Große Französische Oper
Wonneschauer mit Suchtfaktor
von Roland H. Dippel
15. März 2018
Die französische Oper hatte über viele Jahrhunderte hinweg in Deutschland keinen leichten Stand, die „Erbfeindschaft“ wurde auch hier geschürt. Nun feiern diese zeitlosen Werke eine Renaissance.
Süßlich, äußerlich, flach! So lautete noch vor 50 Jahren das „Expertenurteil“ über das weite Feld französischer Opern. Damals, als Charles Gounods kürzlich von der Opéra Genève als „‚Icône“ gelobter Faust in Deutschland noch Margarete hieß. Man schämte sich für die Freude über die vielen Schlager dieser Partitur, die vermeintlich trivial an Goethes Faust I kratzt. Als kulturfähig galten im deutschen Sprechraum nur Offenbachs Les contes d’Hoffmann und natürlich Carmen. Im Repertoire der Met verankerte Juwelen wie Gounods Roméo et Juliette oder Jules Massenets wunderbare Kurtisanenoper Thaïs kannte man nur von Plattenaufnahmen mit einer rassigen Anna Moffo auf der Posterbeigabe oder Fernsehübertragungen.
Das änderte sich erst mit der Massenet-Einspielungswelle kurz vor Erfindung der CD und einer eisbrechenden Produktion: Nach Massenets Werther im Nationaltheater München 1977 mit der aufregenden Brigitte Fassbaender und Plácido Domingo überrollte eine Werther-Welle das Land. Charles de Gaulles und Konrad Adenauers deutsch-französischer Freundschaftsvertrag (1963) hatte doch noch einen förderlichen Einfluss auf das nach dem Jahr 2000 endlich in voller Üppigkeit gedeihende Orchideenrepertoire aus Frankreich.
Den Höhepunkt bildet die Edition Palazzetto Bru Zane mit Aufnahmen und wissenschaftlich verlässlichen Noteneditionen: Gerade räumten Ulf Schirmer und das Münchner Rundfunkorchester mit der Weltersteinspielung von Camille Saint-Saëns« Proserpine den begehrten International Classical Music Award 2018 ab. Überhaupt ist Ulf Schirmer bei den Sonntagskonzerten des Bayerischen Rundfunks für Palazetto Bru Zane ein passionierter Wiederholungstäter mit Benjamin Godards Dante und Gounods Mantel-und-Degen-Oper Cinq-Mars, die er 2017 an der Oper Leipzig mit einer umjubelten Produktion hinterherschickte. Ein Spitzenwerk wie Halévys La juive (jüngst erst in Mannheim, München, Nürnberg) ist ein wichtiges Beispiel für die Spiegelung antisemitischer Tendenzen in urbanen Kulturformen und gehört seit Neil Shicoffs rückhaltloser Identifikation mit dem Juden Eléazar fast wieder zum Standardrepertoire. In Stuttgart dauerte der Abend mit nur einer kurzen Pause fünfeinhalb Stunden.
Regisseure wie Christof Loy und Peter Konwitschny nutzen diese französischen Opernpanoramen für bezwingende Szenerien und Menschenbilder. Es hat also Gründe, wenn sich strichlose Aufführungen von Verdis französischer Don Carlos-Fassung, Les vêpres Siciliennes (in Genf, London und Amsterdam mit der kurzweilig 27-minütigen Balletteinlage) oder Rossinis Guillaume Tell häufen und Wagners vermeintliche Rekordlängen lässig übertrumpfen.
