Ludwig van Beethoven
Ich wünsche mir den wütenden, kranken, kämpfenden Komponisten
von Ruth Renée Reif
26. November 2019
2020 werden wir Beethoven wie einen Popstar feiern. Aber würden wir ihn auch lieben, wenn er plötzlich unter uns wäre?
Ludwig van Beethoven – was für eine Marke! Und was für eine Geburtstagssause. 2020 steht ganz im Zeichen des „Ta-Ta-Ta-Taaaaa“-Komponisten. Happy birthday, Beethoven, der unsere Telefonschleifen mit Klaviermusik Für Elise vertont und dessen Schiller-Chor Politiker der ganzen Welt entzückt hat. Seine Geburtsstadt Bonn und seine Wahlheimat Wien werden „BTHVN“ feiern und all ears „on Vienna“ richten. Die Wiener Philharmoniker heben Beethoven schon am ersten Tag des neuen Jahres im Goldenen Saal des Musikvereins auf das Programm, die gelbe Post der DHL steckt ein ganzes Beethoven-Museum in einen Karton, und in Wien wird Beethoven sogar „im Gemeindebau“ gesucht. Schauspieler Tobias Moretti wird das wahnsinnige Genie im ARD-Spielfilm verkörpern, Christoph Waltz den Fidelio im Theater an der Wien inszenieren, Igor Levit spielt die 32 Sonaten in Salzburg, Jan Lisiecki die fünf Klavierkonzerte für die Deutsche Grammophon, und Rudolf Buchbinder hat neue Diabelli-Variationen in der ganzen Welt in Auftrag gegeben. Wir werden Kulturschaffende, Popstars und Politiker hören, die Beethovens Größe, seine visionäre Musik und seinen Humanismus feiern. 2020 ist das „Roll over Beethoven“-Jahr, und man kann nur hoffen, dass wir uns bis zu seinem wirklichen Geburtstag im Dezember 2020 nicht längst taub an ihm gehört haben.
Beethoven steht für alles Gute und Hehre
Ich erinnere noch das letzte große Mozart-Jahr: Damals ist es gelungen, nicht allzu viel Marzipan und Zuckerguss aufzutischen, sondern auch den unbekannten Mozart zu entdecken. Am Ende wurde uns sogar eine Rechnung aufgetischt, die den aktuellen Marktwert des Komponisten errechnet hat. Das Ergebnis war, dass der Wert der Marke Mozart sich im Bereichen von Apple, Amazon oder Nike messen ließ und auf fünf Milliarden Euro geschätzt wurde. Ganz so viel dürfte bei Beethoven nicht zusammenkommen, aber allein der Ausblick in diesem Heft auf das Jubiläumsjahr 2020 stellt unter Beweis: Nicht nur für Bonn und Wien ist der Komponist pures Geld wert, auch für jedes Orchester und für jeden Politiker, der gern das Miteinander aller Menschen anpreist. Beethoven steht für alles Gute und Hehre. Zuletzt war es Emmanuel Macron, der sich im Hof von Versailles in Paris zum Präsidenten küren ließ, natürlich mit einem Europa-Bekenntnis in Form von Beethovens Neunter.
Bei so viel vorbehaltlosem Jubel muss die Frage gestattet sein, ob jener Beethoven, den wir im kommenden Jahr so ausgiebig feiern, in unserer Zeit überhaupt eine Chance gehabt hätte. Es ist leicht, einen Toten zu beweihräuchern. Aber nehmen wir mal an, er wäre wirklich wieder da: Mich würde schon interessieren, wie der Klassikbetrieb, das Klassikpublikum, die Klassikveranstalter und wie Politiker aus aller Welt heute auf einen Menschen wie Beethoven reagieren würden. Würden wir ihn wirklich vorbehaltlos lieben und verehren? Oder würde er einigen dann doch eher Angst einjagen? Und vor allen Dingen: Würde er es sich gefallen lassen, von uns umarmt zu werden?
