Dirigenten-Legenden
Fünf Großmeister des 20. Jahrhunderts
7. Dezember 2018
Historische Ausgrabungen von den Legenden Celibidache und Végh über die Altmeister Rosbaud und Munch bis zum unbekannten Giganten Frank Merrick.
Warner Classics präsentiert eine 13-CD-Box mit dem elsässischen Maestro Charles Munch, die perfekt die Prachtbox seiner kompletten RCA-Aufnahmen mit dem Boston Symphony Orchestra ergänzt: französische Aufnahmen 1935 – 49 und 1965 – 68, also vor und nach seiner Bostoner Zeit, vorwiegend französisches Repertoire, darunter Raritäten einstiger Größen wie der vergessenen Komponisten Samazeuilh, Louis Aubert oder Delannoy oder mit Pianisten wie Marguerite Long, Jacques Février, Jean Doyen oder Joseph Benvenuti, dem Cellisten André Navarra und Geigern wie Jacques Thibaud, Denise Soriano oder Henry Merckel. Besonders fesselnd sind die brillanten Aufführungen von Henri Dutilleux, Albert Roussel, André Jolivet und Arthur Honegger sowie das Bloch-Violinkonzert mit Joseph Szigeti.
Bei SWR Classic schreitet die Hans-Rosbaud-Edition konsequent voran und erreicht mit einer Mozart-Box (aus den Jahren 1951 – 62 auf neun CDs) ihren bisherigen Höhepunkt: hellwaches, inspiriertes und hochkultiviertes Musizieren, an dem auch Solisten wie Maria Bergmann, Monique Haas, Robert Casadesus, Friedrich Gulda, Géza Anda, Dennis Brain oder Kim Borg beteiligt sind. Zeitlos maßstabsetzend.
„Wandlungsfähigkeit und Fähigkeit zusammenhängender Gestaltung “
Der Brite Frank Merrick (1886 – 1981) war nicht nur einer der intelligentesten und mutigsten Musiker des 20. Jahrhunderts, sondern auch einer der feinsten und bezauberndsten Pianisten, der in unbekanntem Gelände mit ebenso klarer Vision agierte wie in Werken von Mozart, Beethoven, Schubert oder Debussy. Frank Merricks sechs Alben umfassende A Recorded Legacy bei Nimbus bietet nur einen Bruchteil der in späten Jahren entstandenen Aufnahmen und ist eine der unauffälligen Sensationen der Musikwelt. Flankiert von einem exzellenten Booklet-Essay, wird dieser überragende Meister, der 1918 als kompromissloser Pazifist für zwei Jahre ins Zuchthaus ging, auch mit solchen unbekannten Großwerken wie Max Regers Bach-Variationen, den vier Sonaten von Arnold Bax oder Stücken von John Field, Alan Rawsthorne und seiner Lebensgefährtin Hope Squire vorgestellt, die er mit vollendeter Schönheit, Klarheit und Innigkeit darbot. Und mit seiner eigenen Musik, die in distinguierter Eigenständigkeit Esperanto-Lieder, Klavierstücke und den langsamen Satz seines Zweiten Klavierkonzerts zelebriert sowie die bis heute unübertroffene Vollendung von Schuberts Unvollendeter, mit der Merrick 1928 vorübergehend weltbekannt wurde. Eine ganz große Entdeckung!
Großartiges bietet auch die Sándor-Végh-Edition des Budapest Music Center (BMC Records). Nach den ersten vier Schubert-Sinfonien mit der Salzburger Camerata (die erste habe ich nirgends so gut gehört) und einer weiteren Doppel-CD mit Beethovens Coriolan-Ouvertüre, Mozarts Haffner- und Haydns 103. Sinfonie sowie Schuberts großer C‑Dur Sinfonie sind nun auch die Doppelalben „Végh – The Chamber Musician“ (Beethovens letzte Violinsonate op. 96 und das Dritte Rasumowsky-Quartett, Schönbergs Pierrot lunaire und Schuberts Streichquintett) sowie, als Exempel höchster Streichquartett-Kunst, „Végh and His Quartet“ (mit Beethoven, Barber, Alban Bergs Lyrischer Suite und den Zweiten Quartetten von Bloch, Honegger und Jelinek) erhältlich. 1912, im gleichen Jahr wie Végh, ist auch Sergiu Celibidache geboren, und die Münchner Philharmoniker haben mit ihm nun nicht nur ein hinreißendes Ravel-Album veröffentlicht (darunter erstmals die beiden Daphnis-et-Chloë-Suiten), sondern auch in ihrer repräsentativ aufgemachten 125-Jahre-Jubiläumsbox (auf welcher die anderen großen Chefdirigenten Hausegger, Kabasta und Kempe fehlen) eine Prokofjew-Schau, die mit der radikalen Skythischen Suite und einer siebensätzigen Suite aus dem großen Seelendrama Romeo und Julia (finaler Höhepunkt: Tybalts Tod) die unglaubliche Stilsicherheit, Wandlungsfähigkeit und Fähigkeit zusammenhängender Gestaltung Celibidaches unterstreicht. Das allein ist die Anschaffung der Box wert.