Keith Warner
Packende Eindringlichkeit
von Roland H. Dippel
5. Oktober 2021
Oper in sieben Tafeln: Keith Warners Inszenierung von Paul Hindemiths Oper „Mathis der Maler" im Theater an der Wien liegt als DVD und Blu-ray Disc vor.
Die musikalische Vision des Isenheimer Altars gehört inzwischen zu den bekannten Konzertklängen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Trotzdem: Paul Hindemiths musiktheatrales Bauernkriegspanorama ist weitaus imposanter als die gleichnamige Sinfonie. Querelen mit dem NS-Régime führten schließlich zum Rücktritt Wilhelm Furtwänglers von seinen Berliner Spitzenpositionen, zur Emigration Hindemiths und zur Uraufführung der Oper Mathis der Maler 1938 im Zürcher Stadttheater.
Mutmaßungen über die Entstehung einer der aufregendsten Kunstschöpfungen des 16. Jahrhunderts: Unter dem fast die gesamte Bühnenfläche einnehmenden, dreidimensional modellierten Heiland Grünewalds schuf Johan Engels eine auch in Nahaufnahme hochspannende Bühnenlandschaft für die Verstrickung des Künstlers Mathi(a)s (Grünewald) in die Wirren der Reformation, der Bauernkriege und der ideologisch begründeten Ansprüche seiner Auftraggeber. Zugleich ist dieser Spielraum ein Atelier, wo Mathis« Wahrnehmungen und Geistesblitze zum Kreativitätsstrom werden.
Ausladende Wirkungen und plastische Intuition für die Zitate frühneuzeitlicher Polyphonie waren 2012 die Pole dieser aufregenden Einstudierung mit bemerkenswert guter Textverständlichkeit. Wie Simone Young in Hamburg und Dresden widerlegt Bertrand de Billy am Pult der plastisch und impulsiv spielenden Wiener Symphoniker das trocken-spröde Image von Hindemiths Partitur. Warners Inszenierung gerät in den Massenszenen brutal und, wenn es um Kunst oder Leben geht, mit packender menschlicher Eindringlichkeit. Bohrendes Gespür für das Unausgesprochene zeigen die Haupt- und Nebenfiguren. Manuela Uhl als großartige Ursula und Kurt Streit als imponierender Albrecht von Brandenburg bilden die Spitze des ausgezeichneten Ensembles.
Mathis gewinnt an Sympathie, wenn er den als Seelenpanzer genutzten Malerkittel ablegt und sich in die verheerenden Zeitumstände begibt. Diesen Weg zeichnet Wolfgang Koch auch stimmlich. Als Aufzeichnung wird diese Inszenierung ein musikalisches Volksdrama über Massen im Malstrom der Geschichte, vor allem jedoch mit feingeschliffenen Charakteren.