Plácido Domingo, René Kollo u.a.
Die tollkühnen Männer und ihre fliegenden Stimmen
von Axel Brüggemann
9. Juli 2021
Mythos Tenor: ein Ritt durch die Geschichte und ein Ausblick auf den Tenor der Zukunft
Wie schnell kann man in die Kurve brettern, ohne im Straßengraben zu landen? Und wie energisch kann man das hohe C angehen, ohne es zu versemmeln? Tenöre sind die Formel-1-Fahrer der Klassik. Plácido Domingo hat mir einmal erklärt: „Wenn du auf der Bühne stehst, spürst du, wie viele Leute ihre Ohren aufsperren und heimlich hoffen, dass du das hohe C nicht triffst.“ Ein Tenor braucht Nerven aus Drahtseilen und samtweiche Stimmbänder. Tenor ist ein Beruf zwischen Heldentum und Scheitern, zwischen strahlendem C und dumpfem „Buh“.
Ikonen der Gegenwart
Und mehr noch: Die tollkühnen Tenöre mit ihren hohen Stimmen sind akustische Spiegel ihrer Zeit. In ihren Arien und ihrem Habitus zeigen sich die Moden ihrer Welt. Tenöre sind Ikonen der Gegenwart, Stimmen wie Soundtracks ihrer Epochen. Der auf Schellack-Platten schmetternde Enrico Caruso brüllte seinen Verdi so emotional in die Aufnahmeröhren, dass man den Beginn des „Jahrhunderts der Extreme“ sofort hören konnte. Die Herzen der wilden 20er-Jahre flogen Richard Tauber zu, der den Spagat von Oper zu Operette wagte. Die schier endlosen „Wälsungen-Rufe“ von Mario del Monaco läuteten die Zeit des protzenden Wirtschaftswunders ein, durch die Franco Corellis Organ wie ein wildes schwarzes Edelpferd galoppierte – und in Deutschland trällerte Rudolf Schock mit schönster Operettenseligkeit für das Vergessen der Vergangenheit. In den 70er-Jahren tingelten Tenöre – an der Seite von Sopranen und Baritonen – gern durch deutsche Unterhaltungssendungen und sangen gleichzeitig auf der Bayreuther Opernbühne einen perfekten Tristan-Marathon: René Kollo ist bis heute das wohl beste Beispiel dieser neuen Vielseitigkeit.
Tenöre der 80er- und 90er-Jahre repräsentierten gern das Bild testosteronseliger Männlichkeit – oder dessen, was man sich in dieser Zeit darunter vorstellte. Höhepunkt und Ende dieser Ära bildeten die „drei Tenöre“. Nach ihnen begann unsere heutige Tenor-Gegenwart – und die verzichtet erstaunlicherweise wieder auf großes Protzertum. Klaus-Florian Vogt, Juan Diego Flórez oder Jonas Kaufmann suchen die Inhalte ihrer Arien nicht mehr im Dauer-Fortissimo, sondern in den Seelen ihrer Figuren, in deren Psychologie. Man könnte auch sagen: Sie lassen ihre Stimmen zugunsten der Aussage schrumpfen.
Drei Feinde fürs Leben
Rolando Villazón war die vielleicht letzte Stimme, die sich noch einmal mit schmetternder Rücksichtslosigkeit gegen diesen Trend gestellt hat. Mit fatalen vokalen Folgen. Immerhin: Er hat die Vielfalt des Sängers entdeckt und – ähnlich wie Domingo – früh neue Pferde gesattelt: als Intendant, als Autor, als Moderator, als Regisseur und immer als „Tenor, der früher so vielversprechend war“.
Tatsächlich lohnt es sich, noch einen Augenblick bei den drei Tenören zu verweilen, um die wohl größte Zeitenwende der Klassik zu verstehen. Pavarotti, Domingo und Carreras pflegten jeder auf seine Weise ihre Tenor-Spleens, die sich in den Jahrzehnten vor ihnen etabliert hatten. Jeder stand für einen Tenor-Typus: Pavarotti der Lebemann, Domingo der Tausendsassa, Carreras der Ehrgeizige. Drei Gegensätze, die plötzlich in ihren Arien-Medleys miteinander verschmolzen. Drei Feinde fürs Leben, die eine lukrative Freundschaft in Musik inszenierten.
Allen voran natürlich Luciano Pavarotti, der Bäckersohn aus Modena mit seiner engelsgleichen Butterstimme. Er verkörperte die exzentrische Tenor-Linie, stand für Taschentuch, Pasta und Oper mit großem „O“! Er war der älteste der drei, und er war der Geschäftsmann unter ihnen. Pavarotti wusste: Er war das Zugpferd, brauchte aber die anderen. Und ziemlich schnell ging es ums Geld.
