Das Jahrhunderthochwasser führte im Juni zur Absage der Händel-Festspiele in Halle. Die Folge: eine Welle an Hilfsbereitschaft – aber auch Kritik.
Ende Mai, 2013. In Halle ist für die Händel-Festspiele alles vorbereitet: Die Karten sind verkauft, die Spielstätten hergerichtet. Nur in Halle zu den Händel-Festspielen kann man die Musik des Komponisten und die seiner Zeitgenossen mit Weltklassekünstlern an authentischen Orten hören. Die Hallenser freuen sich auf die Künstler, die in diesem Jahr auftreten sollen. Die Festspiele sind ein kulturelles Highlight der Stadt. Der Sekt für die erste Pausenbewirtung liegt schon kalt.
Dann beginnt es zu regnen. Tagelang stürzt das Wasser vom Himmel. Laut Berechnungen des Deutschen Wetterdienstes werden allein in den Bundesländern Bayern, Sachsen, Thüringen und Hessen in den vier Tagen des Starkregens zwischen 30. Mai und 2. Juni insgesamt 13,4 Milliarden Kubikmeter Niederschlag aufgezeichnet.
Das Wasser tritt über die Ufer. In Passau erreicht die Donau am Abend des 3. Juni einen Rekordpegelstand von 12,89 Metern.
Kurze Zeit später erreicht das Hochwasser Sachsen-Anhalt und damit auch Händels Geburtsstadt. Als das Wasser der Saale, die über die Ufer getreten ist, den Glauchaer Platz teilweise überspült, 700 Meter entfernt vom Händel-Haus, entschließen sich der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Dr. Reiner Haseloff, und Halles Oberbürgermeister, Dr. Bernd Wiegand, zu einem – zumindest aus kultureller Sicht – drastischen Schritt: Die Händel-Festspiele werden abgesagt. Alle Konzerte und Veranstaltungen entfallen. Wegen „höherer Gewalt“. Erstmals in der Geschichte des Festivals. Und sie sind nicht die einzigen: Das Literaturfest Meißen fällt aus, das Puppentheater Magdeburg sagt sein Theaterfestival ab, das Classic Open Air in Gera kann nicht stattfinden.
In Halle wird der Katastrophenfall ausgerufen. Statt Sekt-Kisten schleppt man jetzt Sandsäcke, rettet das, was zu retten ist. Klar, dass die Bewohner der Stadt nun erst mal an sich denken müssen. Doch schnell wird das Ausmaß der Festspiel-Absage für den Kulturbetrieb deutlich: Die gekauften Karten werden zurückerstattet. Künstler-Gagen und Verträge müssen beglichen werden. Die Händel-Festspiele stehen vor dem Aus. Kritik wird laut. Hat die Absage sein müssen?
Clemens Birnbaum, Intendant der Händel-Festspiele sagt: „In dieser Situation lag es an der Leitung des Katastrophenschutz-Stabes, zu entscheiden, ob die Infrastruktur überhaupt in der Lage wäre, zehntausende Festspiel-Besucher in die Stadt zu bringen. Der Katastrophenfall wurde kurz vorher festgestellt. Niemand konnte vorhersagen, ob und in welcher Form die Infrastruktur zur Verfügung steht. Zeitweise waren auch Zugverbindungen unterbrochen.“ Die Absage der Festspiele schmerzt. Aber Birnbaum bringt es auf den Punkt: „Natürlich gab es auch die ethisch-moralische Frage: Darf man überhaupt ein Fest feiern, wenn ansonsten Land unter ist? Unsere erste Veranstaltung sollte eine Feierstunde am Händel-Denkmal auf dem Marktplatz sein. Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, dass man eine Feierstunde abhält, während auf der gegenüberliegenden Marktseite Sandsäcke gefüllt werden.“
Verständlich. Doch das sehen nicht alle so: Unmittelbar nach der Absage meldet sich Alex Köhler, der Intendant der Oper Halle zu Wort. „Aus meiner Sicht ist der Stadt und auch den Flutopfern durch die Absage der Händel-Festspiele kein Nutzen entstanden, sondern es hat sich der materielle Schaden vergrößert, das Image ist beschädigt und die Chance auf ein Handeln im Sinne Georg Friedrich Händels vertan worden“, schreibt er in einem offenen Brief an Oberbürgermeister Wiegand. Auch Künstler schalten sich in die Diskussion ein. Die Pianistin Ragna Schirmer, die in Halle lebt und den Händel-Festspielen durch ihre künstlerische Tätigkeit eng verbunden ist, schreibt auf Facebook: „Halle! […] Die Entscheidung, Dir angesichts der Naturkatastrophe Dein schönstes Kleid der Händelfestspiele auszuziehen und wegzunehmen, ist das eine. Das kann man, wenn schon nicht gutheißen, doch zumindest zu verzeihen versuchen. Aber dass Du jetzt mit Deiner Sturheit weiterhin alles ablehnst, was wir Künstler Dir darreichen wollen an Medizin, und Dich so noch kränker machst, das verstehe ich nicht. […] Wir wollen doch alle nur helfen.“ Aus der Notsituation wird eine kulturpolitische Grundsatzdiskussion. „Das unterschwellige politische Signal der Absage der Händel-Festspiele lautet deshalb: Wir können Kunst in dieser Situation nicht gebrauchen, wir wollen die Kunst und Kultur nur dann, wenn es uns gut genug dafür geht, als verzichtbares Sahnehäubchen also“, heißt es im Brief von Köhler weiter.
Die Händel-Festspiele haben Glück: Zahlreiche Konzertbesucher spenden ihren Ticketpreis, Künstler verzichten auf ihre Gage. 360.000 Euro können gespart werden, weil betroffene Unternehmen auf Technik‑, Leihgebühren und Mietkosten verzichten. Sponsoren sprechen ihre Unterstützung aus. Der Spendenaufruf der Händel-Festspiele reicht über die Stadtgrenzen hinaus: Karlsruhe, Göttingen und London machen sich für den Erhalt des Festivals stark. Anfang Juli kommt die erlösende Botschaft: Die Zukunft der Händel-Festspiele ist gesichert. Ein Teil der Konzerte wird nachgeholt, in einer Festwoche, die als „Händel im Herbst“-Tage im November stattfinden wird. Das Eröffnungskonzert mit Dorothee Mields am 13. November wird kostenfrei sein – als Dank an alle Spender und Unterstützer. Auch Ragna Schirmer spielt für ihre Stadt, und zwar am 3. Oktober ihre im Rahmen der Festspiele geplante Uraufführung des Auftragswerks von Guillaume Connesson.
Für die Händel-Festspiele bleibt ein Gefühl des Bedauerns zurück. „Natürlich ist es furchtbar, wenn einem durch eine solche Naturkatastrophe etwas genommen wird, das man seit Jahren geplant hat. Da geht es uns nicht anders als den vielen Menschen, deren Häuser überflutet waren. Und man kann nichts dagegen tun“, so Birnbaum. Und doch haben Besucher, Kulturschaffende, Sponsoren, das Land Sachsen-Anhalt und die Stadt Halle ein deutliches Zeichen gesendet: Wir wollen, dass die Händel-Festspiele weiterbestehen. Birnbaum und sein Team sind gerührt von so viel Hilfsbereitschaft und Sympathiebekundung. Einige Besucher kamen trotz der Absage nach Halle. „Schade, dass die Festspiele ausfallen mussten“, sagen sie, „aber nächstes Jahr, da sind wir wieder da.“