Daniel Barenboim u.a.
Wir sind, wie wir klingen
von Axel Brüggemann
4. Juni 2019
Warum die klassische Musik das beste Barometer für die Moden unserer Zeit ist.
Für viele ist die klassische Musik so etwas wie der Goldpreis der Kultur: stabil und keinen Schwankungen ausgesetzt, unabhängig von Moden und Zeitgeist. Ein ewiges, ja klassisches Erbe, ein klingendes, in Marmor geschlagenes Monument. All das ist natürlich vollkommener Quatsch! Der Dirigent Daniel Barenboim hat einmal den sehr klugen Satz gesagt: Die Aufgabe eines Klassikkünstlers sei es, das ewig Gleiche immer wieder neu zu entdecken – Abend für Abend. In Wahrheit unterliegt die Klassik also auch dem Diktat der Mode. Wie eine Beethoven-Sinfonie heute klingt, sagt mehr über unsere Zeit aus als über die Zeit Beethovens. Die jeweilige Interpretation ist, wenn man so will, das Gewand, das wir dem nackten Notentext allabendlich überstreifen: glitzernd, abgewrackt, in strenger Form oder individualistisch dekoriert.
Pathos, Effekt und Sinn für den Rausch
Eine These, die sich leicht beweisen lässt: Hören wir einfach, mit wie viel Pathos, Effekt und Sinn für den Rausch Wilhelm Furtwängler Beethovens Neunte dirigiert hat und wie Herbert von Karajan sie nur zwei Jahrzehnte später auf Hochglanz polierte. Wie eklektizistisch sie sich beim Amtsantritt von Simon Rattle bei den Berliner Philharmonikern anhörte und wie ein Dirigent wie Teodor Currentzis sie heute gegen den Strich bürsten würde. All diese Dirigenten kleiden Beethoven immer auch in den Zeitgeist ihrer jeweiligen Epoche: das nationale Überwältigungspathos der Kriegszeit bei Furtwängler, der Soundtrack des Wirtschaftswunders bei Karajan, der Einzug der Postmoderne bei Rattle und der unbedingte Wille zur eigenen Entäußerung bei Currentzis.
Ein anderer schöner Satz stammt von dem Pianisten Pierre-Laurent Aimard: „Klassische Musik ist nichts anderes, als immer wieder eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart zu schlagen. Die Partitur bildet dabei den unverrückbaren Fixpunkt der Geschichte, auf den wir jeden Tag vollkommen neu zurückblicken, stets geprägt von jener Welt, die uns umgibt.“ Die Interpretation eines klassischen Werkes ist am Ende also immer auch eine Form der Geschichtsschreibung. Auch hier verändert sich unser Blick auf das Vergangene andauernd. Wie sehr unterscheidet sich unsere Einordnung der Politik Bismarcks in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus, in der Nachkriegszeit oder heute? Geschichte wird in neuen Geschichten und Zusammenhängen immer wieder neu erzählt, unser Blick auf das Vergangene verändert sich. Und keine Kunst macht das so deutlich wie die Musik, da sie zwei Schöpfungsakte hat: die historische Schöpfung der Partitur und die ewig aktuelle Schöpfung der Interpretation.
