KlassikWoche 20/2021
Spinnen die nun alle, unsere Dirigenten?
von Axel Brüggemann
17. Mai 2021
Die Causa Christian Thielemann, das wüste Verhalten von Riccardo Muti an der Mailänder Scala, die tiefe Anerkennung für den erkrankten Lars Vogt
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
natürlich schauen wir zurück auf die Causa Thielemann, rufen zwei italienische Maestri zur Ordnung und danken Lars Vogt für seinen wirklich bewundernswerten Blick auf das Leben.
DIE THIELEMANN-REAKTIONEN
Letzen Montag erreichte mich eine sehr lustige SMS. Jemand fragte, ob die Verkündung der Nicht-Verlängerung von Christian Thielemann als Musikdirektor der Staatskapelle Dresden extra auf einen Montagnachmittag gelegt wurde, damit sie nicht sofort an dieser Stelle thematisiert wird. Immerhin haben wir letzte Woche bereits das Ende der „Alphamänner“ an deutschen Theatern thematisiert, und auch Thielemanns Forderung nach einer unbefristeten („und sehr unwahrscheinlichen“ sic!) Vertragsverlängerung auf Lebenszeit war Thema dieses Newsletters. Inzwischen wurde der Rubikon überschritten, und die Causa Thielemann weitgehend durchkommentiert. Auch meine Meinung und meine Dokumentation der Ereignisse war anderenorts bereits zu hören.
Zusammengefasst: Thielemann musste nicht gehen, weil seine dirigentischen Leistungen nicht stimmten, sondern weil seine Führungsqualitäten (so wie zuvor schon in Berlin, München, Salzburg oder Bayreuth) einfach nicht passten, und vielleicht auch, weil die Kapelle selber der sächsischen Politik bei der letzten Vertragsverlängerung mitgeteilt hatte, dass man lediglich Zeit brauche, um einen passenden Kandidaten für 2024 zu finden (daran kann sich der neue Orchestervorstand vielleicht nicht mehr erinnern). Aber vielleicht ist all das ja auch gut so: Thielemann kann sich in Zukunft mit unterschiedlichen Orchestern weiter um geniale Musik kümmern (das kann er!), und andere Leute werden sich um Visionen, Perspektiven und die MitarbeiterInnen in der Staatskapelle kümmern. In Dresden wird bereits über Nora Schmid (einst Chefdramaturgin in Dresden und heute Intendantin in Graz) als Nachfolgerin von Peter Theiler spekuliert. Für Thielemann wird es mit Festanstellungen dagegen eher eng: Amsterdam, Wien, München oder Berlin kommen kaum in Frage. Und mit seinem Abgang aus Dresden wackeln wohl auch die Verträge mit Unitel und ZDF. Aber immerhin: Gerade hat er sein Debüt beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks gegeben, und Dominique Meyer, so hört man, will ihm für seine Scala (die langsam ein Wien 2.0 wird) einen „Ring“ in Mailand anbieten.
Zu diesem Thema passt, dass wir letzten Montag ein bisschen böhmermannisch gefragt haben, warum Österreichs Kulturjournalisten die kulturpolitischen Missstände des Landes so konsequent ignorieren. Eine Antwort lieferte diese Woche unser alter Freund, der Boulevard-Schwadronierer Heinz Sichrovsky (eine Art Franz-Josef Wagner der Ösi-Kritik). Abgesehen davon, dass er seine LeserInnen mit Weltkriegs-Vokabular wie „Machtergreifung“ oder „Diktatur“ und falschen Fakten abspeiste (er behauptete, Semper-Intendant Peter Theiler würde nicht gehen müssen), glaubt Sichrovsky an eine Anstellung von Thielemann an der Wiener Staatsoper – eine Meinung, die er ziemlich exklusiv hat. Und dann haben den armen Heinz am Ende auch noch ein junger Dirigent und andere Musiker auf Facebook für seinen Schwurbel-Satz ausgelacht, der so geht: „Dies wurde ihm (Thielemann) vom Theiler, der unter dem Bruchstrich der Musikwelt kein Zähler ist, untersagt.“ Auf einen Nenner gebracht, begräbt Kollege Sichrovsky gerade den letzten Hauch von Glaubwürdigkeit der Austro Kultur-Kritik. Politisch brisant wurde es indes in Deutschland, als Matthias Nikolaidis auf der Seite von Tichy (ich verlinke hier bewusst nicht) Thielemanns Nicht-Verlängerung als Teil der so genannten „Cancel-Culture“ interpretierte, Thielemanns mangelnde Führungsqualität mit seinem „Feuer- und Charakterkopf“ kleinredete und den Dirigenten kurzerhand als Opfer der Mainstream-Politik in eine Ecke rückte, die dem Dirigenten langfristig wohl eher schaden wird (aber inzwischen hat auch die „Achse des Guten“ in dieses Horn geblasen).
