KlassikWoche 36/2021

Angst vor vollen Häusern und Bangen um Eva Wagner

von Axel Brüggemann

6. September 2021

Joana Mallwitz’ Wechsel zum Konzerthausorchester Berlin, das Bangen um Eva Wagner, die Übernahme vom Klassik-Streaming-Dienst Primephonic durch Apple

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

ich weiß, es ist nicht so cool, sich auf die eigene Schulter zu klopfen, aber, hey: Letzte Woche hatten wir mal wieder sechs Rich­tige mit unserem News­letter: Mall­witz, Viotti und und und. Aber es geht schon weiter: Bangen um Eva Wagner, die Angst der Kultur vor vollen Häusern und viel zu viele Tote.

NACH­KLAPP MALL­WITZ & VIOTTI & NETREBKO

Okay, der letzte News­letter war selbst für uns ein biss­chen beson­ders: Nachdem wir letzten Montag berichtet hatten, dass wohl zum wech­seln wird, gab es dort aller­hand Nach­fragen, und am Dienstag gab das Ensemble dann offi­ziell bekannt, dass die derzei­tige Gene­ral­mu­sik­di­rek­torin in das Amt von über­nehmen wird. Das hatte am Dienstag auch die dpa gemeldet, aller­dings mit dem Neben­satz, dass Mall­witz die „Wunsch­kan­di­datin des Orches­ters“ sei. Keine Ahnung, woher die Pres­se­agentur diese Infor­ma­tion nimmt (dieses Zitat wurde im Text auch nicht zuge­ordnet, gespro­chen hat die dpa wohl ledig­lich mit Mall­witz). Nach unserem Infor­ma­ti­ons­stand (aus zwei Quellen) sieht die Situa­tion nämlich etwas anders aus. Die Entschei­dung für die Diri­gentin war offen­sicht­lich eher ein Allein­gang des auf Medien-Aufmerk­sam­keit bedachten Konzert­haus-Inten­danten Sebas­tian Nord­mann. Im Orchester selber soll es dagegen aller­hand Wider­stand gegen den Allein­gang und die Perso­nalie gegeben haben.

Aber im letzten News­letter hat es ja noch ein anderes Thema gegeben, das inter­na­tional aufge­nommen wurde, und zwar von der New York Times. Nachdem wir uns an dieser Stelle Gedanken über die Sixpack-Bilder von Diri­gent gemacht haben (ja, liegt nicht in , danke für die Korrektur!), argu­men­tierte er nun, dass sein Insta-Auftritt ein neues Klassik-Publikum errei­chen würde. Was soll ich dazu sagen, nachdem ich mir mitten in der Midlife-Crisis ein Long­board gekauft, mir die Bänder gerissen habe und nun mit Rücken­schmerzen durch die Welt humple? „Lorenzo, I will come back, und wir laufen gemeinsam die Alte-Donau-Runde, okay?!“ Ach ja, und dann habe ich für den SWR noch die im News­letter geformten Gedanken über Mega-Stars und Mega-Enttäu­schungen anhand der und extem­po­riert (sie hat ihre aktu­elle Tournee aus fami­liären Gründen abge­sagt) – was für aller­hand anre­gende Diskus­sionen sorgte

ANGST VOR VOLLEN HÄUSERN?

Mit aller­hand Unver­ständnis habe ich den Text von Chris­tiane Lutz in der Süddeut­schen darüber gelesen, dass viele Theater in ihre Säle gar nicht ganz öffnen wollen, obwohl sie es längst könnten: „Die meisten städ­tisch und staat­lich subven­tio­nierten Theater entscheiden sich derzeit nicht für Voll­be­set­zung und Masken­frei­heit, sondern tüfteln eigene Regel­werke aus. Berlin beispiels­weise. Dort dürften laut Corona-Verord­nungen bei entspre­chenden Lüftungs­sys­temen, 100 Prozent Zuschauer einge­lassen werden, ohne Maske. Dennoch entschied man sich etwa am Berliner Ensemble, die Masken­pflicht beizu­be­halten, um in dem recht engen Theater den Zuschauern ein größt­mög­li­ches Gefühl der Sicher­heit zu geben, wie die Pres­se­spre­cherin erklärt.“

Eine Maßnahme, die ich durchaus verstehe, anders die Situa­tion, über die Lutz in berichtet. Obwohl auch dort eine volle Auslas­tung erlaubt sei, „plant man für die Saison­er­öff­nung am 10. September mit nur 60 Prozent, konkret für das große ‚Depot 1‘ heißt das 296 statt 480 Zuschauer. Dafür dürfen die ihre Maske am Platz abnehmen. Die Menschen sollen sich wieder etwas entspannen dürfen, aber trotzdem sicher fühlen, lautet die Idee, lieber verzichtet man daher auf die Voll­be­set­zung.“ Ich finde, wir müssen darüber reden. Es scheint, dass das Publikum eben nicht in dem Maße zurück­kommt, wie wir es erhofft haben. Und, ja, jeder fühlt sich besser, wenn er spürt, dass es ein Sicher­heits­kon­zept (etwa die sorg­fäl­tige Kontrolle der 3G-Regel) gibt. Sich frei­willig klein zu schrumpfen, kann aber keine Lösung mit Perspek­tive sein.

