Peter Konwitschny
Missing Link aus der DDR
5. Januar 2023
Peter Konwitschnys Inszenierung am Deutschen Nationaltheater Weimar stellt auf einem Doppelalbum die Oper »Lanzelot« von Paul Dessau, Heiner Müller und Ginka Tscholakowa erneut zur Diskussion.
Wer käme schon auf die dumme Idee, in den Kampf gegen den Drachen zu ziehen? Immerhin hat dieser vor Urzeiten die Cholera besiegt und damit allen das Leben gerettet – durch Abkochen des Trinkwassers. Seither hat man doch allen Grund, es sich so gut gehen zu lassen wie möglich. Der Drache mag zwar ein Tyrann sein, aber man hat sich mit der Macht arrangiert: Bloß nicht dran rühren. Und das jährliche Jungfrauenopfer, nun ja, das muss einem die Gemütlichkeit schon wert sein. Dass plötzlich der Ritter Lanzelot (Bariton) auftritt und seine geliebte Elsa (Sopran) retten will, die zur nächsten „Gattin“ – sprich: zum nächsten Opfer – des Drachens (Bass) auserkoren ist, wird da eher als lästige Störung des Status quo angesehen…
1969 erlebte Lanzelot seine Première an der Deutschen Staatsoper, eine Oper mit der Musik von Paul Dessau auf ein Libretto von Heiner Müller und Ginka Tscholakowa (nach der Vorlage von Jewgeni Schwarz« Märchenstück Der Drache). Herbert Kegel stand am Dirigentenpult, die Inszenierung stammte von Ruth Berghaus, Dessaus Frau; Siegfried Vogel, Reiner Süß und Renate Krahmer sangen die Hauptpartien. Die offizielle Deutung war klar, trotz merklichen Unbehagens der DDR-Zensur: So wie in Schwarz« Parabel Hitler das Ziel darstellte, richtete sich die Oper nun klar gegen die faschistischen Diktatoren von einst und die imperialistische Weltmacht USA von jetzt, gerade vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges. – Aber bestand nicht auch die Gefahr, dass die kommunistischen Anführer von Stalin bis Ulbricht, ähem, irgendwie mitgemeint sein könnten? Nicht ausgeschlossen, dass die Seilschaft rund um Erich Honecker die Sache durchgehen ließ, sägte der doch bereits an Ulbrichts Stuhl…
„In der DDR, als privilegierte Brechtmumie und als besonders devoter Parteikünstler, lebte er unter uns … Er hatte nichts Eigenes“: So streng fiel das Urteil gegen den Komponisten Paul Dessau aus, das der Liedermacher und Lyriker Wolf Biermann 1990 fällte, jener Wolf Biermann, der sich zu einem der prominentesten Kritiker des Regimes gewandelt hatte. Und noch in der 2003 erschienen zweiten Auflage des Komponisten-Lexikons (Hg. Horst Weber) analysierte Mathias Hansen unerbittlich: Dessau „erreichte es niemals, Brecht (wie Eisler) ein ebenbürtiger, eingreifender Partner zu sein. Musikalisch in den zwanziger Jahren geprägt, von einer Mischung aus Spielmusik, Neoklassizismus und Sachlichkeit zeitlebens zehrend, blieb selbst und gerade die lautstarke politische Programmatik eine Art Abschirmung, hinter der sich ein grundlegender Mangel an kompositorischer Substanz zu verbergen hatte.“
Gerechte künstlerische Bewertungen? Vielleicht reicht die Feststellung, dass auch Paul Dessau für die Nachgeborenen die Herausforderung bedeutet, den Menschen vom Werk zu trennen. Dass das Deutsche Nationaltheater Weimar 2019 eine Neudeutung des Lanzelot wagte, worauf das Werk von der Zeitschrift Opernwelt zu „Wiederentdeckung des Jahres“ gekürt wurde, zeigt, dass darin tiefere Wahrheiten und aufs Neue relevante Themen angesprochen werden: Umweltzerstörung; Ruhigstellung der Massen durch Brot und Spiele, also Konsum und Medien; auch die Gefahr, dass der Retter von heute zum Tyrannen von morgen wird. Um die eigentliche Gesamtwirkung im Theater beurteilen zu können, hätte es einer Videodokumentation von Peter Konwitschnys Inszenierung bedurft. Aber auch diese Doppel-CD, die schon deshalb verdienstvoll ist, weil es seinerzeit zur bei Dessau sonst üblichen Plattenaufnahme nicht gekommen ist, belegt als Mitschnitt zweierlei auf intensive Weise. Zum einen, wie ein fähiges Ensemble unter der Leitung von Dominik Beykirch einer zwar nicht in den zeitlichem Dimensionen, aber in den allgemeinen Anforderungen ausufernden Partitur unerschrocken begegnet und diese höchst respektabel umsetzt. Und zum anderen, dass gerade die bewussten musikalischen Brüche und Verfremdungseffekte, die Dessau setzt, im Ganzen ein Werk ergeben, das wir heute jenseits politischer Demarkationslinien und Empfindlichkeiten neu einordnen können: nämlich im Umkreis und im Übergang von Bernd Alois Zimmermanns Soldaten (und seiner Denkfigur von der „Kugelgestalt der Zeit“) und dem als „Anti-Anti-Oper“ bezeichneten Grand Macabre von György Ligeti. Denn „anti-anti-opernhaft“, also bewusst erzählerisch und mit vielfältigem Hintersinn gespickt ist letztlich auch das gemeint, was Dessau im Lanzelot zimmert: ein nicht à la Wagner einlullendes und überwältigendes, sondern bewusst sperriges, zu Abstand und Reflexion zwingendes „Gesamtkunstwerk“ – Fallstricke und Widerborsten inkludiert.
Stilmixturen und Zitatenironie, aber wohl dosiert; Märchentonfall und Schlagzeug-Attacken, tonale Floskeln, Jazz-Prisen und schroffe Ballungen; im Gesang die ganze Bandbreite vom reinen Dialog über Schönberg’sche Sprechstimme bis zum puren Opernpathos von Arien und Liebesduetten, dem Dessau im Handumdrehen wieder die Zunge zeigt: Hier geht es angesichts der Weltgeschichte auch musikalisch rund, ohne dass es deshalb beliebig würde. Das Stück sei damals nicht etwa uninteressant gewesen, vermutete Peter Konwitschny anlässlich dieser Produktion, sondern zu interessant, „und deshalb war es schnell weg“. Ob es nun bleiben wird, ist noch offen. Die hier dokumentierte Weimarer Neudeutung ist jedenfalls ein imposantes Plädoyer für Dessaus Lanzelot.