Fin de siècle
Musik küsst bildende Kunst
von Ruth Renée Reif
20. Dezember 2018
Über die Jahrhunderte hinweg sind Musik und bildende Kunst beständig im Gespräch. Ab dem Fin de siècle verweben sie sich immer extremer.
Anfang März 1968 reist Marcel Duchamp nach Toronto zu John Cage. Auf der Bühne des Ryerson Theatres spielen die beiden Schach. Das Brett ist mit Kontaktmikrofonen ausgestattet. Sobald ein Spieler eine Figur bewegt, werden Klänge hörbar, die entsprechend der Bewegung auf dem Brett variieren, und auf Bildschirmen erscheinen oszilloskopische Bilder. „Reunion“ markiert den Extrempunkt einer Verschränkung von Musik und bildender Kunst, die um die Wende zum 20. Jahrhundert an enormer Dynamik gewinnt und deren Wurzeln weit zurückreichen.
Leonardo da Vinci wurde berühmt als Maler der „Mona Lisa“. Seine Zeitgenossen sahen ihn möglicherweise anders. Denn Leonardo soll auch „göttlich“ gesungen und sich dabei auf der Lira da Braccio begleitet haben. Als Naturforscher stellt er Überlegungen an zur Ausbreitung des Schalls und zur Funktionsweise des Gehörs. Seine Notizbücher enthalten Konstruktionszeichnungen von Musikmaschinen und Trommeln, die von Kutschenrädern angetrieben werden.
Die Künstler der italienischen Renaissance genießen hohes Ansehen. Sie werden geachtet für ihr enzyklopädisches Wissen und ihre vielfältigen Begabungen. Giorgione, der den Freskenschmuck einiger Palastfassaden am Canal Grande in Venedig schafft, bevor die Pest ihn hinwegrafft, glänzt in Gesellschaft als Sänger und Lautenspieler. Auch der Maler Tintoretto spielt in seiner Jugend die Laute und widmet sich der Erfindung neuer Instrumente. Albrecht Dürer, der um jenes Ansehen ringt, das er in Italien bei seinen Kollegen bestaunt hat, stellt sich gern im Kreis von Musikern dar. Unverständliche Aufzeichnungen aus seinem Nachlass wurden als deutsche Orgeltabulatur entziffert.
Doppel- und Mehrfachbegabungen sind keine Seltenheit. Zumeist bricht das Kunstwollen jedoch in einem Genre durch. Dominique Ingres, der mit seinen sinnlichen Aktdarstellungen Berühmtheit erlangt, lernt von seinem Vater zeichnen und geigen. Während seines Kunststudiums an der Akademie von Toulouse spielt er im Sinfonieorchester der Stadt. Auch Felix Mendelssohn und seine Schwester Fanny begleitet er auf der Geige. Mendelssohn selbst besitzt ein Talent fürs Schreiben, fürs Zeichnen und fürs Musizieren. Sein Leben bestimmt die Musik. Doch nach dem plötzlichen Tod der Schwester und kurz vor seinem eigenen sucht er Trost im Zeichnen und Aquarellieren.
Eugène Delacroix, der große Meister der französischen Romantik, zeigt in seiner Jugend ebenfalls eine Vorliebe für die Musik. Er ist ein guter Geigenspieler, träumt sogar von einer Musikerlaufbahn und verkehrt in Paris in Musikerkreisen. Mit Chopin verbindet ihn eine enge Freundschaft. „Chopin hat mir Beethoven vorgespielt, göttlich schön“, schwärmt er und nennt ihn den echtesten Künstler, dem er je begegnet sei. Chopin dagegen ist für die anderen Künste nicht zu gewinnen. „Sein Geist kann sich nur in Musik ausdrücken“, erkennt George Sand. Aber auch Chopin erinnert sich an „köstliche Augenblicke“, die er mit Delacroix verbrachte.
Die Romantik strebt nach Entgrenzung und der Herrschaft frei schöpferischer Fantasie. Aber es sind die Angehörigen der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich jenem künstlerischen Zusammenwirken öffnen, das der Musikphilosoph Theodor W. Adorno als „Verfransung“ bezeichnet. Was sie eint, ist der Drang nach Aufbruch. Neues wollen sie schaffen, die akademische Zeichnung, den alten Ton und die abgenutzten Worte zerschlagen. In Russland wird der Maler, Grafiker und Komponist Michail Matjuschin zu einer zentralen Gestalt. Er arbeitet an einem „erweiterten Sehen“ und den Möglichkeiten der Visualisierung von Klängen. 1913 komponiert er die erste futuristische Oper Sieg über die Sonne, die in der Ausstattung von Kasimir Malewitsch in St. Petersburg uraufgeführt wird. „Die neuen Zeichen der Zukunft“ möchte Matjuschin schaffen.
