Christian Thielemann zum 60. Geburtstag
»Ich bin Avantgarde, mein Lieber!«
von Axel Brüggemann
26. Februar 2019
»Es darf ruhig auch mal ein guter Burgunder sein.« Der Dirigent Christian Thielemann zum 60. Geburtstag über die Vorteile des Alters, die frühen Fehler, und den Gedanken, ob er nicht langweilig ist.
CRESCENDO: Herr Thielemann, Sie werden am 1. April 60 Jahre. Hadern Sie mit dem Alter, oder ist es mit Dirigenten wie mit Wein: Er wird besser, je älter er wird.
Ein Geburtstag ist immer schön! Klar, das Dirigieren entwickelt sich, und mit der Erfahrung wird man auch besser. Das Besserwerden lässt das Alter zu einer bedeutungslosen Zahl werden. Genauso klar ist, dass wir alle sterben. Ich will auch gar nicht mehr jünger sein, weil ich die alten Fehler nicht noch einmal machen will.
»Besserwerden lässt das Alter zu einer bedeutungslosen Zahl werden.«
Was waren das für Fehler?
Als junger Mensch fehlt einem der Überblick. Heute habe ich eine andere Tempo-Regie und muss nicht mehr so viel gestikulieren. Im Privaten ist das aber doch auch so: Hier macht man Fehler menschlicher Art, sieht, was auf einen zukommt und vermeidet diese Fehler den Rest seines Lebens.
Älter zu werden bedeutet also, Fehler zu vermeiden?
Jemand, der die heiße Herdplatte mit 60 Jahren noch immer anfasst, ist vielleicht nicht ganz so intelligent. Wenn man sie allerdings als Kind nicht angefasst hat, ist das auch blöde.
Hat sich die Rolle der Musik in ihrem Leben verändert, seit Sie begonnen haben, Klavier und Bratsche zu spielen?
Damals gab es schon dieses Feuer, und ich glaube, dass es noch größer geworden ist. Heute kann ich es gezielter einsetzen. Ich verbrenne mich nicht mehr gleich. Früher habe ich gern gezündelt, das lasse ich heute oft bewusst bleiben, weil ich so Energie verschwenden würde, auf die ich später angewiesen bin. Ich glaube, man musiziert bewusster, wenn man älter wird. Und vielleicht genießt man es auch mehr.
»Heute kann ich Feuer gezielter einsetzen. Ich verbrenne mich nicht mehr gleich.«
Sie sind mit 19 Jahren als Korrepetitor an die Deutsche Oper in Berlin gegangen und wurden Assistent bei Herbert von Karajan. Wie haben Sie das erlebt?
Bei Karajan war alles so entspannt. Ich habe mir das viel hektischer vorgestellt. Aber schon bei der ersten persönlichen Begegnung spürte ich diese Gelassenheit, mit der er alles aus einem Orchester herausholen konnte. Bereits damals war mir klar, dass das mit dem Alter zu tun haben muss, und mit der Erfahrung –Karajan war damals ja schon über 70. Diese Souveränität war auch für die Musiker greifbar. Außerdem kannte Karajan die Musiker und die Sänger mit denen er gearbeitet hat sehr gut. Ich kann mich an keinen Streit, an keine erregte Situation bei einer Probe mit ihm erinnern.
Auch Sie arbeiten heute mit wenigen Orchestern sehr intensiv zusammen …
Das ist vielleicht eine unterbewusste Entwicklung. Am Anfang habe ich alles gemacht, was möglich war: Ich bin durch die USA gedüst und habe die großen Orchester dirigiert: in San Francisco, an der Met, in Europa in Rom, Bologna, Venedig, London – überall. Aber schon durch meine ersten festen Jobs wurde meine Anwesenheit vor Ort wichtig. Es folgte die Zusammenarbeit mit den Berliner und den Wiener Philharmonikern, das Sommerloch wurde mit Bayreuth aufgefüllt. Und so hat sich von selbst ein Gerüst aufgebaut, in dem ich mich seither bewege. Heute würde ich allerdings gern wieder mehr Neues kennenlernen, zum Beispiel nach Israel fahren. Ich freue mich, dass ich nun auch wieder nach München zum Bayerischen Rundfunk und in das Concertgebouw zurückkehren werde. Aber ich bin eben auch ein Anhänger davon, mir das private Leben nicht vollkommen aus der Hand nehmen zu lassen.
»Ich bin ein Anhänger davon, mir das private Leben nicht vollkommen aus der Hand nehmen zu lassen.«
Was wahrscheinlich in einem Jet-Set-Job wie Ihrem schwer ist.