33 unspielbare Variationen
Nehmen wir den späten Beethoven, jenen der Diabelli-Variationen, der letzten Werke. Als der Verleger Anton Diabelli 50 österreichische Musiker bat, eine Variation für seinen eher schlichten Walzer zu komponieren, lieferte Beethoven ihm – nach vier Jahren Arbeit – nicht eine, sondern 33 Variationen. 33 Variationen, die für die damalige Zeit vollkommen unspielbar waren! Eigentlich wollte Diabelli mit seinem Variationsband Geld verdienen. Was aber sollte er mit Noten anfangen, die hauptsächlich eine intellektuelle, mathematisch-ästhetische Hausarbeit über die Möglichkeiten der Musik, über harmonisches Neuland und die theoretische Befragung der Musikgeschichte von Bachs Wohltemperiertem Klavier bis zu Mozarts Don Giovanni waren? Es sollte 30 Jahre lang dauern, bis Beethovens Variationen zum ersten Mal von Hans von Bülow öffentlich aufgeführt wurden – lange nach Beethovens und Diabellis Tod.
Würden wir uns ein vergleichbares Szenario heute vorstellen, wäre es so, als würde die Deutsche Grammophon Max Richter beauftragen, sich mit Vivaldis Vier Jahreszeiten zu beschäftigen, und statt den Barockklassiker zu einem banal-populären Klassik-Ambient-Sound einzudampfen, hätte Richter für in vier Jahren Noten versprochen, für die es noch gar kein Instrument gibt. Unvorstellbar, dass – egal welches – ein Label einem derartigen Komponisten heute eine Chance gebe.
Die Tore zur Atonalität
Wir vergessen oft, dass Beethoven nicht nur der Komponist der neun Sinfonien, der fünf Klavierkonzerte, der Erfinder des Fidelio und der Klavierlehrer von Für Elise war. Beethoven hat in seinen späten Quartetten, in den Diabelli-Variationen oder der Missa Solemnis vollkommen neue Wege eingeschlagen, hat die Tore zur Atonalität geöffnet und die Möglichkeiten der Spielkunst, aber auch der Zuhörbereitschaft seiner Zeit kompromisslos gesprengt. Musiker und Konzertveranstalter feiern heute gern den Visionär Beethoven. Aber ob sie Anfang des 19. Jahrhunderts bereit gewesen wären, diesem Komponisten Auftrittsmöglichkeiten zu gewähren? Mussten sie nicht, denn Beethoven hat die meisten Konzerte auf eigenes Risiko veranstaltet.
Beethoven, der heute besonders vom Bildungsbürgertum als Ideal dargestellt wird, war alles andere als ein einfacher Zeitgenosse. Er hatte das Talent, Salons zu sprengen, und fand – anders als Goethe –, dass er nicht einmal Königinnen den Weg freigeben müsse. Seine Briefwechsel mit Verlegern und Veranstaltern sind legendär: Beethoven hat gebettelt und gedroht, seine Auftraggeber gegeneinander ausgespielt – und dabei vollkommen neue Möglichkeiten der Rechteverwertung gefunden. Unter anderem bot er adeligen Gönnern eine Exklusivfrist für einige Werke an, bevor er sie dann in Druck gab (und somit doppelt und dreifach verdiente). Auch dieses Gefeilsche würden sich heute wohl nur wenige Verlage gefallen lassen.
Anders als der Popstar Mozart lebte Beethoven eher zurückgezogen, war ein Messie, kümmerte sich nicht um die leeren Weinflaschen in seinem Zimmer, litt an seiner Ertaubung und war immer wieder frustriert – entweder über seinen Zustand (Heiligenstädter Testament) oder über seine Liebessituation (Brief an die unsterbliche Geliebte). Selbst die Art, wie er Musik schrieb, unterschied sich grundsätzlich von jener Mozarts: Dessen Zauberflöten-Autograf scheint wie aus einem Gedanken auf das Papier geflossen zu sein. An manchen Stellen löst sich die Tinte inzwischen auf – es handelt sich an diesen Stellen um mit Rotwein verdünnte Farbe. Mozart war berauscht und kippte einfach nach, als er komponierte.