Diese französischen Funde beweisen ihre auch für die heutige Zeit ästhetische und qualitative Relevanz. Das liegt auch daran, dass die Muster der französischen Oper bereits seit den barocken Spitzenkomponisten Rameau und Lully weitaus multipler waren als jene der „lyrischen Dramen“ Italiens, die sich wie die deutsche Oper und auch Tschaikowsky an französischen Vorbildern orientiert hatten. Bis zum Aufstieg Bayreuths war Paris mit der Académie nationale und der Opéra-Comique das Vorbild für Europa, Amerika, den Nahen Osten. Oscar Bie erklärte die geschmeidige Opéra-Comique mit ihren gesprochenen Dialogen in seiner Basisschrift Die Oper (1913) noch auf dem Höhepunkt des Wagnerkults zur idealen, weil dramatisch flexibelsten Opernform. Paul Bekker wies in Wandlungen der Oper (1934) aus Zürich der deutschen Oper als wesentlichen Parameter die Deklamation zu, der italienischen das Melos und der französischen Oper den Tanz. Also umgekehrt zu den späteren Ausreden: Da wurde die Schwierigkeit der Übersetzung in andere Sprachen oder einer korrekten Diktion genannt, um französische Opern zu meiden. Teils berechtigt, hört man heute zum Beispiel Mayerbeers Gli ugenotti von der Mailänder Scala mit Franco Corelli oder Peter Maags entstellende Einrichtung von Massenets Manon. Die Meisterung stilistischer Herausforderungen sind heute Standard auch kleinerer Theater, so nachzuhören auf dem Album mit der sensationellen Wiederentdeckung von Gounods Schaueroper Die blutende Nonne am Theater Osnabrück.
Endlich finden die großen Werke des Berliners Giacomo Meyerbeer, möglich durch die kritische Werkausgabe, ihren Weg zurück auf die Bühnen, zum Beispiel im Kraftakt eines vierteiligen Zyklus an der Deutschen Oper Berlin. Spannend ist das sogar bei der leider nicht ganz überzeugenden Produktion Le prophète 2017. Zu einer atemberaubenden Aktualisierung des Wiedertäufer-Dramas wurde dieser allerdings 2015 durch den Regisseur Tobias Kratzer und das Ensemble des Badischen Staatstheaters Karlsruhe.
Überwunden scheinen jene Polemiken, die um 1770 mit Gottscheds und Schillers Kritik an der klassischen Tragödie Frankreichs begannen, mit Richard Wagners neidischen Invektiven ihren Höhepunkt erreichten und in den weichlichen Kritiken der Nachkriegszeit versandeten. Ganz gewiss lag es nicht am gewandelten Zeitgeschmack, dass nach 1914 Rossinis Wilhelm Tell, Meyerbeers Die Hugenotten und Der Prophet von den Bühnen verschwanden. Man wollte nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und den Verträgen von Versailles einfach keine Werke aus dem Lager des Erzfeinds auf den Spielplänen sehen. Später perfektionierte der engstirnige Propagandablick der Nationalsozialisten diese Ausgrenzung. Mit bekannt absurden Auswirkungen, die erst seit Beginn des französischen Opernbooms durch deliziöse Wonneschauer gesühnt werden.
Ein besonders markantes Opfer des deutsch-französischen Opernkampfes ist Jacques Offenbachs Fantasio, der wie die stoffgebende Komödie Alfred de Mussets in München spielt. Am Originalschauplatz steht die Erstaufführung dieses elegisch-bezaubernden Werks übrigens noch immer aus. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870⁄71 war der gebürtige Kölner Offenbach in Frankreich als deutschstämmiger Theaterleiter wirtschaftlich erledigt – im Deutschen Reich galt er, weil nach Paris umgesiedelt, als Abtrünniger. Die Fantasio-Uraufführung an der Opéra-Comique konnte 1872 so nur zum Achtungserfolg werden. Dank der kritischen Edition von Jean-Christophe Keck trieb der Münchner Student, der Prinzessin Elisabeth von Bayern vor einer unsinnigen Verlobung rettet, zuletzt 2017 in Paris und Genève in der Darstellung durch die wunderbare Marianne Crebassa sein bittersüßes Unwesen. Dieser liebenswerte Hasardeur ist pariserisch, münchnerisch, französisch, deutsch und mit seinem Pazifismus international. So international wie die Vielfalt noch zu entdeckender Opern aus Frankreich. Ein unerschöpflicher Suchtfaktor für Geist, Herz und Sinne. C’est ça!