KlassikWoche 35/2023

Schlag ins Gesicht: Gardiner, Salz­burg, Netrebko

von Axel Brüggemann

28. August 2023

Der Ausraster des Dirigenten Sir John Eliot Gardiner und sein Rücktritt, die Weigerung des SWR, journalistische Fragen zu beantworten, die Kritik an Markus Hinterhäuser, dem Intendanten der Salzburger Festspiele.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit einem Schlag ins Gesicht, mit einem Blick auf Berliner Insze­nie­rungen und einigen mora­li­schen Grund­satz­fragen.

Berliner Insze­nie­rungen

ist allge­gen­wärtig: Die neue Chef­di­ri­gentin des Konzert­haus­or­ches­ters in Berlin sitzt in Talk­shows, gibt erschre­ckend biedere Inter­views wie gerade mit Rein­hard Brem­beck in der Süddeut­schen Zeitung und irri­tiert gleich­zeitig auf dem offi­zi­ellen Foto des Orches­ters: eine Diri­gentin, deren Musi­ke­rInnen im Hinter­grund unter einem merk­wür­digen Lichtdom die Revo­lu­tion planen (oder sich gegen die Benen­nung der Chefin aufregen?). Auf meinem neuen Insta-Profil back­stage­clas­sics habe ich eine Umfrage gestartet: Nur 19 Prozent fanden das Bild „absolut modern“, 50 Prozent finden: „Bei einem Mann wäre das pein­lich“, und 31 Prozent stimmten für: „Sieht nach Karajan aus“. Inter­es­sant dabei: Joana Mall­witz wird vom glei­chen Agenten wie Phil­har­mo­niker-Chef vertreten, von Michael Lewin, und verkör­pert doch das abso­lute Gegen­bild. Was man aber auch sagen muss: Mall­witz belebt eine im Umbruch befind­liche Berliner Klassik-Szene. Die Komi­sche Oper zieht (ohne inhalt­liche Neuerfin­dung) ins Exil, die Staats­oper ringt um einen neuen Musik­di­rektor (ich persön­lich glaube, es wird knapp für ), und bald wird viel­leicht die Deut­sche Oper unter dem desi­gnierten Inten­danten von all diesen Rochaden profi­tieren und sich als eigent­lich progres­sives Haus aus der jahre­langen Bedeu­tungs­lo­sig­keit befreien. Ich habe diese Gedanken für den Cicero (hinter der Bezahl­schranke) etwas ausführ­li­cher aufge­schrieben, und den Fall Mall­witz debat­tieren wir auch im Podcast Alles klar, Klassik?

Schläge ins Gesicht der Klassik

Mir war nicht bewusst, dass offen­sicht­lich ebenso bekannt für seine Ausraster ist wie für seine Einspie­lungen. Auch nicht bekannt war mir der Text des Spec­tator, in dem der Jour­na­list Damian Thompson bereits 2015 von der „rudeness of John Eliot Gardiner“ berichtet hat. Nachdem der Diri­gent den Sänger William Thomas nun ins Gesicht schlug, weil dieser die Bühne auf der falschen Seite verlassen hatte, sich später entschul­digte (es wären die Hitze und die Medi­ka­mente gewesen) und seine Tournee mit Berlioz« Oper Les Troyens abge­sagt hatte, fragte ich auf Face­book und Insta­gram nach weiteren Erfah­rungen mit John Eliot Gardiner.

