Emily D’Angelo
Musikalische Kreuzbestäubung
von Corina Kolbe
31. Oktober 2021
Bei allen Rollen den Menschen im Blick: Die Mezzosopranistin Emily D’Angelo überschreitet auf ihrem Album »Enargeia« nicht nur Grenzen zwischen Klassik und Pop, sondern verquickt auch Altertum und Neuzeit
CRESCENDO: Emily D’Angelo, Sie sind Kanadierin, aber Ihr Name verrät, dass Sie in verschiedenen Kulturen zu Hause sind.
Emily D’Angelo: Richtig, die Familie meines Vaters hat ihre Wurzeln in Italien. Meine Großmutter hat mir auch die Sprache beigebracht. Sie kommt aus der Toskana und mein Großvater aus den Abruzzen. Ich gehöre zu der zweiten Generation, die in Kanada geboren wurde. Die Eltern meiner Mutter sind übrigens auch Einwanderer – sie stammen aus Irland.
Wie sehr hat Sie dieses multikulturelle Umfeld geprägt?
Die Herkunft meiner Familie hat mich natürlich stark beeinflusst. In Toronto, wo ich aufgewachsen bin, erlebt man sowieso einen Mix aus allen möglichen Kulturen. Viele Italiener sind dorthin gekommen. Es gab früher sogar ein Viertel wie Little Italy in New York. In Italien habe ich natürlich auch schon die Geburtsorte meiner Nonna und meines Nonno besucht.
Italien gilt ja als das Land der Oper. Sind Sie vielleicht auch deshalb zum Singen gekommen?
Sicherlich hat das eine Rolle gespielt. Meine Großeltern haben aber alle eine besondere Liebe zur Musik. Meine irische Oma war eine unglaublich tolle Pianistin und Musiklehrerin. Ich habe an der High School auch Cello gelernt, bin aber durch das Singen schon vorher mit Musik in Berührung gekommen. Ich denke, das ist der natürlichste Weg. Singen ist etwas sehr Persönliches, man trägt es tief in sich.
»Die besten Mentoren bringen einem bei, auf sich selbst zu hören. Sie treten nicht als Gurus auf.«
Welche Erfahrungen haben Sie damals mit Ihrer Stimme gemacht?
Ich habe schon sehr früh angefangen, viel zu singen. Irgendwann kam ich in einen Chor, in dem ich lange blieb und ganz unterschiedliches Repertoire einstudiert habe. Später habe ich auch in verschiedenen Orchestern als Cellistin mitgespielt. Inzwischen ist mir bewusst, wie wichtig das alles für meine Entwicklung als Künstlerin und als Mensch war. Man arbeitet im Team und lernt, anderen zuzuhören und unmittelbar auf sie zu reagieren.
Und wann haben Sie sich schließlich entschieden, Gesangssolistin zu werden?
Mit etwa 16 Jahren wurde ich langsam zu alt für den Kinderchor. Ich wollte aber unbedingt weitersingen und nahm einmal in der Woche privaten Unterricht. Das Singen ging mir nie aus dem Kopf, ich war einfach fasziniert davon. Ich strengte mich sehr an und versuchte, das Beste daraus zu machen. Anfangs war es mir aber etwas unangenehm, plötzlich allein im Mittelpunkt zu stehen. Im Chor und im Orchester war das ja anders gewesen.
Gab es jemanden, der Sie dabei unterstützt und Ihnen nützliche Ratschläge gegeben hat?
Mein Gesangslehrer ist noch heute mein wichtigster Mentor. Die besten Mentoren bringen einem bei, auf sich selbst zu hören. Sie treten nicht als Gurus auf, die Antworten auf alle Fragen parat haben. Die eigene Stimme muss schließlich ein Leben lang halten. Ich wurde zum Glück nie dazu gedrängt, bestimmte Rollen anzunehmen. Man hat mich immer dazu ermutigt, meinem eigenen Instinkt zu folgen. Entscheidungen kann nur ich allein treffen, denn am Ende des Tages steht niemand anders für mich auf der Bühne. Das Gefühl, die Dinge selbst in der Hand zu haben, gibt einem viel Kraft.
Wer ist Ihr größtes Vorbild?
Diese Frage wird mir oft gestellt, und mir fällt immer wieder dieselbe Person ein: Cecilia Bartoli. Ihre Stimme habe ich seit meiner Kindheit im Kopf. Mein Vater wusste das und spielte auf Autofahrten immer CDs von ihr ab. Ich bin beeindruckt von ihrem großen Wissen und ihrem Repertoire, sie inspiriert mich bis heute. Viele dieser Arien von Händel, Mozart oder Rossini singe ich ja inzwischen selbst.
Sind Sie sich auch schon persönlich begegnet?
Nein, ich habe sie noch nie getroffen. Ich wäre wahrscheinlich völlig überwältigt, weil ich sie so sehr respektiere und bewundere.
»Bei allen Rollen habe ich vor allem den Menschen im Blick.«
Als Mezzosopranistin verkörpern Sie immer wieder Hosenrollen. Hat die Genderdebatte Sie dazu angeregt, diese Rollenspiele in einem neuen Licht zu sehen?
Nein, ich denke nicht in erster Linie daran, welches Geschlecht die Figuren haben. In diesem Jahr bin ich zum Beispiel an der Bayerischen Staatsoper in München als Idamante in Mozarts Oper Idomeneo aufgetreten. An der Berliner Staatsoper Unter den Linden stand ich in Le Nozze di Figaro als Cherubino auf der Bühne. Bei all diesen Rollen habe ich vor allem den Menschen im Blick. Jeder Charakter ist individuell und lebt auf seine Weise. Ich liebe es, diese Figuren zu porträtieren. Mit dem Mozart-Repertoire bin ich sehr glücklich und hoffe, es noch lange singen zu können.