Beethoven feiern oder feuern
Man kann davon ausgehen, dass auch Beethoven dem Alkohol zugesprochen hat – die Autopsie seines Körpers lässt auf jahrelangen, übermäßigen Alkoholkonsum schließen. Aber keine seiner Kompositionen ging ihm leicht von der Hand: Er skizzierte Ideen, trug sie oft jahrelang umher, um sie irgendwann zu einem Werk wachsen zu lassen, das er in verschiedenen Kompositionsschritten in verschiedenen Farben immer wieder bearbeitete. Nicht selten kratzte Beethoven so oft auf seinen Noten herum, dass er Löcher ins Papier riss. Man kann sagen: Beethoven ritzte seine Werke in die Zeit, und seinen Handschriften ist der Widerstand anzuhören, den seine Musik hervorrief – der Akt, sich an der Welt zu reiben! Und erneut stelle ich die Frage: Wer würde einen derart bohrenden Künstler, einen, der alle Konventionen der Gegenwart infrage stellt, heute ernsthaft aushalten? Ich habe Zweifel daran, ob wir einen Beethoven heute feiern oder nicht doch eher feuern würden.
Ich habe auch Zweifel daran, ob die Politiker, die sich seit jeher gern mit Beethoven schmücken, in Wahrheit Gefallen an einem Zeitgenossen wie ihm gefunden hätten. Beethoven war einer der ersten wirklich selbstständigen Künstler. Seine Auftraggeber kamen aus dem Adel und dem Bürgertum. Sie verlangten von ihm das Neue, das Unerhörte: größer, länger, lauter als alles, was je für Könige, Kaiser und Kirche geschrieben wurde. Natürlich konnte sich auch Beethoven nicht der Tagespolitik entziehen, natürlich veranstaltete er – ganz Geschäftsmann – auch musikalische Akademien, als in Wien der Kongress tanzte. Und genauso natürlich komponierte er auch für Kaiser, Könige, Erzherzöge und Zaren. Aber Beethoven ging nicht um jeden Preis einen Pakt mit der Politik ein – siehe die Widmung seiner Eroica, der Dritten Sinfonie, für Napoleon, die er nach der Kaiserkrönung des Korsen wieder zurückzog, angeblich mit dem Satz, der neue Kaiser sei eben auch nicht anders als alle anderen.
Mich würde interessieren, was Beethoven jenen Politikern gesagt hätte, die seine Musik für ihre Zwecke gespielt haben. Wie gern wäre ich Mäuschen gewesen, wenn er Hitler erklärt hätte, seine Neunte sei nicht dazu gedacht, Kriegsinvaliden zum Geburtstag des „Führers“ zu überwältigen. Und erst recht nicht, um die arische Überlegenheit deutscher Kunst zu argumentieren. Beethoven wäre aber nicht nur über die Nazis sauer gewesen. Wie hätte er Chavez in Venezuela die Leviten gelesen, dessen „El Sistema“-Orchester seine Werke immer wieder als Verkörperung des Humanismus auf das Programm gehoben hat? Ich bin auch nicht sicher, wie Beethoven auf Emmanuel Macrons Pariser Präsidentschaftsfeier mit der Neunten reagiert hätte – auch wenn seine Musik dabei als Symbol eines bürgerlich-demokratischen Europas benutzt wurde und als Gegenpol zur Macron-Rivalin Marine Le Pen.
Sicher bin ich, dass Beethoven, der sich nicht gern übers taube Ohr hauen ließ, ein ernstes Wort mit Herbert von Karajan gewechselt hätte, der einst die Kurzversion der Neunten ohne Chor aufnahm – jener Musik, die heute als Europahymne bekannt ist. Zweifellos würde Beethoven darauf pochen, an den Tantiemen beteiligt zu werden.
Viele neue Blickwinkel
Wir stehen kurz vor den Jubelfeiern zum 250. Beethoven-Geburtstag. 2020 wird ein spannendes Jahr mit vielen neuen Blickwinkeln auf den Komponisten. Und es zeichnet sich ab: Beethoven wird als Ikone gefeiert, als Heiligtum auf den Sockel gestellt – als Vorreiter unser Ideale stilisiert. Und all das: zu Recht! Aber ich würde mir von den Feierlichkeiten im kommenden Jahr auch den unbequemen Beethoven wünschen, den wütenden, kämpfenden, kranken, kleinen Komponisten, der nicht nur die Konventionen seiner Zeit, sondern auch unsere oft gefällige Welt und Kulturszene ordentlich infrage stellt. Ich wünsche mir für 2020 einen Beethoven, der uns herausfordert, der uns überfordert – so wie er seine Zuhörer und die Musiker seiner Zeit überfordert hat. Einen Beethoven, zu dem wir aufschauen, nicht, weil wir ihn vereinnahmen können, sondern weil seine Visionen uns noch immer als unerreichbares Ideal anspornen.