Nina Stemme
Konkret sterben? Ungern!
27. April 2022
„Isolde stirbt mittlerweile selten.“ – Dennoch wünschen Tristan und Isolde die Vereinigung im Tod. Die Sopranistin Nina Stemme über das Warten auf den Liebestod.
CRESCENDO: Zuerst einmal herzliche Gratulation, Frau Stemme, zu Ihrer ersten Kostelnička in Janáčeks Jenůfa, ein großer Erfolg unlängst im Theater an der Wien.
Nina Stemme: Danke! Die Kostelnička war ein lang gehegter Wunsch von mir, die Jenůfa habe ich seinerzeit nur in einer Produktion gesungen, dann wurde ich schon in das schwerere Fach hineingezogen. Ich finde, sie ist ein hochinteressanter Charakter: Sie begeht eine schreckliche Tat, aber sie tut es letztlich aus Liebe. Man kann die Gründe dafür nachvollziehen, auch wenn in unserer Kultur heutzutage kaum vorstellbar ist, was ein uneheliches Kind an Schuld und Scham bedeutet haben mag in einer so abgeschiedenen Dorfgemeinschaft. Ich war total drin in dem Ganzen und habe das sehr gerne mit der Regisseurin Lotte de Beer erarbeitet: als große Rückblende aus Sicht der Kostelnička, die sich alles noch einmal vergegenwärtigt. Dadurch war ich auch in vielen Szenen auf der Bühne, in denen die Figur sonst nicht auftritt.
»Die Kostelnička ist keine alte Hexe! Sie besitzt diese böse Seite, um Jenůfa zu schützen.«
Wie schwierig war die Sprache für Sie?
Das Tschechische war schon sehr viel Arbeit… Und wieder: Meine Jenůfa ist ja 17 Jahre her, die dazwischen studierte Rusalka musste zweimal abgesagt werden. Ich mag es sehr, eine neue Sprache zu lernen und zu singen. Dafür habe ich am iPhone Duolingo-Kurse gemacht und mit Sprachcoaches gearbeitet. Janáček hat für die Kostelnička bewusst weniger kantabel komponiert als für die Jenůfa, aber auch das in enger Verbindung mit der tschechischen Sprachmelodie.
Dabei haben Sie sängerisch ja gerade das Lyrische, Schöne, Zarte an der Rolle hervorgekehrt.
Die Kostelnička ist keine alte Hexe und noch nicht einmal 50! Sie besitzt diese böse Seite, um Jenůfa zu schützen. Das ist an sich schrecklich, aber sie liebt sie fast mehr als eine leibliche Tochter, weil sie keine eigenen Kinder bekommen konnte. In der Romanfortsetzung von Gabriela Preissová darf die Kostelnička übrigens nach ihrer Haftstrafe bei Jenůfa und Laca leben: Es geht in dieser Oper alles ums Verzeihen. Jenůfa ist da eine echte Heldin.
Das bringt uns zu einer anderen Frau, die absolut nicht verzeihen kann und die Sie gerade wieder an der Met singen: die Elektra. Aber zuvor noch die Frage: Sie stehen international an der Spitze der hochdramatischen Soprane. Füllt Sie das denn nach wie vor ganz aus oder interessieren Sie sich auch für weitere neue Rollen?
Natürlich! Ich spüre, diese allerschwersten Partien nicht bis in alle Ewigkeit singen zu können. Irgendwann ist dem rein physisch ein Ende gesetzt. Es macht noch Spaß und fesselt mich, aber es ist nicht gut für Körper und Stimme, das allzu lange fortzusetzen. Die Kostelnička war insofern schon eine Ansage. Es gibt konkrete Pläne, die ich aber noch nicht verraten darf.
»Isolde ist psychisch vielleicht noch anstrengender als sängerisch.«
Gibt es für Sie ein Ranking der schwersten Rollen im Wagner- und Strauss-Fach, sind die Erholungsphasen andere?
Das Mindeste sind zwei Tage Pause nach einer Elektra und einer Götterdämmerungs-Brünnhilde, vor allem bei einem kompletten Ring. Es ist auch seelisch herausfordernd: Mein Kopf ist müde, und der singt genauso mit wie mein Bauch, weil all die kleinen Muskeln gesteuert und die Situationen auf der Bühne nachvollzogen werden müssen, damit ich in der Darstellung lebendig und mit der Stimme flexibel bleibe. Isolde genauso, die ist psychisch vielleicht noch anstrengender als sängerisch. Da merke ich im hoch liegenden zweiten Akt, dass sich auch die Stimmfarben ändern.
Franz Welser-Möst hat gesagt, dass eine Elektra auch für ihn, mit rund 60, nun schon anstrengender sei und er das Stück nicht ewig werde machen können.
Es ist beruhigend, das auch von einem Dirigenten zu hören. Elektra wirkt unglaublich kathartisch, wenn man sie wieder einmal absolviert hat. Aber der Bedarf nach Ruhe danach wächst.
Haben Sie sich eine Obergrenze an Vorstellungen pro Saison gesetzt? Wie gestalten Sie Ihren Kalender?
Sehr intuitiv. Ich zähle die Abende eigentlich nicht, weil es ja auch um die langen Probezeiten geht: Ich möchte eine gute Kollegin und immer von Anfang an mit dabei sein, nicht erst später als Star anreisen. Dieser kollegiale Zusammenhalt im Ensemble ist mir sehr wichtig. Mit jeweils wenigstens zwei Tagen Pause und fünf oder sechs Vorstellungen pro Serie werden es automatisch nicht mehr als 45 pro Jahr. Ich möchte öfter Konzerte singen, aber zwischen zweimal Elektra lässt sich nicht einfach ein Liederabend einschieben.