Na ja, es muss ja keiner immer alles machen. Ich habe für mich festgestellt, dass ich allmählich geistig verkümmere. Es wäre arrogant zu sagen, dass Beethoven, Wagner oder Schoenberg mich unterfordern, aber auf anderen Feldern fühle ich mich durchaus unterfordert und unzufrieden. Ich hatte ja keine Zeit mehr, gute Bücher zu lesen oder schöne Ausflüge zu machen. Und ich finde, dass ich das Recht habe, diese Sehnsucht zu stillen. Ich habe keine Lust mehr auf das Warten in Konzertzimmern, auf die Proben, auf die Veranstaltung, auf Flughäfen. Natürlich kann Reisen Spaß machen, wenn man in Japan in einem schönen Ryokan liegt oder in warmen Quellen, wenn man diesen tollen Fisch isst. Aber man braucht auch Zeit zwischen den einzelnen Abenden. Ich genieße es heute, auch mal zwei Wochen frei zu haben, spazierenzugehen, und wenn man dann am Abend eine halbe Flasche Wein trinkt, darf es auch ruhig ein guter Burgunder sein. Nur, wer sich auch jenseits der Musik auf Dinge einlässt, kann mit neuer Inspiration vor das Orchester treten. Denn all diese Eindrücke formen sich für mich wieder in Musik um.
»Nur, wer sich auch jenseits der Musik auf Dinge einlässt, kann mit neuer Inspiration vor das Orchester treten.«
Düsseldorf, Nürnberg, Berlin – bei Ihren ersten drei Opern-Stationen hatte man den Eindruck, dass Sie, entgegen der öffentlichen Meinung, immer auch für das Traditionelle, das Pathos gekämpft haben …
Pathos heißt ja „erleben“ oder „erleiden“. Da geht es nicht, wie viele glauben, um Musik mit dicker Sauce. So gesehen ging es mir tatsächlich um das Wahrhaftige und Echte in der Musik. Es gibt Stellen, die genau diesen Pathos verlangen, und genauso gibt es eben Stellen, die man auf keinen Fall mit falschem Zucker-Pathos übergießen darf! Aber ist das schon eine Ideologie? Nein! Ich bin nun einmal so. Ich habe Knappertsbusch, Karajan und Mengelberg gehört – und dieser amalgamierte Orchesterklang, der den Mut zum Wahren, Großen und Schönen hat, der Klang, der jede Gefühlswelt durchschreiten kann, gefällt mir. Wenn andere das anders empfinden: Bitteschön!
Zuweilen wurden Sie als „reaktionär“, „konservativ“ oder „gestrig“ beschrieben …
Ach, das sind doch alles Schlagworte. Fragen Sie die Leute, die diese Schlagworte verwenden, was sie bedeuten sollen. Eine Lehre des Älterwerdens ist, dass ich nicht mehr alles kommentieren muss. Die Politisierung der Musik hat mir nie gefallen. Ich bin in einem unpolitischen Haushalt aufgewachsen …
Ihr Vater war Apotheker …
Ja, und bei uns wurde Musik nie mit Politik in Verbindung gebracht. Natürlich weiß ich, dass Musik überall als gesellschaftliches, politisches oder kapitalistisches Mittel eingesetzt wird: vom Parteitag bis zur Kaufhausmusik. Aber letztlich hat eine Beethoven-Symphonie für mich mit Politik nichts zu tun. Ich finde, dass ich gerade in politisch aufgeladenen Zeiten als Künstler auch die Aufgabe habe, die Kunst zu entpolitisieren und den Leuten zu sagen: „Eure politische Meinung ist mir egal, wir spielen Euch jetzt einfach Schumann vor.“ Ich will am Pult keine politische Interpretation der C‑Dur-Symphonie, abgesehen davon, dass ich gar nicht wüsste, wie die aussehen sollte. Das wäre doch auch vermessen!
Aber Sie haben sich immer wieder als Anti-68er positioniert.
Das würde ich heute so nicht mehr tun. Auch, wenn ich noch dasselbe denke, würde ich es anders formulieren. Ich habe nie eine Partei öffentlich unterstützt. Mir ging es immer um das Grundthema der Toleranz. Und so würde ich das auch heute formulieren: Wer keine Toleranz hat, interessiert mich nicht, egal mit welcher Ideologie. Das Wesentliche ist, dass mich etwas überzeugt. Das ist wie beim Essen: Egal, ob es aus Timbuktu kommt oder sonstwoher. Wenn es überzeugt, mag ich es. Nicht anders verhält es sich mit einem Lohengrin: Ich frage doch nicht, woher der Sänger kommt oder was er wählt. Wenn seine Stimme passt, freue ich mich!
