Porträt von CRESCENDO Autor Axel Brüggemann

Musikfilme

Der neue Mut der Musik­film­welt

von Axel Brüggemann

7. Februar 2018

Auf der „Avant Première“ in Berlin treffen sich internationale Musikfilmmacher – und haben die unglaublichen Chancen ihres Mediums erkannt.

Das Scandic Hotel am Pots­damer Platz verwan­delt sich jedes Jahr für einige Tage in ein gigan­ti­sches Multi­plex­kino. In dunklen Räumen flim­mern noch nicht gesen­dete Doku­men­ta­tionen, Konzert- und Opern­mit­schnitte über die Lein­wände. Regis­seure, Autoren und Produ­zenten nehmen Stel­lung zu ihrer Arbeit. An den Steh­ti­schen im Foyer wird debat­tiert, gestritten und verhan­delt. Auf der Avant Première treffen sich Film­schaf­fende aus allen Ländern, um ihre neuen Produk­tionen aus dem Bereich der Musik vorzu­stellen. Die Gäste­liste ist inter­na­tional. Neben den großen deut­schen Sendern kommen die BBC aus , RAI aus Italien, TV-Stationen aus , , Finn­land, , Frank­reich, , Litauen, Russ­land, der oder Öster­reich. Und natür­lich sind wich­tige Produk­ti­ons­firmen wie die Unitel aus vor Ort, signed media aus Hamburg, music aus , arthaus oder . Und es kommen zahl­reiche Orchester und Theater wie die , das Sympho­nie­or­chester, die oder die Opéra National aus Paris, um ihre Programme vorzu­stellen. Letz­teres sagt vieles über den Zustand der Film­branche in der klas­si­schen Musik: Sie denkt vernetzt, in einem großen Mitein­ander – und immer mehr Häuser werden selbst zu multi­me­dialen Playern.

Das Kino ist zur legi­timen Erwei­te­rungs­zone des Opern­hauses geworden

Die Zeiten, in denen ein oder zwei Fern­seh­sender darüber entschieden, was die Menschen sehen, sind vorbei. Die tech­ni­schen Voraus­set­zungen, um eine Auffüh­rung aufzu­zeichnen, sind über­schaubar, und an Ausspiel­platt­formen fehlt es nicht: Im Netz ist zwar noch immer kaum Geld zu verdienen, aber darum geht es vielen Häusern auch weniger als um allge­meine Aufmerk­sam­keit in Zeiten, in denen das Zeitungs-Feuil­leton und andere Medien konti­nu­ier­lich weniger über Klassik berichten. Die Met in macht seit Jahren vor, dass ein Kino durchaus ein Raum sein kann, in dem das Publikum bekommt, was es an vielen Stadt­thea­tern oft vermisst, einen Ort mit musi­ka­li­scher Welt­klasse mit einem mensch­li­chen Rahmen­pro­gramm, in dem die Künstler hautnah zu erleben sind. Das Kino ist zur legi­timen Erwei­te­rungs­zone des Opern­hauses geworden, durch das die Welt­klasse in jedem Kaff zu Hause sein kann.

Die wach­sende Größe der Avant Première zeigt auch, dass die audio­vi­su­ellen Medien dabei sind, die Deutungs­ho­heit über die Reprä­sen­ta­tion der klas­si­schen Musik in breiten Teilen der Öffent­lich­keit zu über­nehmen. Dort, wo weniger ausge­strahlt wird, schließen neue Anbieter die Lücken durch On-demand-Ange­bote, und selbst private Stationen wie Servus-TV oder Sky setzen zuneh­mend auf klas­si­sche Musik, da sie begreifen, dass es sich um eine attrak­tive Nische handelt. Mehr noch, jetzt, da ich diese Kolumne für crescendo schreibe, denke ich an jene Zeit zurück, als es noch wirk­liche Pionier­ar­beit war, bewegte Bilder und ein gedrucktes Magazin mitein­ander zu verbinden.