BANGEN UM EVA WAGNER

Es gibt Nach­richten, bei denen man als Jour­na­list nicht weiß, wie man damit umgehen soll. So ging es mir mit der Nach­richt aus dem Nord­baye­ri­schen Kurier, der vermeldet hat, dass die Tochter von Wolf­gang Wagner und eins­tige Co-Inten­dantin der , Eva Wagner-Pasquier (76, oben mit Vater Wolf­gang) um ihr Leben ringt. Ein Kampf zwischen Leben und Tod, der – so finde ich – von außen nicht wie ein Auto­un­fall beob­achtet werden sollte. Ich kenne Eva Wagner-Pasquier als lebens­frohe, anpa­ckende Frau, als stolze Mutter und leiden­schaft­liche Musik­ma­na­gerin. Viel­leicht an dieser Stelle nur so viel: Wer mag, halte einen Moment inne und sende ihr (auf welchem Weg auch immer) Kraft in diesem Augen­blick.

APPLES NEUER KLASSIK-DIENST

Bedeutet das das endgül­tige Aus für den Klassik-Stream-Anbieter Idagio? Apple hat die Über­nahme des Strea­ming-Dienstes Prim­ephonic bekannt­ge­geben, der sich auf Klassik spezia­li­siert. Apple kündigte an, diverse Funk­tionen von Prim­ephonic in den nächsten Wochen und Monaten für Apple-Music-Abon­nenten verfügbar zu machen. Zusätz­lich zu den Prim­ephonic-Features in Apple Music erscheint im nächsten Jahr wohl auch eine neue Apple-App für klas­si­sche Musik, die weitere Funk­tionen von Prim­ephonic enthält – inklu­sive der Benut­zer­ober­fläche des Services. Diese Über­nahme könnte ein Game­ch­anger der Klassik-Welt werden und auch viele Labels, die an eigenen Strea­ming-Diensten tüfteln, vor neue Heraus­for­de­rungen stellen. Zeit für eine inten­sive Ausein­an­der­set­zung mit diesem Thema an anderer Stelle. 

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Der 26-jährige Diri­gent , der gerade als GMD mit der wunder­baren die Saison in Wuppertal eröffnet hat (sie hat sich danach ein ziem­lich cooles, neues Mega-„Moped“ Namens „Salome“ zuge­legt), über­nimmt nun auch noch den Posten des Ersten Gast­di­ri­genten beim . +++ Als Patrick Hahn geboren wurde, ernannte man Helga Rabl-Stadler zur Salz­burger Fest­spiel­prä­si­dentin. BR-Mann Bern­hard Neuhoff hatte lange ein gespal­tenes Verhältnis zu ihr und band ihr nun einen verbalen Blumen­strauß. Ich weiß ja nicht. In den letzten Jahren war das da schon alles ein wenig Waldorf und Stadler – es ist schon auch gut, jetzt mal wieder neu zu denken. Salz­burg braucht mehr Welt­of­fen­heit und weniger selbst­zu­frie­dene und sati­ri­sche Kuschel-Provinz. Während die derzei­tige Präsi­dentin überall für einen Nach­folger wirbt, „der dem Markus (Hinter­häuser) beisteht“, sollen sich im Hinter­grund zahl­reiche Kandi­daten in Stel­lung bringen. Gerede gibt es noch immer über den schei­denden ORF-Gene­ral­di­rektor Alex­ander Wrabetz (der es als Nicht-Salz­burger schwer haben dürfte), und auch dem amtie­renden Landes­haupt­mann Wilfried Haslauer werden Ambi­tionen nach­ge­sagt. +++ Das Essener Aalto-Musik­theater bekommt eine neue Inten­dantin. Die Musik­wis­sen­schaft­lerin Merle Fahr­holz soll zur Spiel­zeit 202223 die Leitung des Opern­hauses und der Essener Phil­har­mo­niker über­nehmen. Fahr­holz ist derzeit stell­ver­tre­tende Inten­dantin und Chef­dra­ma­turgin an der Oper Dort­mund. In tritt sie die Nach­folge von Hein Mulders an, der in glei­cher Funk­tion an die Kölner Oper wech­selt.