»Wer keine Toleranz hat, interessiert mich nicht, egal mit welcher Ideologie.«
Aber sie haben schon Politik gemacht, als Sie Berlin und München verlassen haben, weil sie mit der Ausstattung der Orchester unzufrieden waren.
Das ist für mich keine Politik, da ging es um Arbeitsbedingungen. In Berlin hatten wir es mit einer Ungleichberechtigung der Berliner Opernhäuser zu tun. Damals sind mir 16 Musiker davongelaufen, sie haben anderswo mehr verdient. Ich finde bis heute, dass die Deutsche Oper nicht jene Mittel bekommt, die sie benötigen würde. Manchmal ist es aber auch so, dass vieles von ganz allein passiert. Wir hatten in München einen Termin, um wieder zusammenzukommen. Dann bin ich an der Staatskapelle in Dresden eingesprungen und konnte nicht ahnen, dass ich nach Bruckners Achter ein Angebot bekommen würde. Da musste ich nicht lange überlegen. Ich habe den Münchnern gesagt, dass ich keinen Termin mehr brauche, weil ich in Dresden wieder Opern dirigieren kann.
Ihr Abgang von der Deutschen Oper scheint dennoch besonders zu schmerzen …
Es tut mir noch heute noch weh, wenn ich an der Deutschen Oper vorbeifahre. Dann spüre ich einen Stich in meinem Herzen! Ich habe mich hier wohl gefühlt. Es ist ja das Haus, dem ich alles verdanke: Ich habe hier meine ersten Opern gehört, lernte Wagner kennen, wurde mit 19 Jahren Korrepetitor und dann Generalmusikdirektor. Das war vorher und wird auch so schnell nicht mehr passieren. Ich bin ein Berliner, habe da angefangen, und natürlich hänge ich an diesem Haus. Bis heute.
Wenn Sie vor ihrem inneren Ohr eine Beethoven-Symphonie von Christian Thielemann vor 30 Jahren hören und mit einer Aufführung von heute vergleichen – wie hat sich der Dirigent verändert?
Das, was ich damals so ungeschliffen rausgehauen habe, was ich einfach gemacht habe, das habe ich inzwischen einer Sichtung unterzogen. Dabei bin ich zuweilen zu dem Ergebnis gekommen, dass einiges schon gar nicht so schlecht war. Anderes hingegen schon. Und so bediene ich mich auch heute noch manchmal eigener Versatzstücke. Und natürlich höre ich mir Kollegen an und stelle zuweilen fest, dass es sich durchaus lohnt, anderen zuzuhören…
Sie haben einmal gesagt: „Lieber gut geklaut als schlecht erfunden.“
Das ist ja auch so! Jeder Schauspieler hört sich vor seinem ersten Hamlet die legendären Hamlet-Schauspieler an und orientiert sich an den Vorbildern …
Um dann alles ganz neu und anders zu machen?
Nein, so einer war ich ja nie! Ich habe diese Protestphase nicht gehabt. Bin ich deshalb reaktionär? Nein, ich bin in Wahrheit weder „re“ noch „aktionär“, vielleicht bin ich einfach nur langweilig. Aber ich glaube eben, dass man nicht auf Teufel komm raus gegen alle Traditionen ankämpfen muss. Vielleicht steht das ein bisschen für meine Generation, wir sind ja so etwas wie die „verlorene Generation“ – wir haben das Revolutionäre verloren. Wir wollten kein Haus besetzen…
»Vielleicht bin ich einfach nur langweilig.«
Sie wollten ein Haus besetzen?
In Berlin stand an irgendeinem Haus: Vielleicht bin ich einfach nur langweilig. „Ik will och ne Villa!“ Das ist doch ein legitimer Wunsch. Ich fand es jedenfalls immer sinnlos, meine Kraft für die Revolution zu verschwenden, ich habe dann lieber ein bisschen Bach gespielt.
Fühlen Sie sich manchmal wie jemand, der aus der Zeit gefallen ist?
Überhaupt nicht! Ich bin ein Rollen-Modell, mein Lieber! Ich bin Avantgarde! Ich finde dieses ganze Gedöns und Gelabere auch furchtbar. Ich habe keine Internetseite, ich habe keine Agentur, ich bin eine Ich-AG. Man mag das nicht modern finden, aber ich bin so ziemlich zufrieden.
Herr Thielemann, wie werden Sie Ihren 60. Geburtstag feiern?
Ich werde bei sehr guten Freunden abtauchen und einen Ausflug in die Salzburger Bergwelt unternehmen. Am 2. April haben wir dann Meistersinger-Sitzproben. Das ist das schönste Geschenk, dass ich nach 2006 in Wien dieses Werk bei den Osterfestspielen nun endlich wieder machen kann.