PEINLICHES SCALA-GESCHREI
Auch diese Woche müssen wir wieder über so genannte „Alpha-Männchen“ reden. Eine Szene wie aus der Tierwelt (Kategorie: Platzhirsche) muss sich letzte Woche in den Gängen der Mailänder Scala abgespielt haben. Als Riccardo Muti mit den Wiener Philharmonikern (etwas unsensibel zum Scala-Jubiläum) zu Gast war, wollte Haus-Dirigent Riccardo Chailly ihm gratulieren. Muti soll ihn zunächst bewusst nicht erkannt haben („wer ist das?“), um ihn dann wüst zu beschimpfen. Anwesende Journalisten berichten, dass Worte gefallen seien, die an dieser Stelle besser nicht zitiert werden sollen (PIEEEEEP). Worum es ging? Wohl um Mutis Gekränktheit, um die Rolle des „Primo Maestro Italiano“ und einen Hang zu vulgärer Sprache und am Ende eben auch um ein Kapitel Musikgeschichte, das einfach nicht mehr in unsere Zeit gehört. Lächerlich und peinlich – für einen Maestro, der zum Neujahrskonzert so gern so salbungsvoll tut.
KLASSIK-STARS MIT MEGA-AUSFALL-ZAHLUNGEN
An dieser Stelle wird es etwas knifflig. Stellen Sie sich mal vor, Ihr Steuerberater ruft Sie an und sagt: „Hey, Du hattest durch Corona echt wenig Einnahmen, aber ich habe da jetzt eine Möglichkeit gefunden, vollkommen legal: Österreich würde Dir sofort 211.200 Euro Kompensation überweisen.“ Wer würde da schon „nein“ sagen, oder „das kann ich echt nicht alles annehmen, während so viele soloselbstständige Künstler noch immer auf Ausfall-Zahlungen in Höhe von wenigen tausend Euro warten.“ Der Chefdirigent der Wiener Symphoniker, Andrés Orozco-Estrada, hat es auf jeden Fall nicht gesagt, ebenso wenig wie Geiger Julian Rachlin – ihm wurden letzten November 230.000 Euro Ausfall-Kompensation überwiesen.
Klassik Viral – ein Podcast von CRESCENDO
Wie schafft man es, sich von Corona nicht unterkriegen zu lassen?
Arnt Cobbers fragt nach. Bei Marco Jentzsch und Hansjörg Schellenberger.
Der Transparenz wegen: Ich arbeite regelmäßig als Moderator für die Wiener Symphoniker, die übrigens selber keine Hilfen beantragt haben, bin aber in erster Linie Journalist, deshalb hier eine Einordnung: Grundsätzlich ist zunächst die Politik in Erklärungsnot. Wie glaubhaft sind Kulturpolitiker, die bei der Existenzsicherung von freiberuflichen KünstlerInnen am unteren Einkommensende auf Mindestsicherung verweisen und bei den Stars der Klassik offensichtlich weitgehend problemlos Hunderttausende hinblättern? Allerdings ist es auch pikant, dass bislang keine weiteren Klassik-Stars bekannt sind, die derartige Hilfen beantragt hätten, wohl auch, weil sie dafür angeben müssten, als „Veranstalter“ tätig zu sein – und das sind Künstler in der Regel nicht. Die österreichischen Behörden erklärten auf Anfrage der Zeitung „Der Standard“, dass die zuständigen Stellen die Veranstaltereigenschaft erst NACH Gewährung der Hilfen überprüfen würde. Na dann.
