Robin Ticciati
Auf der Suche nach der inneren Wahrheit
von Corina Kolbe
19. Oktober 2018
Der Dirigent Robin Ticciati im Gespräch über seine neue Heimat Berlin, italienische Familienwurzeln und die Leidenschaft für französische Musik.
Die üppige Lockenpracht ist nicht das Einzige, was Robin Ticciati mit Simon Rattle verbindet. Beide stammen aus England, sind international gefragte Dirigenten und können auch Schlagzeug spielen. Doch während sich Rattle kürzlich von den Berliner Philharmonikern nach London verabschiedet hat, ist Ticciati, seit Herbst 2017 Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, erst jetzt richtig in der Stadt angekommen.
„Bis zum letzten Sommer bin ich viel gependelt, es war auch meine Abschiedssaison als Chef des Scottish Chamber Orchestra in Edinburgh“, sagt er. „Jetzt kann ich mich endlich ganz auf mein neues Orchester konzentrieren, seinen Klang formen. Mir geht es immer darum, nach der inneren Wahrheit in der Musik zu suchen.“
Im Szeneviertel Prenzlauer Berg wohnt er bereits seit zwei Jahren. „Ich bin neugierig auf alles, was Berlin kulturell zu bieten hat“, verrät er, während er sich grünen Tee bestellt. „Auch in London, wo ich aufgewachsen bin, ist das Angebot groß. Doch hier scheint es mir, als hätten die Menschen einen noch direkteren Zugang zur Kultur. So, als gehöre sie physisch zum Alltag dazu.“
„Alles, was man tut, ist das Ergebnis von Arbeit und Passion“
Als Dirigent hat es Ticciati mit 35 Jahren bereits weit gebracht. Orchester wie die Wiener Philharmoniker, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und das London Symphony Orchestra luden ihn ein, außerdem gastierte er an der Mailänder Scala, bei den Salzburger Festspielen und im Royal Opera House in London. Seit 2014 ist er in seiner Heimat Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera. „Das Wichtigste ist, seinen eigenen Überzeugungen treu zu bleiben“, meint er. „Alles, was man tut, ist das Ergebnis von Arbeit und Passion.“
Mit dem DSO geht Ticciati ausgiebig seiner Leidenschaft für französische Komponisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach. Beim Label Linn erschien gerade ein Album mit Maurice Ravels Zweiter Orchestersuite zu Daphnis et Chloë, den Valses nobles et sentimentales sowie der sinfonischen Dichtung Aux étoiles und Liedern von Henri Duparc, interpretiert von der tschechischen Mezzosopranistin Magdalena Kožená. „Sie verleiht den Stücken eine besondere emotionale Färbung, das gefällt mir sehr.“ Auf Ticciatis Debüt-CD mit seinem Berliner Orchester hatte die Ehefrau von Simon Rattle bereits Ariettes oubliées von Claude Debussy gesungen. „Ich versuche mit den Musikern immer tiefer in das französische Repertoire vorzudringen. An Ravels Valses liebe ich diese Fin-de-Siècle-Atmosphäre“, schwärmt er. „Ich sehe hell erleuchtete Pariser Straßen vor mir. Das ist für mich ein bisschen wie Oper.“
Musik begleitet den Briten mit italienischen Wurzeln seit seiner Kindheit. Sein Vater, ein Rechtsanwalt, spielt aus Leidenschaft Cello, die Mutter Bratsche. „Bei uns zu Hause wurde eigentlich immer musiziert“, erinnert er sich. Als Geiger, Pianist und Schlagzeuger ausgebildet, nahm Ticciati schon mit 15 Jahren den Dirigentenstab in die Hand. „Dadurch wollte ich der Musik noch näherkommen“, bekennt er. „Als Dirigent kann man mit einer Geste den Klang eines ganzen Orchesters verändern. Man muss in der Lage sein, seinen Körper wie ein Tänzer unter Kontrolle zu halten. In gewisser Weise ist der Körper also ein Instrument.“
„Man muss in der Lage sein, seinen Körper wie ein Tänzer unter Kontrolle zu halten“
Der in Rom geborene Großvater war Komponist und Arrangeur. „Als ich in der Stadt zum ersten Mal mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia auftrat, kamen nach dem Konzert sechs Namensvettern auf mich zu und strahlten mich an. Das war ein besonderes Erlebnis! Auch wenn meine Eltern Briten sind, steckt die italienische Kultur irgendwie in mir.“
Von seinen Mentoren Colin Davis und Simon Rattle gefördert, trat Ticciati 2005 als jüngster Dirigent mit der von Claudio Abbado gegründeten Filarmonica della Scala auf. Später dirigierte er an dem Opernhaus Benjamin Brittens Oper Peter Grimes. „Das Temperament der Musiker hat mich sofort angesprochen. Britten klingt plötzlich ein bisschen nach Giacomo Puccini.“ Für Abbado, von 1968 bis 1986 Musikdirektor des Opernhauses und später Vorgänger Rattles bei den Berliner Philharmonikern, empfindet Ticciati große Bewunderung. „Seine Art zu dirigieren hatte vor allem gegen Ende seines Lebens etwas sehr Spirituelles. Seine Bewegungen waren fließend und schön anzusehen. Er besaß die Gabe, Orchester dazu zu bringen, für ihn ihr Bestes zu geben.“
Unter Leitung Ticciatis führte das Deutsche Symphonie-Orchester im September beim Musikfest Berlin mit Gesangssolisten und dem Berliner Rundfunkchor neben Debussys Bühnenmusik zu Le martyre de Saint Sébastien auch eine von Abbado zusammengestellte Suite aus Richard Wagners Oper Parsifal für Chor und Orchester auf. Werke von Fauré, Berlioz und Mozart stehen auf dem Programm, wenn Ticciati im kommenden Januar in der Philharmonie zum fünften Todestag des großen Dirigenten ans Pult des Chamber Orchestra of Europe treten wird.
Mit dem DSO widmet er sich in dieser Saison unter anderem auch Händels Messias, Brahms-Sinfonien oder zeitgenössischen Stücken, darunter eine Uraufführung von Aribert Reimann. „Mit dem Orchester will ich in Berlin Teil des großen Ganzen, des kulturellen Sturms sein“, so Ticciati. Mit seinen Musikern ist er außerdem auf Tourneen im In- und Ausland zu erleben, etwa in Köln, Ludwigshafen, Lugano und Lyon.