende Erfah­rung hatte ich mit dem Ensemble Pygma­lion und Raphaёl Pichon 2021 in Bordeaux. Es gibt da einen U‑Boot-Bunker der Nazis, bei dessen Bau unge­heuer viele Zwangs­ar­beiter starben. Er besteht aus vier riesen­großen Hallen, die jeweils zur Hälfte unter Wasser stehen. Und in diesem Bunker haben wir Ein deut­sches Requiem von aufge­führt. Dabei erlebte ich zum ersten Mal, was für ein guter Schall­leiter Beton ist und wie unter­stüt­zend er für die Entwick­lung eines Raum­klangs wirkt. und ihr Mann, der Regis­seur Jochen Sandig, erar­bei­teten ein szeni­sches Konzept. Das Publikum saß oder stand in einer der Hallen, und die Ensem­ble­mit­glieder standen mitten­drin und fingen plötz­lich an zu singen. Diese intime Nähe zu den Sänge­rInnen und zur Musik war für alle ein bewe­gendes Erlebnis. Von solchen Projekten bin ich begeis­tert und wünsche mir, dass es mehr davon gibt.

Konstantin Krimmel und das Ensemble Pygmalion
Konstantin Krimmel und das Ensemble Pygma­lion bringen in einem ehema­ligen U‑Boot-Bunker der Nazis in Bordeaux Ein deut­sches Requiem von Johannes Brahms zur Auffüh­rung.

Sie kennen die Welt der Klassik auch in anderen Ländern. Ist das Publikum immer von der glei­chen Art?

Ich hatte kürz­lich einen Auftritt in der Londoner Wigmore Hall, und da stellte ich fest, dass das Publikum jünger ist als hier. Es finden ja viele Versuche statt, Formate zu kreieren, um ein junges Publikum anzu­spre­chen. Aber in England und auch in Spanien kommt dieses junge Publikum in die Konzerte, ohne dass man sich verrenkt und gezwungen bemüht, etwas Neues zu gestalten. In Madrid gibt es im Teatro de la Zarzuela eine Lieder­reihe, in der Programme mit nur deutsch­spra­chigen Liedern ange­boten werden. und traten in ihr auf, und die jungen Spanier sind begeis­tert von dieser Kunst­form. Die Reihe hat 800 Abon­nenten. Aber die Veran­stalter gehen auch das Risiko ein, dass der Saal mal nur zu einem Drittel gefüllt ist. Eines der Geheim­nisse für den Erfolg ist, etwas einfach zu beginnen. Es gibt so viele tolle Lied­sän­ge­rInnen. Man muss ihnen nur eine Platt­form geben. , der Inten­dant der Frank­furter Oper, hat eine Lieder­reihe ins Leben gerufen, und er erzählte, wie mühsam es die ersten Jahre gewesen sei, das Publikum dafür zu gewinnen. Heute ist das Parkett voll besetzt, wenn ein Lieder­abend statt­findet.

Sie sind deutsch-rumä­ni­scher Abstam­mung und können auch Rumä­nisch. Wie empfinden Sie die Präsenz oder eher Absenz rumä­ni­scher Kompo­nisten auf den Spiel­plänen?

Ich komme selbst erst langsam dazu, mich mit rumä­ni­schen Kompo­nis­tInnen zu befassen und mehr zu entde­cken. In der Wigmore Hall habe ich Lieder gesungen, die Eusebie Mandy­c­zewski auf Texte des rumä­ni­schen Dich­ters Vasile Alec­sandri kompo­nierte. Mandy­c­zewski stammte aus Czer­no­witz in der heutigen West­ukraine, hatte polni­sche und rumä­ni­sche Wurzeln und gehörte zu den Initia­toren der ersten Gesamt­aus­gaben der Werke Haydns, Schu­berts und Brahms«. Das Konzert fand begeis­terte Aufnahme. Zufällig wurde es vom rumä­ni­schen Natio­nal­sender über­tragen, und in der Folge bekam ich Anre­gungen rumä­ni­scher Kompo­nis­tInnen, die auch Lieder geschrieben haben und mir ihre Arbeiten schickten. So habe ich jetzt viel neues Mate­rial.

Ist der Kanon der Werke, die es in die Programme schaffen, gene­rell zu eng?

Programme, die nur Unbe­kanntes enthalten, haben es schwer, ein Publikum zu finden. Es müsste gelingen, einen roten Faden zu finden und einen Bogen zu schlagen zwischen Bekanntem und Unbe­kanntem. Das könnte ein Weg sein, das Inter­esse des Publi­kums zu wecken.

Sie würden eher an Planung als an Vorse­hung glauben, sagten Sie einmal. Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus?

Ich bin unglaub­lich glück­lich mit dem, was ich tue! Es ist wunder­voll, wo ich überall singen und spielen und auftreten darf. Ich kann nur hoffen, dass sich die musi­ka­li­schen Erfül­lungen, die ich auf verschie­denen Platt­formen mit Konzert, Orato­rium und Oper genießen darf, weiter­ent­wi­ckeln und Neues kommt.

Fotos: Wilfried Hösl, Flo Huber und Guido Werner, Fred Mortagne