NACHRICHTEN UND NAMEN
Jetzt, da der Kulturbetrieb langsam wieder losgeht und Nikolaus Bachler den Tenor Jonas Kaufmann in der Bayerischen Staatsoper vor 700 ZuschauerInnen in der „Walküre“ auftreten lassen konnte, könnte man auf die Idee kommen, dass die Klassik-Welt bald wieder so sein wird, wie immer. Ich glaube das allerdings nicht: Wir sehen schon jetzt – nicht nur an der Thielemann-Entscheidung –, dass sich langsam neue Werte etablieren, bald wird es sicherlich Diskussionen um öffentliche Gelder geben, und dann sind da noch die neuen digitalen Wege. Interessant in diesem Zusammenhang fand ich einen Text von Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau, in der sie über Rameaus „Hippolyte et Aricie“ aus Mannheim und über Brittens „The Turn of the Screw“ in Hannover jubelt und konstatiert, dass es so „nicht mehr sein“ wird. +++
CRESCENDO-Podcast: Hidden Secrets of Classical Music – Folge 5
„Bitte schreiben Sie Musik wie Wagner, nur lauter!”
Detektivgeschichten aus der Welt der Klassik
Wie geht es den Theatern und Opernhäusern in Corona-Zeiten? Der MDR hat an 19 Häusern nachgefragt – und die Ergebnisse klug aufgearbeitet. +++ Der Sänger Matthias Goerne befindet sich offensichtlich in einem Rechtsstreit mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra. Das habe ihm keine Honorare nach Corona-Absagen gezahlt, heißt es – gestritten wird um 12.000 Euro Ausfallhonorare und um 4.200 Euro Rechtsanwaltsgebühren. +++ Und dann ist mir letzte Woche noch ein Fehler passiert: Ich habe den verstorbenen Bratschisten Laurent Verney, der mit 61 Jahren in Paris bei einem Fahrradunfall ums Leben kam, trotz besseren Wissens als Geiger verabschiedet – das tut mir leid.
UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN?
Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt! Heute versteckt es sich vielleicht im Negativen: Jeder, der sich schon mal Gedanken über den eigenen Tod gemacht hat und darüber, wie man sich das alles vorstellen kann, wie man diesen Kampf angehen will, der sollte das Gespräch lesen, das Hartmut Welscher vom VAN Magazin mit dem Pianisten Lars Vogt geführt hat. Der kämpft derzeit mit Chemo-Therapie gegen einen bösen Speiseröhrenkrebs. Und was er in diesem ausführlichen Gespräch sagt, ist, wovon jemand wie ich, wenn es so weit ist, hoffe, seine Kraft zu haben, um die Welt noch so zu sehen. Lars Vogt sagt unter anderem: „Ich bin jetzt 50 und was ich in meinem Leben schon alles erleben durfte, ist der Hammer. Selbst wenn es jetzt vorbei wäre – ich weiß nicht, ob es einen Schöpfer gibt, aber wenn es ihn gäbe, könnte ich nur tief den Hut ziehen und Danke sagen. Es ist einfach irre, welche Menschen ich habe kennenlernen können, welchen Beruf ich habe ausüben dürfen, unglaublich eigentlich.“ Ich habe das Gespräch, in dem Vogt die Familie als klare Priorität definiert, in dem die Aufgeregtheiten unserer (Klassik)-Welt so klein werden und die Musik an sich (Brahms!) so groß, inzwischen mindestens sechs mal gelesen und schreibe aus vollem Herzen: Lieber Lars Vogt, Ihr Blick, Ihre Ordnung der Dinge und der Welt, ja auch der Musik – all das ist für mich ganz, ganz groß und vorbildhaft und hinterlässt bei mir ein tiefes Nachdenken über das Große und Ganze unserer alltäglichen Arbeit. Ich wünsche Ihnen und den Ihren alle Kraft der Welt.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
brueggemann@crescendo.de