Als die Opernhäuser im Frühjahr noch wegen der Corona-Pandemie geschlossen waren, traten Sie in Berlin in Le Nozze di Figaro vor leeren Zuschauerrängen auf. Was war das für eine Erfahrung?
Das war ein ganz merkwürdiges Erlebnis! Es war nicht so, dass ich vor allem den Beifall des Publikums vermisst hätte. Am Ende einer Arie gibt es ja oft keinen Applaus. Mir fehlte aber die Energie, die normalerweise von den Zuschauern ausgeht. Das, was auf der Bühne ankommt, versuchen wir Künstler, wieder zurückzugeben. Dieser Austausch von Energie ist durch nichts zu ersetzen. Man spürt das, sobald man die Bühne betritt. Eine Opernfigur in einem leeren Saal zum Leben zu erwecken, ist wesentlich schwieriger. Auch die Akustik verändert sich, wenn kein Publikum da ist. Der Hall ist viel stärker.
»Ich verspüre das Bedürfnis, viele Schichten zu durchdringen.«
In den Corona-Monaten haben Sie auch Ihr Soloalbum „Enargeia“ aufgenommen. Musik aus dem Mittelalter wird hier mit Stücken aus der unmittelbaren Gegenwart verbunden. Was kann man unter diesem Titel verstehen?
„Enargeia“ ist ein Begriff aus der altgriechischen Rhetorik und bedeutet, dass man etwas lebendig veranschaulicht. Ich habe Tonnen von Büchern über antike und mittelalterliche Geschichte gelesen – wie ein echter Nerd. Irgendwann stieß ich auf dieses Wort, das mir nicht mehr aus dem Sinn ging. Ich verspüre das Bedürfnis, viele Schichten zu durchdringen, um Klarheit über etwas zu gewinnen. Wenn man sich weiter vorarbeitet, wird einem aber auch bewusst, dass vieles ein Geheimnis bleibt. Je mehr man enthüllt, desto mehr bleibt also noch zu entdecken. Ich meine, dass alle Stücke auf dieser CD die tiefere Bedeutung von „Enargeia“ in sich tragen. Diese Musik ist für mich auch ein beinahe visuelles und taktiles Erlebnis.
Alle Stücke auf diesem Album wurden von Frauen komponiert: Hildegard von Bingen, Hildur Guðnadóttir, Missy Mazzoli und Sarah Kirkland Snider. Ist das nur ein Zufall?
Eigentlich schon. Hildegard von Bingen stand für mich von Anfang an im Zentrum. Ich habe mich dazu entschieden, ihre großartige Musik mit Werken aus dem 21. Jahrhundert zu kombinieren. Ich kam dann auf Sarah Kirkland Snider, weil sie ebenfalls von Hildegard fasziniert ist. Sie hat sich auch mit griechischen Sagen wie der Odyssee beschäftigt, wie man auf dem Album hören kann. Ich stelle also Altes und Ultramodernes einander gegenüber. Die Stücke, die mich sofort angesprochen haben, wollte ich auch unbedingt aufnehmen.
»Ich interessiere mich schon lange für elektronische Klänge.«
Klassik trifft hier also auf elektronische Musik.
Ich interessiere mich schon lange für diese Klänge, experimentiere jetzt aber zum ersten Mal selbst damit. In den Stücken auf dem Album kommen akustische und elektronische Elemente vor, auch in einem Arrangement einer Komposition von Hildegard von Bingen für Cello und Elektronik. Die Titel stehen alle in einer gewissen Beziehung zueinander.
Sie singen Lieder auf Englisch, Lateinisch und sogar Isländisch. Ein echtes Crossover-Projekt!
Ja, das Besondere daran ist auch, dass das Orchester aus Laienmusikern besteht. Der Dirigent Jarkko Riihimäki hat außerdem Stücke von Missy Mazzoli und Hildur arrangiert. Und für Hildegard von Bingens Werke hat Missy neue Fassungen erstellt. Wir wollten damit erreichen, dass sich alles so weit wie möglich gegenseitig befruchtet. Es ist sozusagen eine musikalische Kreuzbestäubung. Jeder von uns hatte im Prinzip überall seine Finger mit im Spiel.
Wie lief es bei den Aufnahmen in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin? Schon Herbert von Karajan war begeistert von der Akustik dieses Raumes.
Interessanterweise hatten wir eher den Eindruck, ein Pop-Album und keine Klassik-CD einzuspielen. Normalerweise befinden sich Solisten und Orchester bei einer Aufnahme gleichzeitig in einem Saal. Wir haben aber alles separat aufgenommen, hauptsächlich natürlich wegen der Corona-Auflagen. Ich habe allein in einer Tonkabine gesungen. Hinterher wurden die Tracks zusammengefügt und übereinandergelegt. Daraus ist ein besonders klarer, brillanter Klang entstanden.
Glauben Sie, dass sich nicht nur das traditionelle Klassikpublikum für Ihr Experiment interessieren wird?
Viele Leute fragen mich, welches Publikum ich mir so vorstelle. Keine Ahnung! Zuallererst habe ich Musik gemacht, der ich selbst gern zuhöre. Ich hoffe, dass die Fans der einzelnen Künstler, die mitgewirkt haben, auf das Album aufmerksam werden. Das wäre ein schöner Schneeballeffekt.
Mehr Info unter: www.emilydangelo.com