Eine Marke und unverschämt viel Geld
Nachdem niemand mit dem Erfolg des ersten Konzerts zur Fußball-WM in den Thermen von Caracalla gerechnet hatte und die drei Tenöre mit verhältnismäßig wenig Tantiemen abgespeist wurden – die Rede ist von 250.000 Dollar –, waren es Pavarotti und sein Management, die nun das große Geld witterten! Der Veranstalter Tibor Rudas kam eigentlich aus dem Pop-Bereich und popularisierte mit Pavarotti nun die Klassik: Der Tenor mit dem Taschentuch war sein Goldesel!
Beim ersten Konzert war es noch die Plattenfirma, die mächtig abgesahnt hatte: Millionenverkäufe und eine geringe Beteiligung der Tenöre. „Die haben das große Geld gemacht“, erzählte mir Zubin Mehta einmal, „und uns nicht einmal eine Weihnachtskarte geschickt.“ Auch Domingo war ziemlich sauer über den ersten Platten-Deal der drei Tenöre und vermutete, dass Pavarotti später heimlich Geld von der Plattenfirma erhalten habe.
Doch schon beim zweiten Konzert drehten die Tenöre den Spieß um: Die Plattenrechte wurden an den Meistbietenden versteigert, und die Sänger ließen sich großzügig beteiligen. Das Projekt „Die drei Tenöre“ wurde zu einer Marke, mit der man erfolgreich durch die Welt tingelte und unverschämt viel Geld von München über Los Angeles bis Tokio und Peking verdiente. Nie zuvor und nie danach wurde so viel Kohle mit klassischer Musik eingespielt. Auch auf diesem Feld haben Pavarotti, Domingo und Carreras eine Zeitenwende eingeläutet. Möglich war all das nur mit Tenören! Im Nachklapp gab es „Die zwölf Cellisten“ und „Die drei Soprane“ – aber niemand war so erfolgreich wie „Die drei Tenöre“. Inzwischen wissen wir, wie einmalig sie waren. Auch weil sie so unterschiedlich waren.
Eine neue Zeitenwende
Der Rest war Kommerz: Plattenfirmen, Veranstalter und Manager hatten durch „Die drei Tenöre“ begriffen, dass Klassik ein Geschäft sein konnte. Egal, ob David Garrett, Andrea Boccelli oder der Casting-Tenor Paul Potts. Sie spielten perfekt aus der Partitur der „Geldscheinsonate“. Eine goldene Ära war angebrochen, von der viele profitieren wollten. Die Ausläufer dieses Trends markierte schließlich die mediale Inszenierung einer Sopranistin: Anna Netrebko, an deren Seite die Tenöre – einer nach dem anderen – eingingen.
Inzwischen hat eine neue Zeit begonnen. Stimmen wie Klaus Florian Vogt oder Jonas Kaufmann sind Gegenmodelle zu den Turbo-Tenören. (Nur Roberto Alagna scheint als Einziger die alten Fahnen der „drei Tenöre“ hochzuhalten). Dienende Tenöre unterscheiden sich auch in ihrem Habitus von den alten Stimmtitanen. Man muss die neue Art zu singen nicht mögen, aber auch in ihrer Innerlichkeit repräsentieren die neuen Tenöre einen Zeitgeist: „reduce to the max“.
Besonders Jonas Kaufmann hat gelernt, dass man trotz kleinerer Stimme nicht auf großes Marketing verzichten muss. Sein Weihnachtsalbum hat er mit buntem Bilderbuch in der „Collector‘s Edition“ herausgebracht, gespickt mit vielen Familienbildern. Kaufmann lädt Society-Journalistinnen zum Grillen ein und lässt sie dabei eine Amazon-Doku drehen, die etwas später auf einem Internetportal, umgeben von Herzschmerz-Serien, feilgeboten wird. Das mag manch einer eitel, fragwürdig oder heikel finden – aber es scheint Erfolg zu haben. Auch wenn Kaufmann noch immer als einer der besten Tenöre unserer Zeit auf der Bühne steht, wird man sich um die Zeit nach seinem Bühnenabschied wohl keine Sorgen machen müssen. Aber noch innerlicher, noch psychologischer können Tenöre nicht werden – was letztlich bedeutet, dass wir nun erneut vor einer Zeitenwende stehen.
Der neue Tenor-Typus
Vielleicht steht jemand wie Benjamin Bernheim für den neuen Tenor-Typus: ein kluger Sänger, der die alten Tugenden der großen Stimme wiederentdeckt und neu deutet. Jemand, der die Tenor-Tradition auf seine Tenor-Möglichkeiten zuschneidet und damit zum singenden Symbol unserer Zeit werden könnte.
Ganz nebenbei stellt sich in dem Zusammenhang die Frage, wie modern Autorennen eigentlich noch sind. Passt es noch in unsere Zeit, dass wir Menschen dabei zuzuschauen, wie sie mit 240 Sachen in die Kurven rasen? Ist es immer noch spannend, zu sehen, ob ein Tenor das hohe C packt oder nicht? Sind Tenöre, bei denen es um Testosteron und Höhe geht, überhaupt noch zeitgemäß? Egal, ob im Habitus, ihrer gesellschaftlichen Bedeutung oder dem finanziellen Erfolgsmodell – ein Tenor der Gegenwart muss in vielen Bereichen umdenken.