Angenehmes Geschichtsvergessen
Wie sehr auch die Klassik der Mode unterliegt, zeigt darüber hinaus ein Blick auf unsere Spielpläne. In der Nachkriegszeit bis spät in die 70er-Jahre war es selbstverständlich, dass italienische Opern an deutschen Stadttheatern in deutscher Sprache aufgeführt, ja sogar auf Deutsch aufgenommen wurden. Während in den 60er-Jahren die Operette noch gleichberechtigt neben großen Opern aufgeführt wurde und es selbstverständlich war, dass Sänger wie René Kollo in großen deutschen Fernsehshows eine Operettenarie und eine Verdi-Arie sangen, ist das heute nicht mehr vorstellbar. War die Operette einst eine Form des angenehmen Geschichtsvergessens, wird sie heute meist als sozialkritische Kunst aufgeführt. Auch das Repertoire unterliegt den Moden unserer Zeit: In den 70er-Jahren dominierten Komponisten wie Verdi oder Puccini die Spielpläne, heute sind die größten Erfolge mit Strauss oder Wagner zu erzielen. Ihre Opern waren früher großen Häusern vorbehalten, heute werden sie auch von kleineren Stadttheatern in Angriff genommen, um die Vielfältigkeit unserer Gegenwart neu zu ordnen. Einst wurde der Spielplan nach dem großen Abc der Oper aufgestellt: Aida, Bohème und Carmen waren Garanten für Erfolg. Heute ist das Repertoire, ebenso wie unsere Zeit, viel diverser geworden, weiter gefächert, und immer wieder öffnen sich Theater dem Neuen oder graben Unbekanntes aus.
Auch einzelne Künstler sorgen zuweilen für vollkommen neue musikalische Moden. Nikolaus Harnoncourt erinnerte sich gern daran, wie er den Proben Herbert von Karajans beiwohnte und wie die Wut in ihm aufstieg. Für Harnoncourt waren die Karajan-Interpretationen der Spiegel einer auf Hochglanz gebürsteten Zeit, die überwältigen wollte, die Autoritäten suchte. Sein Gegenmodell war revolutionär anders: Harnoncourts Orchester, der Concentus Musicus Wien, setzte auf demokratische Beteiligung jedes einzelnen Musikers, auf die Verantwortung aller, und vor allen Dingen auf die Wiederentdeckung der alten Instrumente und des sogenannten „historisch informierten Spiels“. Ein Ausdruck, der oft zu Missverständnissen führt. Dabei ging es Harnoncourt nie darum, Mozart erklingen zu lassen, wie er zu Mozarts Zeit klang, sondern den Klang der Mozart-Zeit möglichst genau und wissenschaftlich informiert in unsere Zeit zu übersetzen. Damit legte er den Grundstein für viele andere Musiker wie etwa Roger Norrington, und heute ist es kaum vorstellbar, dass ein Orchester Mozart oder Beethoven – ganz zu schweigen von Bach oder Haydn – spielt, wie es einst Karajan tat. Sein Sound ist einfach aus der Mode gekommen.
Weltweite Barock-Begeisterung
Einem Dirigenten wie Leonard Bernstein gelang es sogar, einen Komponisten zur Mode zu erheben, als er die damals selten gespielten Sinfonien von Gustav Mahler neu interpretierte. Mahler passte perfekt in eine Zeit, die mit der Moderne, mit massiven Umbrüchen und der Neuentdeckung des Individuums rang. Die Auswirkungen dieser Entdeckung dauern bis heute an. Auch Sängern gelang es übrigens immer wieder, eigene Rezeptionsmoden zu schaffen. So war es Cecilia Bartoli, die mit ihrer akribischen Suche nach vergessenen Komponisten und Opern eine weltweite Barock-Begeisterung auslöste.
Natürlich unterliegen auch die Klassikinterpreten selbst den Moden ihrer Zeit. Während ein Pianist wie Friedrich Gulda das Publikum der 70er-Jahre schockte, indem er in Konzertsälen im Anzug und bei Jazzkonzerten splitterfasernackt auftrat (ein Impuls der 68er-Bewegung), prägte ein Tenor wie Luciano Pavarotti das Bild des Tenors mit Frack und Taschentuch. Geiger wie Nigel Kennedy überführten die Mode des Punk in die Klassik, und sein Epigone, David Garrett, tut das gleiche noch heute – allerdings mit anderem Outfit.
Klassische Musik ist also alles andere als eine starre Kunst. Im Gegenteil: Gerade ihre feste Verankerung in der Geschichte durch die jeweilige Partitur macht sie zu einer der vielleicht besten Künste, um den jeweiligen Geist unserer Zeit abzulesen.