KlassikWoche 09/2021

Klassik im Kinder­zimmer und Gegen­wind für Gerhaher

von Axel Brüggemann

1. März 2021

Die Kritik an Aufstehen für die Kunst von Christian Gerhaher, konstruktive Initiativen mit Kirill Petrenko, Anna Netrebko als Klassik-Influencerin

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit dem Unter­schied zwischen schrillen Markt­schreiern und diplo­ma­ti­schen Machern, einer der besten Klassik-Influen­ce­rinnen und einem Geheimnis von .

GEGEN­WIND FÜR GERHAHER 

Vor zwei Wochen haben wir an dieser Stelle exklusiv die aktu­ellen Forde­rungen von „Aufstehen für die Kunst“ vorge­stellt. Für mich ein Akt der Meinungs­viel­falt, aber schon damals bekam ich viele kriti­sche Briefe. Nun gibt es auch öffent­li­chen Gegen­wind für die Initia­tive von Bariton und seinen Kollegen. Angeb­lich wurden einige der Unter­stützer der Aktion nicht um ihr Einver­ständnis gefragt. „Lieber , , Kevin Conners und Chris­tian Gerhaher“, beginnt ein offener Brief des Kompo­nisten, Profes­sors und Präsi­denten des Kompo­nis­ten­ver­bandes, , „ich schreibe Ihnen, weil ich mit großer Verwun­de­rung in der letzten Rund­mail von ‚Aufstehen für die Kunst‘ lesen muss, dass „die (in Vertre­tung für alle, Präsi­dent Prof. ) sich hinter Ihre Initia­tive stellt.“ Und dann erklärt Eggert: „Das ist unrichtig.“ Eggert – und inzwi­schen auch andere – kriti­sieren vor allen Dingen die Argu­men­ta­tion der Verei­ni­gung: „… zum jetzigen Zeit­punkt, sehe ich wenig Sinn darin, Kampa­gnen und teure Gerichts­pro­zesse (für die man dann auch noch für Spenden betteln muss) dafür anzu­strengen, Konzert­säle früher als alles andere zu öffnen. Ich halte das für ein sehr schlechtes Aushän­ge­schild für die Kunst, die sich dann als allein auf sich selbst bezogen und außer­halb der Gesell­schaft stehend präsen­tiert. Damit machen wir uns als Künstler*innen schwach und angreifbar.“ 

Tatsäch­lich nervt das andau­ernde (und inzwi­schen ewige) Androhen einer Verfas­sungs­klage, zumal diese, wenn sie denn wirk­lich einge­reicht würde, mit hoher Wahr­schein­lich­keit kassiert wird, womit jedes Druck­mittel von „Aufstehen für die Kunst“ ausge­he­belt wäre. Und nerven tun allmäh­lich auch die „Spazier­gänge“ und „Zwit­sche­reien“ am ganz rechten, steie­ri­schen Bord­stein­rand von Leuten wie dem andau­ernd düster grum­melnden Bass­ba­riton , bei dessen Tweets es inzwi­schen offen­sicht­lich weniger um die Öffnung der Kultur als viel­mehr darum geht, irgendein Ventil für irgend­etwas anderes zu finden. Warum all das am Ende auch der Sache aller schadet, steht im nächsten Absatz.

WACH­SENDE PLÄNE IM HINTER­GRUND

Nationaltheater in München

Tatsäch­lich lenken die laut­starken Einzel-Proteste von produk­tiven und effek­tiven Initia­tiven ab, die hinter den Kulissen an realis­ti­schen Öffnungs­sze­na­rien arbeiten, gemeinsam mit Politik, Kultur­schaf­fenden und Vertre­tern anderer Diszi­plinen. So hat der an dieser Stelle bereits letzte Woche vorge­stellte Drei-Stufen-Plan von 20 Wissen­schaft­lern und Insti­tu­tionen wie dem Deut­schen Bühnen­verein und dem Deut­schen Fußball-Bund inzwi­schen nicht nur die medi­en­po­li­ti­sche Spre­cherin der CDU, inspi­riert, sondern auch Teile der Bundes­re­gie­rung. Und ganz aktuell wird in der Kultus­mi­nis­ter­kon­fe­renz der Vorschlag der „Kultur­in­itia­tive 21“ für eine bessere und nach­hal­tige soziale Absi­che­rung von Kultur­schaf­fenden beraten. Das erklärte NRWs Kultur­mi­nis­terin im Deutsch­land­funk.

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Auch die gesam­melten Forde­rungen von Inten­dan­tInnen in Berlin, unter ihnen auch der Chef­di­ri­gent der , , scheinen allmäh­lich Wirkung zu zeigen und für interne, poli­ti­sche Debatten zu sorgen. Mit anderen Worten: Es bewegt sich etwas im poli­ti­schen Diskurs. Nicht laut, aber konstruktiv. Auch in Öster­reich soll hinter den Kulissen bereits im engen Dialog von Inten­dan­tInnen, Poli­ti­ke­rInnen und Künst­le­rInnen an Konzepten getüf­telt werden, wie frei­schaf­fende Künst­le­rInnen zukünftig durch eine neue Risi­ko­ver­tei­lung vor uner­war­teten Ausfällen von Auffüh­rungen abge­si­chert werden können. Uneitle und anstren­gende Initia­tiven, für die der oben beschrie­bene Thea­ter­donner mehr als kontra­pro­duktiv ist – echte (und vor allen Dingen lang­fris­tige) Lösungen werden nur im Dialog und ohne öffent­liche Erpres­sung statt­finden – das ist viel­leicht nicht so sexy und nicht so gut für’s Ego, dafür aber für die Zukunft der Kultur in unserem Land.