Im ersten Vorspann ist noch als Beleuchter mit einer Hotel­lampe in der Hand zu sehen

Ange­fangen hat alles beim , als der Heraus­geber dieser Zeit­schrift beschloss, die Veran­stal­tung back­stage mit einer Kamera zu begleiten. Das ist jetzt über zehn Jahre her. Wir hatten keine Erfah­rung, spürten aber schnell, dass das für uns neue Medium in der Lage war, voll­kommen neue Kommu­ni­ka­ti­ons­wege zu erschließen. Schaut man sich die Beiträge von damals an, gerät man heute ins Schmun­zeln: lange Haare, wenig Licht, wacke­lige Kameras, schlechte Auflö­sung, ja im ersten Vorspann ist noch Rolando Villazón als Beleuchter mit einer Hotel­lampe in der Hand zu sehen. Ebenso wie bei den ersten Blogs von CRESCENDO, die zu Hause am Schreib­tisch zusam­men­ge­schnitten wurden. Kleiner Insider: Ein für uns gesun­genes „CRESCENDO“ von Rolando können Sie bis heute im Abspann der CRESCENDO-Videos hören (www​.youtube​.de/​c​r​e​s​c​e​n​d​o​m​a​g​a​zin). Jetzt, zehn Jahre später, ist längst klar: Print und Bewegt­bild schließen einander nicht aus, sondern ergänzen und befruchten sich gegen­seitig. Die Filme vom ECHO KLASSIK werden inzwi­schen hoch­pro­fes­sio­nell und in HD-Fern­seh­stan­dard produ­ziert – jedes Mal treffen wir über 30 Künstler zu Kurz­ge­sprä­chen. Allein auf der Inter­net­seite crescendo​.de sind inzwi­schen weit über 50 Folgen von „CRESCENDO trifft …“ zusam­men­ge­kommen, zum Teil mit schwin­del­erre­genden Klick­zahlen und, verteilt über verschie­dene Seiten, mit mehreren 100.000 Zuschauern (zum Beispiel, wenn über redet). In der Rubrik „Mein erstes Mal“ spre­chen Künstler über ihre ersten Begeg­nungen mit der Musik, stellt regel­mäßig seine Lieb­lings­platten im Video vor und die leitende CRESCENDO-Redak­teurin Maria Goeth und der Block­flö­tist treffen sich zum Kochen mit Klassik-Stars.

Klar, all diese Formate ersetzen kein Fern­sehen, aber sie zeigen, wie das Bewegt­bild längst zum Teil eines neuen Jour­na­lismus geworden ist. Viele Leser kommen über Face­book oder andere soziale Medien zum ersten Mal in Kontakt mit Musik (manche wissen gar nicht, dass es crescendo auch in gedruckter Form gibt). Wenn ich nun diese zehn Jahre zurück­blicke wird eines klar: Print, Video, Internet, Film, Strea­ming. Aus dem Print­ma­gazin ist ein Klas­sik­me­dium gewachsen, das über die verschie­denen Kanäle viel mehr Menschen erreicht als früher.

Das Ideal einer aufwen­digen Beglei­tung eines Klassik-Events erstreckt sich nicht mehr darin, es einfach nur abzu­filmen

Vor zwei Jahren saß der Chef der Unitel, Jan Mojto, auf einem Podium der Avant Première. Früher war es sein Geschäfts­mo­dell, Filme und Konzerte für große öffent­liche Sender aufzu­nehmen und die Rechte daran zu verkaufen. Heute denkt er ganz anders: „Wir nehmen die wich­tigen Dinge auf“, sagte Mojto, „was sich verän­dert hat, sind die Möglich­keiten, sie auszu­spielen: Das kann der Fern­seh­sender sein, dass können neue Klassik-Kanäle im Netz sein, dass können Home­pages von Zeitungen sein oder natür­lich Anbieter wie Netflix, die das neue Fern­sehen ins Netz verschoben haben.“ Klar wird bei derar­tigen Aussagen, dass wir die Bericht­erstat­tung über Musik nicht mehr eindi­men­sional denken können, dass das Sehen und Hören zum Lesen dazu­ge­hört, dass es unter­schied­liche Situa­tionen für unter­schied­liche Formen der Erzähl­weise gibt – und dass alle Medien auf diese Erkenntnis reagieren müssen. Die Zeitung mag dabei der Grund­pfeiler sein, der die Geschichte des eigenen Unter­neh­mens trans­por­tiert, die mit ihrer Premium-Ausgabe zum gemüt­li­chen und inten­siven Lesen verführt – eine Visi­ten­karte. Das Bewegt­bild ist dabei eine Erwei­te­rung, eine Chance, Menschen an Orten zu errei­chen, die für klas­si­sche Zeitungen und Zeit­schriften längst uner­reichbar sind.