Beson­ders inter­es­sant ist, was Regis­seur Thomas Guthrie schrieb, der mehr­fach mit Gardiner zusam­men­ge­ar­beitet hatte: Er erzählt eben­falls von Über­griffen und gibt eine span­nende Geschichte wieder, die Gardiner ihm einmal erzählt habe: Als kleines Kind sei er zur Strafe von seinen Eltern aus dem Auto geschmissen worden und musste den Weg nach Hause allein finden. Der strenge Einfluss seines Vaters Rolf Gardiner, der offen­sicht­lich in der briti­schen Nazi-Partei enga­giert war, wurde von vielen thema­ti­siert. Außerdem wurde von „Brüll-Proben“ im Wiener Konzert­haus berichtet und davon, dass viele sich eher unwohl in der Nähe des Diri­genten fühlen würden. Umso wich­tiger, dass derar­tiges Verhalten inzwi­schen öffent­lich debat­tiert wird und Konse­quenzen hat. Das Bild oben zeigt übri­gens, wie ironisch man auf Face­book mit dem Vorfall umge­gangen ist. 

„Kein Kommu­ni­ka­ti­ons­be­darf“ beim SWR

Der SWR manö­vriert sich immer tiefer in eine Kommu­ni­ka­tions-Kata­strophe. Nachdem das Orchester und seine Mana­gerin Sabrina Haane sowohl mir als auch anderen Jour­na­listen erklärt hatten, der SWR würde den Auftritt des russi­schen Basses Alexey Tikho­mirov (er trat in Russ­land mit dem Sankt-Georgs-Band auf und befür­wor­tete auf sozialen Medien Putins Angriffs­krieg) bei einer Konzert-Tournee mit dem Orchester und seinem Chef­di­ri­genten im September prüfen, schrieb sie dem Jour­na­listen , als der nun noch einmal nach­hakte: Es bestünde in dieser Sache „kein Kommu­ni­ka­ti­ons­be­darf“. Das muss man sich mal klar machen! Da werden Jour­na­lis­tInnen vom Orchester eines öffent­lich-recht­li­chen Senders zunächst vertröstet, dann bekommen sie keine Antwort mehr, und bei erneuter Nach­frage heißt es von der Kommu­ni­ka­tions-Abtei­lung, es bestünde „kein Kommu­ni­ka­ti­ons­be­darf“. Hier wird ausge­rechnet vom Orchester eines öffent­lich-recht­li­chen Senders jour­na­lis­ti­sche Arbeit mit Füßen getreten. Natür­lich, lieber SWR, gibt es in einer Demo­kratie „Kommu­ni­ka­ti­ons­be­darf“, sobald Jour­na­lis­tInnen ernst­hafte Fragen zu ernst­haften Recherche-Ergeb­nissen stellen. Aber der Sender agiert in seiner Öffent­lich­keits­ar­beit immer mehr wie sein zu allem schwei­gender Chef­di­ri­gent Teodor Curr­entzis – nicht ausge­schlossen, dass der sich über den Umgang mit Jour­na­listen in einer Demo­kratie ins Fäust­chen lacht. Um die ganzen Verstri­ckungen in diesem Fall zu verstehen, hat Alex­ander Strauch sie hier noch einmal detail­liert zusam­men­ge­fasst. Ach ja, über die angeb­liche Tren­nung von Redak­tion und Orchester beim SWR wird in den kommenden Wochen sicher­lich auch noch berichtet werden. 

Immer konkreter gestaltet sich die Situa­tion derweil für : Nachdem ihr Konzert in Prag abge­sagt wurde, trat sie nun auch nicht in Liech­ten­stein auf (angeb­lich krank­heits­be­dingt), und ein anste­hendes Konzert im November in Estland wurde wohl eben­falls abge­sagt. Außerdem formiert sich breiter Protest gegen ihren Auftritt an der Staats­oper in Berlin. Auf Insta­gram „korri­gierte“ die Histo­ri­kerin Fran­ziska Davies gerade den Netrebko-Eintrag der Staats­opern-Seite (siehe Foto). 

