„Schubladen”, das ist so ein typischer Satz von Jessye Norman, „sind für Socken da.” Vielleicht sagte sie ihn so gern, weil sie 1945 in Georgia mitten in eine Welt voller Schubladen geboren wurde: Schwarze wurden in die eine Schublade gesteckt, Weiße in die andere. Normans Eltern – eine Lehrerin und ein Versicherungsagent – kämpften dafür, die Schubladen aufzubrechen, schickten ihre Tochter am Ende dennoch an die afroamerikanische Privat-Universität Howard in Washington, D.C.
Jessye Norman war bereits die zweite Generation von afroamerikanischen Sängerinnen, die sich ihren Weg an die Opernhäuser der Vereinigten Staaten bahnten. Als Jugendliche hörte sie, so erzählte sie es in zahlreichen Interviews, während sie ihr Zimmer aufräumte, regelmäßig die Live-Übertragungen der Metropolitan Opera im Radio – und dort sang bereits Marian Anderson. Sie war die erste schwarze Sängerin auf der größten Bühne der Nation. Und Marian Anderson war es auch, die für Jessye Norman die Schubladen ihrer Kunst endgültig abgeschafft hatte. Wegen Andersons habe sie sich überhaupt überlegen können, ob sie Verdi oder Wagner singen wolle, erzählte sie einmal, statt dass ihr, wie es noch wenige Jahre vorher der Fall war, gesagt wurde, dass sie Porgy and Bess singen müsse. Was es über den Zustand der USA aussagt, dass die MET Jessye Norman anlässlich ihres Todes ausgerechnet die Aufführung des Gershwin-Klassikers widmete, sei dahingestellt.
Die einmalige Karriere von Jessye Norman löst auch die Schubladen der Nationen und Kontinente auf. Ihre große Karriere begann nicht in den USA, sondern in Deutschland – beim Internationalen Musikwettbewerb der ARD und beim anschließenden, vierjährigen Fest-Engagement (dem einzigen in ihrer Karriere) an der Deutschen Oper in Berlin. Hier sang sie unter anderem die Elisabeth aus Wagners Tannhäuser. Und wie! Jeden Aufzug legte sie eine neue Charakter-Facette in ihre Stimme: die jugendliche, hoffnungsfrohe Liebhaberin, die Aufsässige gegen die Wartburg-Gesellschaft, die leidende, zu Tode betrübte Geliebte des verdammten Minnesängers.
Schon in diesen frühen Jahren hörte man, was Jessye Normans Stimme auch später auszeichnen sollte: Sie war derart groß, dass sie in jedem Charakter, egal, ob es Aida war oder Sieglinde, ob er von Verdi oder von Wagner erfunden war, von Meyerbeer oder von Schönberg, niemals nur Oberfläche suchte, sondern in den Abgründen ihres Organs immer die passende Nuance für den jeweiligen Moment aufspürte – Menschen waren für sie stets dreidimensional.
Man könnte auch sagen: Jessye Norman weigerte sich, die Charaktere, die sie verkörperte, in eine Schublade zu stecken – jeder Einzelne wurde von ihr aufmerksam, mit Liebe erforscht und vor allen Dingen mit diesem schier unendlichen Sopran, der so tief war wie die Mutter Erde und so hoch wie die wolkenlos strahlende Sonne. Stets, und auch das ist besonders, mit perfekter Diktion – in Englisch, Französisch, Italienisch oder Deutsch.
Als alle glaubten, Jessye Norman verortet zu haben, ging sie dorthin, von wo sie sich eigentlich befreit hatte: zurück zum Jazz und zum Gospel. Weil sie es wollte. Nicht mehr, weil sie es musste. Und das hörte man ihr an. Jeder Choral, jeder Song wurde eine Ode an die Freiheit, die Lebendigkeit, die Melancholie. Und es passierte etwas Wunderbares: Während andere Opernstars durch Crossover versuchen, Pop-Publikum zur Oper zu bewegen, begeisterte Norman ihr Opernpublikum in Scharen für den Jazz!
Vor allen Dingen aber schaffte Jessye Norman es, zwei andere Schubladen zu einer zusammenzulegen: Die Lade der Göttin, der Diva, mit der Lade des Menschen. Nur wenigen gelingt der Spagat zwischen außerweltlicher Unangreifbarkeit, die Norman qua Stimme zuteilwurde und die sie durch ihre bombastischen Auftritte (man denke allein an das Tricolore-Outfit zum 300. Jubiläum des Sturmes auf die Bastille in Paris!) unterstrich, und der tiefen Menschlichkeit, die sie zum einen durch ihr Engagement für Obdachlose zeigte, zum anderen jedem entgegenbrachte, der ihr gegenübertrat – durch ihre Fähigkeit zuzuhören, interessiert zu sein, stets auf Augenhöhe zu reden und vor allen Dingen: durch ihre Freude daran, gemeinsam mit anderen Menschen zu lachen.
In den letzten Jahren ihrer Karriere löste Jessye Norman noch einmal alle Schubladen auf und beschränkte sich fast ausschließlich auf das Genre des Liedes. Hier, in diesen Opern für die Hosentasche, in diesen Mikrokosmen, in denen es darum geht, in Millisekunden Stimmungen zu ändern, Geschichten zu erzählen, Endlosigkeit durch Legati zu kreieren und das Wort als Ausdrucksmittel zu benutzen, riss sie innerhalb weniger Minuten gigantische Seelenwelten auf. Nachzuhören unter anderem in ihren einmaligen Vier letzten Liedern von Richard Strauss.
Mein Kollege Claus Fischer postete heute eine dieser wunderbaren Geschichten auf Facebook, die mit genau dieser Aufnahme in Verbindung stehen. Demnach besuchte Norman nach der legendären Aufnahme der „Vier letzten Lieder“ mit Kurt Masur die Musikalienhandlung M. Oelsner in Leipzig, stöberte so lange, dass die Nacht einkehrte, der Laden nur noch für sie geöffnet war, schritt mit einem Stapel Noten zur Kasse und bestellte ein Taxi. Das war in Leipzig zu dieser Zeit schwer zu organisieren, also bugsierte der Inhaber die korpulente Diva kurzerhand in seinen Wartburg und fuhr sie ins Hotel. Das Schöne ist: Man kann sich den Spaß, das Lachen und die Stimmung einer solchen Fahrt bildhaft vorstellen – auch und gerade an einem traurigen Tag wie ihrem Tod.