Und das schafft man beson­ders, wenn das aufwen­dige Filmen gleich mehrere Ziele verfolgt. Das Ideal einer aufwen­digen Beglei­tung eines Klassik-Events erstreckt sich nicht mehr darin, es einfach nur abzu­filmen, zu senden und zu vergessen, sondern möglichst viel Mate­rial zu sammeln, mit dem weit­ge­hend zeit­lose Doku­mente geschaffen werden: Back­stage-Inter­views, Probe­ar­beit, Meis­ter­klassen, Inter­pre­ta­ti­ons­ana­lysen oder musi­ka­li­sche Erläu­te­rungen werden parallel zur Auffüh­rung gedreht und stehen danach für viel­sei­tige Neuver­wer­tungen zur Verfü­gung. Primäres Ziel ist es, den aktu­ellen Erfolg der Live-Veran­stal­tungen allge­mein zugäng­lich zu machen und somit auch eigene „Stars“ aufzu­bauen, etwa die Sopra­nistin , die kaum auf CD, wohl aber auf zahl­rei­chen DVDs begeis­tert. In der Film­branche scheint es inzwi­schen wieder um Dinge zu gehen, die lange vergessen wurden: Konti­nuität, das Denken in großen Zeit­räumen und die wahre Pflege von Künst­lern, ihren Ressourcen, ihren Möglich­keiten und ihren Karrieren.

Außerdem haben die audio­vi­su­ellen Medien begriffen, dass sie sich in einer vernetzten Welt mitein­ander vernetzen müssen. Auf Veran­stal­tungen wie der Avant Première kommen Bühnen und Orchester mit den Produ­zenten, Fern­seh­sen­dern, mit Kinos, Regis­seuren und Autoren ins Gespräch, um gemeinsam Zukunfts­pläne auszu­he­cken. Derar­tige Ansätze werden auf der dies­jäh­rigen Avant Première viele zu sehen sein. Filme, die inter­na­tional funk­tio­nieren, die sich auf das Archiv des Aufge­nom­menen stützen und gleichsam in der Gegen­wart stehen, Filme, in denen es um das Mitein­ander aller Insti­tu­tionen geht, die in der Klassik eine Rolle spielen, um das Publikum so nahe wie möglich an die Kunst zu bringen.

An den Steh­ti­schen im Foyer des Scandic Hotels wird es auch dieses Mal darum gehen, wie die Kraft des eigent­li­chen Opern- oder Konzert­abends im Film abzu­bilden ist, egal für welches Medium, ob für das Fern­sehen, die DVD oder den Stream. Klar ist, dass alles dort beginnen muss, wo auch für das Publikum die Magie einsetzt: beim Veran­stalter, im Konzert- oder im Opern­haus. Natür­lich wird das Bewegt­bild niemals die Möglich­keit haben, ein Live-Event in New York, an der Baye­ri­schen Staats­oper, bei den Bayreu­ther Fest­spielen oder in der Berliner Phil­har­monie abzu­bilden, wie es wirk­lich ist. Auch hier zählt schließ­lich noch das Wort Roland Barthes«, dass jeder Repro­duk­tion am Ende die Aura des Origi­nals fehlen wird. Das Fern­sehen hat aber die Möglich­keit, eine andere, eigene Aura zu schaffen, die jener im Theater nicht im Wege steht, im Gegen­teil, sogar neugierig auf das Theater macht: die Aura dessen, was der Konzert- oder Opern­be­su­cher nicht zu sehen bekommt, das Detail, den Zoom, den Blick hinter die Kulissen, das exklu­sive Gespräch mit den Künst­lern. All das kann das Fern­sehen, und es ist dabei, diese Qualität zu perfek­tio­nieren, seine Kräfte zu bündeln, um mit dem Aben­teuer der klas­si­schen Musik so viele Menschen wie möglich zu begeis­tern und zu berühren.