Richard Jones
„Eine Oper über Kannibalismus“
von Ruth Renée Reif
23. Dezember 2020
Richard Jones wirft in seiner bildkräftigen Inszenierung von Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ die Frage nach den zukünftigen Verteilungskämpfen in der Welt auf.
Richard Jones betrachtet Engelbert Humperdincks Oper Hänsel und Gretel aus einer erhellend neuen Perspektive. Obwohl es im Sommer spielt, scheint das Werk die Weihnachtsoper für Kinder zu sein. Am 23. Dezember 1893 wurde es in Weimar unter großem Jubel uraufgeführt. Bereits ein Jahr darauf war es auf 50 Bühnen in Deutschland zu erleben und trat einen Siegeszug um die Welt an. Jahr um Jahr holen es Intendanten zur Weihnachtszeit aus dem Fundus, meist in mehr als angestaubter Inszenierung. Umso mehr begeistert Richard Jones Deutung. Ursprünglich erstmals für die Welsh National Opera erarbeitet, zeigte er sie 2013 an der Bayerischen Staatsoper.
Richard Jones nimmt die Opernhandlung wörtlich: „Es ist eine Oper über Kannibalismus.“ Erzählt werde die Geschichte von Kindern, die versuchen, dem Kannibalen, der sie essen möchte, zu entgehen und stattdessen selbst den Kannibalen essen. „Die Hexe schürt den Ofen… zum Verbrennen der Kinder: eine Kinderoper?“, zweifelte bereits der Musikwissenschaftler Kurt Pahlen. Aus seiner Sicht widerspricht nicht nur das Sujet, sondern auch „eine derart sinfonische Musik, die wohl oder übel den Großteil des Textes unverständlich macht“ den Vorstellungen eines musikalischen Kinderstücks.
Mord an der Kuchenbäckerin Katharina Schrader
Auch bei der Vorlage, dem vermeintlichen Märchen Hänsel und Gretel, das die Gebrüder Grimm zu Beginn des 19. Jahrhunderts wider besseres Wissen in ihre Sammlung von Kinder- und Hausmärchen aufnahmen, handelt es sich um einen tatsächlich stattgefundenen Mord. Opfer war die Kuchenbäckerin Katharina Schrader. Sie stammte vermutlich aus dem Harz und soll sich 1638 in Nürnberg niedergelassen haben. Als sie den Bäckermeister Hans Metzler, der durch Heirat an ihre Lebkuchenrezepte kommen wollte, abwies, verleumdete dieser sie als Hexe. So kam es zum sogenannten Gelnhäuser Hexenprozess, in dem Katharina Schrader 1647 freigesprochen wurde. Hans Metzler und seine Schwester Margarete aber verfolgten sie weiter und spürten sie im Spessart, wohin sie sich zurückgezogen hatte, auf. Da sie sich weiterhin weigerte, ihre Rezepte zu verraten, ermordeten die Geschwister sie und verbrannten die Leiche in einem Backofen.
Richard Jones lässt alle drei Akte der Oper in Küchen spielen. Sein Ausstatter John Macfarlane hat für den ersten Akt eine ärmliche Küche im Stil der 1950er-Jahre entworfen. Im zweiten Akt servieren groteske Köche und ein fischköpfiger Oberkellner in einer surrealen Küche mit einem riesigen Esstisch Mengen an Essen. Und in der Hexenküche wirkt die Hexe fröhlich und beschwingt mit allerlei Zutaten und Bergen von Backwaren.
Am Ende lässt der „Lebkuchen“, den die Kinder aus dem Ofen holen und fröhlich zum gemeinsamen Mahl auftischen, deutlich die Gestalt der Hexe erkennen. Richard Jones verdeutlicht damit nicht nur das Libretto der Oper. Er rührt auch an die Frage, welches Ausmaß Verteilungskämpfe, sei es um Wasser, Nahrungsmittel oder Medikamente, in Zukunft nehmen könnten.
Richard Jones’ Inszenierung von Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ ist vom 24. Dezember 2020, 10 Uhr, bis 26. Dezember 2020, 00 Uhr, unter STAATSOPER.TV im kostenlosen Stream zu sehen.
Ab 27. Dezember 2020 steht sie als Video-on-Demand kostenpflichtig unter STAATSOPER.TV zur Verfügung.