Das verbindet ihn mit Arnold Schönberg und der Wiener Avantgarde, die mit den Künstlern der Secession ebenfalls einen neuen Be-griff von Kunst verwirklichen wollen. Im Januar 1911 besucht Wassily Kandinsky in München ein Konzert von Schönberg. Er ist so beeindruckt, dass er ihm spontan einen Brief schreibt: Schönberg habe in seinem Werk das verwirklicht, wonach er „so eine große Sehnsucht“ habe. Auch für Schönbergs Bilder begeistert er sich und lädt ihn zur Beteiligung an der Ausstellung des Blauen Reiters ein. So wichtig jedoch Schönberg das Malen zu Anfang war, nach seiner Selbstfindung als Komponist 1912 gibt er es fast gänzlich auf.
In Paris wird Erik Satie, den Jean Cocteau liebevoll als „ein seltsames, wie vom Himmel gefallenes Etwas“ betrachtet, zur treibenden Kraft. Cocteau bringt ihn mit Pablo Picasso zusammen. Gemeinsam erarbeiten sie das Ballett Parade. Satie komponiert mit seiner Musik die Geräusche der Bewegungen auf einem Jahrmarkt. Und Picasso entwirft ein Bühnenbild, das „im Stück mitspielt, anstatt nur zuzuschauen“. Das Ballett wird am 18. Mai 1917 von Sergei Diaghilevs Compagnie der Ballets Russes uraufgeführt. Für das Publikum ist es ein „kubistischer Schock“, für den Dichter Guillaume Apollinaire der neue Geist.
Die Ideen, Experimente und Theorien der Avantgarde erweisen sich als unendlich fruchtbar. Sie öffnen Räume und Wege mit immer neuen Verzweigungen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts werden die Verbindungen zunehmend enger, und man sucht die gegenseitige Inspiration. Als Paul Klee zum Blauen Reiter nach München kommt und sich mit Kandinsky anfreundet, besucht er als begeisterter Opernliebhaber auch die Oper. Sein Bild Das Vokaltuch der Kammersängerin Rosa Silber, das auf eine Sängerin oder auf Richard Strauss« Rosenkavalier anspielt, inspiriert in den 1950er-Jahren Hans Werner Henze zu seinem gleichnamigen Ballett. Henze überträgt Klees zarte, spitzenähnliche Darstellung in Musik. Kandinsky wiederum verwandelt für eine szenische Aufführung von Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung in Dessau 1928 dessen musikalische Beschreibungen zurück in Bilder.
Seine abstrakten Gemälde dienen auch als Anregung für Anestis Logothetis bei der Entwicklung seiner grafischen Notation. Logothetis entwirft im elektronischen Studio des WDR in Köln 1959 die Komposition „Struktur-Textur-Spiegel-Spiel“. Um die musikalischen Momente zu verdeutlichen, reicht ihm das Fünfliniensystem nicht aus, und er entwickelt eine „Klangcharakterschrift“. Damit finden grafische Elemente Eingang in die Partitur, die in der Folge selbst zum Kunstwerk wird. György Ligeti arbeitet mit dem Grafiker Rainer Wehinger, um für seine ebenfalls im Kölner Studio entstandene Tonband-Collage Artikulation eine Hörpartitur zu erstellen. Und Josef Anton Riedl schafft 1960 mit seinen „optischen Lautgedichten“ Musik zum Sehen.
Musik entfaltet sich in der Zeit, das Kunstwerk im Raum. Diese einfache Formel erfährt im 20. Jahrhundert eine Umkehrung. Komponisten setzen sich intensiv mit dem Raum auseinander, seinem Klang und seiner Wirkung. Es öffnet sich der Weg zur Klangkunst, der Klanginstallation und der Klangskulptur. Robin Minard beginnt 1994 seine Werkreihe Silent Music. Hunderte kleiner Lautsprecher wachsen mit ihren Kabeln wie Efeu an den Wänden empor. Aus den Lautsprechern tönen hohe, ruhige Klänge. Die Besucher sind eingeladen, in den Raum, der zum Hör-Raum wird, hineinzulauschen.