Shura Cherkassky
Übernatürlich
von Ruth Renée Reif
26. Dezember 2020
Shura Cherkassky gehörte zu den großartigsten Pianisten der Geschichte. Über sieben Jahrzehnte währte seine herausragende Weltkarriere. Am 27. Dezember 2020 jährt sich sein Todestag zum 25. Mal.
Vieles ist unsicher und zweideutig im Leben Shura Cherkasskys. Sein Geburtsjahr wird mit 1911 angegeben, soll jedoch 1909 gewesen sein. Als sein Sterbetag wird der 27., aber auch der 29. Dezember genannt. Seine Haltung gegenüber seiner Homosexualität empfand er selbst als widersprüchlich. Sicher ist jedoch, dass die Musikwelt vor 25 Jahren einen der größten Pianisten der Geschichte zu betrauern hatte.
Shura Cherkassky kam in Odessa zur Welt. Seinen ersten Klavierunterricht erhielt er mit vier Jahren von seiner Mutter, die seine außerordentliche musikalische Begabung förderte. Im Alter von elf Jahren hatte er in Odessa seinen ersten öffentlichen Auftritt. Die in der Stadt wütende Hungersnot sowie der Krieg und die russische Eroberung, bei der Cherkassky auf dem Balkon des elterlichen Hauses beinahe vom Querschläger eines Bolschewiken getroffen wurde, veranlassten die Familie, sich um die Emigration in die USA zu bemühen. Verwandte, die bereits zuvor emigriert waren, unterstützten sie dabei.
1922 konnte sich die Familie in Baltimore niederlassen, wo Cherkassky 1923 öffentlich auftrat. Als übernatürlich wurde seine Begabung beschrieben, und er erhielt die Einladung, vor dem Präsidenten Warren G. Harding im Weißen Haus zu spielen. Ab 1925 studierte er am ein Jahr zuvor eröffneten Curtis Institute of Music in Philadelphia bei Józef Hofmann, einem aus Polen stammenden Komponisten, Pianisten und Erfinder. Zuvor hatte seine Mutter ihn anderen Pianisten vorgestellt wie Wladimir von Pachmann, Ignace Jan Paderewski und Sergei Rachmaninow in New York. Dieser hatte sich durchaus bereit gezeigt, Cherkassky als Schüler anzunehmen, allerdings nur unter der Bedingung, dass er zwei Jahre keine Konzerte gebe und seine gesamte Technik ändere. Hofmann dagegen ermutigte ihn, zu häufigen öffentlichen Auftritten. So unternahm Shura Cherkassky bereits während seiner Ausbildung ausgedehnte Konzertreisen. Sie führten ihn 1928 nach Australien und Neuseeland, 1929 nach Südafrika und nach Auftritten in London von 1931 bis 1933 wieder auf den afrikanischen Kontinent.
Konzerte in aller Welt
Das Reisen behielt Cherkassky sein Leben lang bei. Nach dem Abschluss seines Studiums kam er 1936 über den Fernen Osten und Sowjetrussland erneut nach Europa. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs durchkreuzte er den Kontinent in alle Richtungen. Zwar stand er während des Krieges auf den Podien aller großen Orchester der USA und wirkte an Filmaufnahmen mit. Doch beschrieb er diese Jahre später als die schlimmsten seines Lebens.
1946 konnte er sein Tourleben mit Auftritten in Europa wieder aufnehmen. 1949 absolvierte er in Hamburg sein erstes Deutschland-Konzert, obwohl man ihm aufgrund seiner jüdischen Herkunft abgeraten hatte. Und nachdem er mit seiner Mutter nach Südfrankreich gezogen war, kehrte er immer wieder. Nach dem Tod seiner Mutter 1961 verlegte er seinen Wohnsitz nach London. Auch durch die Sowjetunion tourte er und gab unter anderem Konzerte im jüdischen Kulturzentrum 92nd Street Y in New York.
Die zwiespältige Haltung zu seiner Homosexualität
Was Cherkassky neben seiner pianistischen Begabung kennzeichnete, war die Traurigkeit, die ihn stets umflorte. Elizabeth Carr, die ihn während seiner letzten 20 Jahre auf Tourneen begleitete, seinen Proben beiwohnte und viele Gespräche mit ihm führte, befasst sich in ihrer 2006 erschienenen Biografie The Piano’s Last Czar mit dieser Traurigkeit. Sie führte sie auf Cherkasskys Homosexualität zurück, zu der er eine zwiespältige Haltung einnahm. Er habe sie zwar nicht versteckt und sich ihrer auch nicht geschämt, aber sie nicht gemocht, erläutert sie.
BU: Elizabeth Carr: „Shura Cherkassky. The Piano’s Last Czar” (2006, The Scarecro Press)
„Ich wünsche mir eine Frau in einem männlichen Körper“, habe er ihr einmal gesagt. Und in diesen Worten könnte aus ihrer Sicht eine Erklärung liegen, warum er zwar feste und ausdauernde Beziehungen zu Frauen einging, seine körperlichen Begierden aber mit Männern befriedigte. Obwohl er bis zu den letzten Monaten seines Lebens sexuell aktiv geblieben sei, habe er niemals die Art befriedigender Beziehung gefunden, nach der er sein Leben lang verzweifelt gesucht habe. Die Ehe, die er 1946 im kalifornischen Laguna Beach mit der Konzertveranstalterin Eugenie Blanc eingegangen sei, habe sich als fehlgeschlagener Versuch erwiesen, das Problem zu lösen. Sie sei zwei Jahre später in einer bitteren Scheidung gemündet.
Über sieben Jahrzehnte währte Shura Cherkasskys Karriere. Dafür berühmt, niemals ein Stück zweimal auf die gleiche Weise zu spielen, war es zudem eine faszinierende Brillanz, die sein Spiel bis zuletzt auszeichnete. Zu seinem 80. Geburtstag 1991, der wohl bereits sein 82. war, spielte er in der New Yorker Carnegie Hall. Der Pianist Stephen Hough, der durch seinen Lehrer Gordon Green auf Cherkassky aufmerksam wurde, befragte ihn in einem Interview nach seiner Technik, seinem Spiel und auch seinem Üben. Er übe täglich vier Stunden, erläuterte Cherkassky und betonte die Notwendigkeit eiserner Disziplin. Wenn er übe, klinge es, als könne er nicht spielen, erläuterte er. Er lege seine Finger auf die Tasten, achte darauf, dass jeder sich genau in der Mitte befinde und spiele dann sehr langsam.
Ein Repertoire vom Barock bis zur Gegenwart
Beeindruckend wie sein Spiel war auch Cherkasskys Repertoire. Es zeichnete sich durch enorme Bandbreite aus, die vom Barock bis in die Gegenwart reichte. Berühmt wurde Cherkassky vor allem als Liszt- und Rachmaninow-Interpret. Doch erachtete er es als überaus wichtig, neue Kompositionen zu spielen und schätzte die Herausforderung zeitgenössischer Werke. So spielte er etwa Kompositionen von Luciano Berio, Leonard Bernstein, Paul Hindemith, György Ligeti, Karlheinz Stockhausen und Charles Yves. Als er am 27. oder auch am 29. Dezember in London starb, begann die Musikwelt erst nach und nach zu erkennen, welch außergewöhnlichen Pianisten sie verloren hatte.
Eine große Anzahl an Aufnahmen von Shura Cherkassky hält die NML bereit.