John Barbirolli
Jahrhundertdirigenten!
20. Oktober 2020
John Barbirolli, Fritz Reiner, Charles Munch, Carl Schuricht, Hans Rosbaud und ihre Maßstäbe setzenden Einspielungen klassischer und selten gespielter Werke
Als 1936 das New York Philharmonic Orchestra John Barbirolli (Titelfoto des Beitrags: © Warner) zu seinem neuen Chefdirigenten – und damit zum Nachfolger von Toscanini – ernannte, war die Sensation groß. Freilich verstand es die New Yorker Presse, über sieben Jahren den hochbegabten Italo-Engländer so effizient zu diffamieren, dass er mitten im Kriege das Angebot, das zugrunde gerichtete Hallé Orchestra im heimischen Manchester wiederaufzubauen, annahm. Barbirolli machte das Hallé Orchestra zu einem der unverwechselbarsten europäischen Klangkörper und dirigierte dort bis zu seinem Tode am 29. Juli 1970.
Zu Barbirollis 50. Todesjahr haben nun sowohl Warner Classics als auch Sony ihre Bestände kompiliert: Sony mit einer Sechs-CDs-Box sämtlicher kommerziellen New Yorker Aufnahmen und Warner mit dem 109 CDs umfassenden Rest, weit überwiegend vom Hallé Orchestra gespielt, aber auch von den Berliner (Mahlers Neunte) und Wiener (Brahms« Erste bis Vierte) Philharmonikern. Die Warner-Anthologie ist das umfassende Portrait eines großen Jahrhundertdirigenten, und wer Maßstäbe setzende Einspielungen von Musik von Sibelius, Elgar, Vaughan Williams, Mahler, Delius oder Bax sucht, kommt um die Anschaffung nicht herum. Barbirolli hat noch unter Elgar gespielt, und mit einer innigeren Verbindung von Wärme, Kraft und Würde ist diese Musik nirgends zu hören. Der Barbirolli-Stil ist stets leidenschaftlich zupackend, gut geerdet, das Sangliche hervorhebend, doch nicht in Süße und Kitsch abgleitend. Es ist ein immer intensives, dichtes, sprachmächtiges Musizieren, bedingungslos in der Charakterzeichnung. Natürlich sind auch die zentralen Meister Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Tschaikowsky usw. in durchweg geschmackvollen, spannungsgeladenen Aufführungen dabei, ob man nun allem zustimmt oder nicht. Und dann sind da unter den frühen Dokumenten unglaublich faszinierende Aufnahmen mit großen Sängern wie Dusolina Giannini, Feodor Schaljapin, Benjamino Gigli usw., die auch zeigen, was für ein fesselnd präsenter Begleiter Barbirolli war. Nicht zu vergessen die legendären Aufnahmen mit Jacqueline Du Pré bzw. Daniel Barenboim und großartige Chormusik von den Totenmessen Mozarts und Verdis bis zu Elgars Dream of Gerontius. Diese Box gehört zum Wunderbarsten seit langer Zeit.
Sperrig oder spritzig?
Nachdem Sony schon die ganzen RCA-Aufnahmen Fritz Reiners mit seinem Chicago Symphony Orchestra veröffentlicht hatte, folgen nun Reiners frühere Columbia-Aufnahmen auf 14 CDs, überwiegend mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra. Natürlich ist hier ein echter Meister am Werk, besonders im sinfonischen Arrangement von Gershwins Porgy and Bess von Robert Russell Bennett oder der heimischen ungarischen Musik. Aber man spürt auch seine harte Hand. Und Decca veröffentlicht gleichfalls in einer 14-CDs-Box den Großteil der Aufnahmen, die Charles Munch nicht in Boston (davon gibt’s die gigantische RCA-Sony-Box) gemacht hat, von sperrigen Raritäten wie Henry Barrauds Dritte Sinfonie bis zur populären Spritzigkeit von Bizet oder Offenbach. Beide Sammlungen präsentieren Wiederauflagen einst weltweit verbreiteter Referenzeinspielungen.
Anders die Rundfunkaufnahmen zweier großer Männer des deutschsprachigen Raums, die der SWR auf SWR Classic nun (teilweise unter Mithilfe des WDR) vorlegt. Da ist zum einen auf 30 CDs die Wiederauflage der ausgewählten Mitschnitte Carl Schurichts, des großen Beethoven‑, Bruckner- und Reger-Dirigenten, der hier auch mit so Seltenem wie den Violinkonzerten von Hermann Goetz und Robert Oboussier und Werken von Robert Volkmann oder Günter Raphael zu hören ist – zu einem absoluten Minimumpreis. Und dann natürlich die Fortsetzung der Hans Rosbaud Edition, diesmal auf acht CDs mit Sinfonien (außer Nr. zwei, drei acht und zehn) und dem Lied von der Erde von Gustav Mahler, vieles davon erstmals auf CD. Da ich die Liner Notes geschrieben habe, steht mir die Beurteilung des Drum und Dran nicht an, doch möchte ich bemerken, dass dies meines Erachtens die großartigsten Darstellungen dieser so komplexen wie vielfältigen Werke sind, gemeistert mit einer Stringenz und Flexibilität, mit einer Fähigkeit, jeden Moment in seiner Einzigartigkeit zu erfassen und in den Zusammenhang zu integrieren, die singulär ist. Abgesehen von der frappierenden Makellosigkeit der Ausführung. Dieses Niveau ist als Ganzes unerreicht.
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