Öster­reichs Presse demon­tiert Hinter­häuser

Die Luft wird dünner für . Während der Fest­spiele hat die öster­rei­chi­sche Presse still­ge­halten, aber jetzt nimmt sie kein Blatt mehr vor den Mund: Im Herbst soll über die Verlän­ge­rung des Inten­danten der Salz­burger Fest­spiele, über die Zukunft von Hinter­häuser, verhan­delt werden. Da zieht der öster­rei­chi­sche Stan­dard eine eher ernüch­ternde Bilanz. Die Jour­na­lis­tInnen Ljubisa Tosic, Stephan Hilpold und Marga­rete Affen­zeller spre­chen von „besorg­nis­er­re­gender Routine“, üben Kritik an der „Program­mie­rung“ und an der „selbst­ver­ständ­li­chen Abwehr­hal­tung einer diskur­si­veren Durch­läs­sig­keit des Festi­vals und seiner gesell­schafts­po­li­ti­schen Posi­tio­nie­rung“. Die AutorInnen analy­sieren: „Warf sich Lang­zeit­prä­si­dentin noch breit­beinig in Diskus­sionen, verschanzt sich Hinter­häuser gerne in seiner künst­le­ri­schen Trutz­burg“. Der Stan­dard kommt zu dem Schluss: „Hinter­häuser scheint die Rolle als ‚König von Salz­burg‘ (so titelte ein Wiener Magazin) zu über­for­dern.“ Und weiter: „Im Herbst steht Hinter­häu­sers mögliche Vertrags­ver­län­ge­rung an – da sollten zuvor noch inten­sive Gespräche geführt werden.“ Das Credo des Textes: Hinter­häuser kann es nicht. Ach ja, und dann ist da noch das Profil, Öster­reichs großes Nach­richten-Magazin. In der Welt rechnet Manuel Brug erbar­mungslos mit den Fest­spielen ab: Martin Kušejs Figaro sei „plump“ gewesen, der Orfeo ein „Schmer­zens­ve­hikel für den alternden Mezzo-Star “, Macbeth sei „aufge­wärmt“, Chris­toph Martha­lers Falstaff „unin­spi­riert“ und schlecht diri­giert – alles in allem, so Brug: „ein Desaster“.

Perso­na­lien der Woche

Der ARD-Musik­wett­be­werb ist eröffnet. Aber statt musi­ka­li­scher Nach­richten bedrü­cken eher die perspek­ti­vi­schen Aussichten. Die Spar­maß­nahmen der öffent­lich-recht­li­chen Sender gehen weiter: 2025 wird die Umlage der ARD-Anstalten zur Finan­zie­rung der Veran­stal­tung von 740.000 Euro um die Hälfte auf 370.000 Euro gekürzt, der BR-Beitrag aber erhöht. Was 2026 und folgende Jahre sein wird, dürfte sich erst im Früh­jahr 2024 entscheiden. Die Süddeut­sche Zeitung schreibt: „Es scheint, als befände sich die ganze Veran­stal­tung gleichsam auf einer immer kleiner werdenden Eisscholle. Denn für 2025 müsse man nun von vier auf drei Konkur­renzen zurück­fahren. Sonst könne man mit dem Wett­be­werb kaum mehr eine Gene­ra­tio­nen­folge der jungen Künstler abbilden.“ +++ Die taz führt eine merk­wür­dige Sommer­loch-Debatte, die sonst eigent­lich niemand führt: Sollen Stadt­theater in der Sommer­pause weiter­spielen? Natür­lich nicht! Ein selten naiver Text. Wie wäre es wenigs­tens damit, den Klassik-Zirkus mal mit dem Fußball zu verglei­chen: Nach der Saison geht es gleich weiter in die Cham­pions-League und Welt­meis­ter­schaft der Fest­spiele – kein Wunder, dass es zu immer mehr krank­heits­be­dingten Absagen kommt. 

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht ja hier: Die Sommer­pause unseres Podcasts Alles klar, Klassik ist vorüber. Die neueste Folge ist bereits online (hier für Apple Podcast oder alle anderen Anbieter) oder hier für Spotify.

Außerdem darf ich noch Eigen­wer­bung machen: Mein Film Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt ist noch wenige Tage kostenlos in der ARD-Media­thek abrufbar.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de