Wie haben Sie die Pandemie bislang erlebt?
Die ersten sechs Monate haben mir eigentlich wohlgetan. Ich war viel in unserem Freizeithaus auf einer Insel in den Schären, habe mit einem Pianisten an einem Liedprogramm gearbeitet. Der Ring in der Regie von Stefan Herheim an der Deutschen Oper Berlin war dann ein großes Glück – ich hatte zu tun und bin sehr dankbar dafür.
Im Mai 2022 kehren Sie nach Wien zu zwei kompletten Ring-Vorstellungen zurück. War es für Sie schwierig, in ein und derselben Produktion von der Sieglinde zur Brünnhilde zu wechseln?
Ich habe so lange wie möglich an der Sieglinde festgehalten und Brünnhilde-Angebote abgelehnt, aber 2005 oder 2006 kam der Punkt, an dem ich zugeben musste, dass die Brünnhilde doch ganz interessant sei. Vielleicht war meine Stimme damals noch nicht reif genug, aber ich habe begonnen, die Siegfried-Brünnhilde zu studieren. Dieser Übergang war für mich sängerisch ganz natürlich. Trotzdem fühle ich bis heute immer sehr stark mit den Sieglinden, die ich in der Walküre als Partnerinnen habe, da ist eine ganz spezielle Empathie geblieben.
»Man braucht die lyrischen Partien, um die verschiedenen Farben in der Stimme zu finden und zu entwickeln.«
Ihre Chrysothemis in der aktuellen Met-Elektra ist Lise Davidsen, die allgemein als kommende Hochdramatische angesehen wird. Haben Sie aus eigener Erfahrung einen Rat für sie?
Mein Vorteil war, dass ich nicht mehr blutjung gewesen bin, meine Lebenserfahrung konnte mir schon sagen, dass ich es nur auf meine eigene Weise würde tun können. Das macht auch Lise sehr gut, finde ich. Warum muss ich mit den ganz großen Partien warten, obwohl ich überall höre, ich wäre ideal dafür? Schon bei meiner ersten Butterfly 1995 haben die Leute von der Isolde geredet! Ich dachte damals: nein! Ohne genau zu wissen, warum. Jetzt weiß ich es. Man braucht die lyrischen Partien, um die verschiedenen Farben in der Stimme zu finden und zu entwickeln. Sonst läuft man noch stärker Gefahr, dass das Dramatische eintönig wird. Man benötigt auch Bühnenerfahrung, am besten gesammelt an kleineren Häusern: Es hilft, auf solches Wissen und Können zurückgreifen zu können, denn an den namhaften Bühnen laufen Inszenierungsprozesse oft ziemlich schnell und manchmal leider oberflächlich ab. Dass jemand wie Lise Davidsen die innere Kraft, die Klugheit, die Stimme vor allem besitzt, ist offensichtlich. Aber man muss sich selbst Zeit geben. Das wäre meine Antwort, wenn sie mich fragte.
»Isolde stirbt mittlerweile selten, die Regisseure wissen schon, dass es eine Verklärung sein soll.«
Als Isolde und als Färberin in der Frau ohne Schatten sind Sie im Juni und Juli 2022 an der Bayerischen Staatsoper zu erleben. Ist es manchmal lästig, dass man als Isolde so lange warten muss, bis der Tristan all seine Fieberträume durchlebt hat und man endlich für den „Liebestod“ auf die Bühne zurückkehren kann?
Am Anfang fand ich es schwierig und war nach dem zweiten Akt vollkommen erschöpft: Bis dahin ist diese Partie eine Art Marathonlauf, man ist fast ständig auf der Bühne. Mittlerweile kann ich mich vor dem Schluss ein bisschen entspannen, aber ich lege mich dabei nicht hin, sonst müsste ich mich von Neuem einsingen. Die Oper geht einfach so, man hat keine Wahl!
Bei der letzten Wiener Première war der „Liebestod“ so inszeniert, dass Isolde nicht gestorben ist, Wagner selbst sprach ja auch von einer „Verklärung“, und Sie sind mit langer roter Schleppe gleichsam ins Nichts von dannen geschritten. War das eine willkommene Abwechslung?
Aus meiner Sicht stirbt Isolde mittlerweile selten, die Regisseure wissen schon, dass es eine Verklärung sein soll. Vielleicht ist sie schon tot, wenn sie den Schluss singt: In der vorherigen Münchner Produktion von Peter Konwitschny wurde das so angedeutet. Ich hoffe eigentlich jedes Mal, dass ich nicht konkret sterben muss. Aber anders herum betrachtet, wünschen sich Tristan und Isolde ja die Vereinigung im Tod. Oder im Leben danach.
Ausnahmsweise ein Happy End im Diesseits dürfen Sie als Färberin in der Frau ohne Schatten erleben: Ihr gefeiertes Rollendebüt war 2019 in Wien unter Christian Thielemann, ungestrichen – bei einem Werk, das jahrzehntelang fast immer mehr oder weniger gekürzt gespielt wurde. Ist es in voller Länge eine spezielle Herausforderung?
Eine riesige, besonders in Wien, wo die Stimmung so besonders ist. Aufgrund der Pandemie habe ich die Färberin seither in keiner anderen Produktion singen können. Ich kenne die Münchner Warlikowski-Inszenierung noch nicht, auch der Dirigent steht noch nicht fest [Valery Gergiev war vorgesehen, Anm.]. Ich muss aber sagen: Ein paar Streichungen wären sängerisch schon eine Erleichterung!