ANNA NETREBKO: WENN WERBUNG WIRKT

Anna Netrebko

Man kann das nicht anders sagen: ist einfach die effek­tivste Klassik-Influen­cerin. So wäre ohne ihren Post total an mir vorbei gegangen, dass die Tonie­boxen (und jedes Eltern­teil weiß, wie wichtig die klin­genden Figuren für die eigene Ruhe gerade in diesen Zeiten sind) nun auch in Klassik machen. Super, dass Netrebko begeis­tert ist: „Kinder sind beson­ders empfäng­lich für Musik, und es ist wichtig, dass sie unter­schied­liche Musik­stile kennen­lernen“, postete sie mit einem breiten Lächeln und einer pinken Toniebox in der Hand. Als ich mehr wissen wollte, war ich aller­dings schnell am Ende: Welche Musi­ke­rInnen auf „Hänsel und Gretel“, „Nuss­kna­cker“ und „Zauber­flöte“ zu hören sind, ist der Firma Tonie offenbar egal – man kann es nirgends heraus­finden. Also habe ich bei der Pres­se­stelle nach­ge­fragt. Die Antwort war eher ernüch­ternd. Die „Zauber­flöte“ ist mit dem Failoni Chamber Orchestra und (1993). Der „Nuss­kna­cker“ mit dem Slowa­ki­schen Radio-Sinfo­nie­or­chester und und „Hänsel und Gretel“ in einer ollen Herbert-von-Karajan-Aufnahme von 1953. Billig-Klassik statt moderne, klas­si­sche Klassik in unseren Kinder­zim­mern!

Ach ja, und weil wir gerade dabei sind, wollte ich vom Pres­se­spre­cher noch wissen, ob Netrebko den Post aus wahrer Leiden­schaft oder aus mone­tärer Verpflich­tung in die Welt gesetzt hat (das war nämlich nicht erkennbar). Die Antwort: „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir auf die genauen Details unserer Zusam­men­ar­beit nicht eingehen können. Um Miss­ver­ständ­nisse auszu­räumen, hat Frau Netrebko den Post mitt­ler­weile um das Hashtag „#ad“ erwei­tert.“ Na bitte, das ist sogar beim Insta-Profil von „Bibis Beau­ty­p­a­lace“ Mindest-Stan­dard! Abge­sehen davon sei es Anna Netrebko – und das meine ich ehrlich – natür­lich gegönnt. Die Klassik braucht viel mehr Influencer wie sie! Denn: Ihre Werbung wirkt! 

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Die zeigen sich soli­da­risch mit dem Orchester der Metro­po­litan Opera in und haben einen Brief geschrieben: „Die Mitglieder des Orches­ters sind auf mehr Unter­stüt­zung ihres Manage­ments (Peter Gelb, Anm. d. Red.) und ihrer Regie­rung ange­wiesen“, plädiert Phil­har­mo­niker-Vorstand . +++ Mehr als einein­halb Jahre vor seinem Amts­an­tritt als neuer Inten­dant der Oper hat Tobias Wolff sein Leitungs­team vorge­stellt. Als Opern­di­rek­torin und stell­ver­tre­tende Inten­dantin kommt Cornelia Preis­singer. +++ Nachdem Inten­dant Peter Spuhler das Staats­theater wegen verschie­dener Vorfälle verlassen wird, hat sich Opern­di­rek­torin Nicole Braunger dazu entschlossen, doch zu bleiben. Sie will nun „den durch Corona entstan­denen Verschie­be­bahnhof im Spiel­plan“ aufar­beiten. +++ „Die Zeit der alten Männer an den Pulten ist vorbei“, donnert in der öster­rei­chi­schen Zeitung „Die Presse“. +++ Das Kärntner Sinfo­nie­or­chester bekommt einen neuen Chef­di­ri­genten. Der Austra­lier wird das Orchester ab der kommenden Spiel­zeit leiten. +++ Er war Solo-Cellist der Berliner Phil­har­mo­niker, Grün­dungs­mit­glied der „12 Cellisten“ und unter­rich­tete viele Jahre an der Univer­sität der Künste . Nun ist Wolf­gang Boett­cher mit 86 Jahren gestorben.

UND WO BLEIBT DAS GUTE, HERR BRÜG­GE­MANN?

Hier! Ein toller Text aus dem tip: eine Reise durch 12 histo­ri­sche Theater und Operrn­häuser in Berlin, die es nicht mehr gibt! +++ Warum trägt adidas und Rolex? – ein Rund­gang durch das Thema „Mode und Klassik-Stars“ in clas­sical-music. +++ Und noch ein Lese­tipp: Frederik Hanssen schreibt im Tages­spiegel über Eckart Kröplins Buch „Opern­theater in der DDR“ – am besten erst den Artikel, dann das Buch lesen: Mehr Klassik als in der DDR gab es nirgendwo – doch die Kunst war nicht frei. +++ Und dann kann ich Ihnen noch empfehlen: das fast zwei­stün­dige Gespräch mit dem desi­gnierten Chef­di­ri­genten der Volks­oper , Omer Meir Wellber, in dem er verrät, dass er mit der festen Absicht „nein“ zu sagen zur desi­gnierten Inten­dantin gekommen ist – und sich dann doch spontan anders entschieden hat. Warum und was er vorhat, welche Rolle die Zauberei bei all dem spielt und wie kritisch er aus Israel blickt – all das im Podcast „Brüg­ge­manns Begeg­nungen“.

In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de