„Wäre doch schade um die schöne Melodie“ – Der große Arien-Klau

Episode neun von Hidden Secrets of Clas­sical Music folgt den Fährten der Arien durch Opern von , , Giovanni Bonon­cini, , , Gioa­chino Rossini. Hören Sie die Episode auf CRESCENDO​.DE!

+++ Mikis Theod­orakis, der große Poet und Kompo­nist der Grie­chen, der 1964 mit seiner Musik zu dem Film „Alexis Sorbas“ – mit Anthony Quinn in der Titel­rolle – welt­be­kannt wurde, ist mit 96 Jahren gestorben. Viele habe ihm wunderbar nach­ge­rufen, unter anderem auch BR-Klassik. +++ Gestorben ist auch der Kompo­nist Sieg­fried Matthus, Meis­ter­schüler von . Er war einer der wich­tigsten Kompo­nisten der DDR, dessen Opern an der Dres­dener Semper­oper, der Berliner Staats­oper „Unter den Linden“, der Deut­schen Oper und an der Komi­schen Oper Berlin urauf­ge­führt wurden. Sieg­fried Matthus ist im Alter von 87 Jahren gestorben. +++ Der ehema­lige Wall-Street-Investor und Opern-Mäzen Alberto Vilar ist in der Nacht auf Samstag in verstorben. Er war 80 Jahre alt. Vilar war Sponsor unter anderem der Bayreu­ther und der Salz­burger Fest­spiele, des Fest­spiel­hauses , der Metro­po­litan Opera in New York und des in London. Seine Spenden sollen sich welt­weit auf rund 225 Millionen Dollar belaufen haben. 2005 wurde er wegen Finanz­be­trugs verhaftet und nach einem acht­wö­chigen Prozess zu neun Jahren Haft verur­teilt. 2018 wurde er entlassen. +++ Und noch einen Tod gibt es bekannt zu geben. Ich erin­nere mich an eine etwas absurde Begeg­nung, damals war ich Student, und er trat beim Musik­fest in auf: Ich wollte mit ihm über Russ­land, die Russi­sche Schule und das Geigen­spiel spre­chen, er wollte mit mir feiern. Es war ein absurder und langer Abend. Erst einen halben Monat nach dem Tod des Geigers Igor Oistrach wurde sein Ableben bekannt – auch das ist: absurd. 

UND WO BLEIBT DAS POSI­TIVE, HERR BRÜG­GE­MANN?

Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt. Viel­leicht hier: Ich weiß nicht, wie es Ihnen ging: Aber ich bin in den letzten Wochen immer wieder bei den Para­lym­pi­schen Spielen in hängen­ge­blieben. Das war span­nend, faszi­nie­rend – und: einfach groß­artig. Spit­zen­leis­tungen auf allen Ebenen und (endlich mal!) ange­mes­sener Raum im Fernseh-Haupt­pro­gramm. Bei der Eröff­nung der Spiele sahen wir die Schwim­merin Manami Ito, die einen Arm verloren hat, mit der Geige. Und, ja – das ist das Posi­tive … wo Sport oder Musik uns inspi­rieren, sind wir Menschen einfach am schönsten! Hier ein kleiner Einblick in das Leben der sport­li­chen Künst­lerin. 

Ach ja, und dann war da der Thürin­gi­sche Lite­ra­tur­preis für den Inten­danten des Thea­ters Rudol­stadt, Steffen Mensching. Keine Ahnung, warum der noch immer in Rudol­stadt ist – wahr­schein­lich, weil er es will, obwohl er sich einst in Paris, New York oder in einer anderen Metro­pole gesehen hat. Ich kann nur sagen, dass sein Roman „Scher­manns Augen“ auch für mich das Beste gewesen ist, das ich in den letzten beiden Jahren gelesen habe. Der mdr feiert Mensching, und ich sage, wenn Sie seinen Roman nicht kennen: kaufen

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

P.S.: Ach ja – all die Fragen, warum ich nicht über die Gewinner des berichtet habe … Leute, seit Thomas Gott­schalk weg ist, macht es doch keinen Spaß mehr :-))) – ich verfolge ihn jetzt lieber bei seinem neuen Arbeit­geber, der unga­ri­schen Klassik-Seite Virtuózok. Bitte, kein Mitleid! 

Fotos: Debut, Konzert­haus Berlin, apple, Titel:

Fotos: Claudia Hohne