KlassikWoche 37/2022
Walla, Waga, Woke Du Welle…
von Axel Brüggemann
12. September 2022
Die künstlerische Ausrichtung der Bayreuther Festspiele, die Intransparenz der Streaming-Dienste, ein Nachruf auf den Pianisten und Dirigenten Lars Vogt.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute mit einer Nachlese über Führer und Schützer, mit einer Entschuldigung bei Sir Simon Rattle und Tränen für Lars Vogt.
Walla, Waga, Woke Du Welle
Hui, da haben wir ganz schön was losgetreten, letzte Woche. Der BR hat nach dem Bericht der KlassikWoche noch mal in Bayreuth nachgefragt und sich sowohl die sexuellen Übergriffe als auch die Entlassung eines Mitarbeiters bestätigen lassen. Manuel Brug nahm in der Welt das Thema der konservativen Festspiel-Fraktion um Georg von Waldenfels auf und legte ebenfalls nach: „Wie man hört, blockieren die Freunde gegenwärtig auch den Kauf von 3D-Brillen für den neuen Parsifal 2023, die längst vom Verwaltungsdirektor abgesegnet sind. (…) Da wäre also Claudia Roth gefragt. Statt ‚Diversität‘ und ‚junge Zuschauer‘ einzufordern, sollte sie lieber dafür sorgen, dass einzig der Bund und Bayern in Bayreuth neben der Leiterin das sagen haben.“ Der Merkur kommentiert in die gleiche Richtung: Nicht Katharina Wagner, sondern Claudia Roth sei nun am Zuge.
Ganz woanders hin wollte Welt-Journalist Lucas Wiegelmann die Debatte durch das sehr vorhersehbare Interview mit Christian Thielemann lenken, der noch einmal die „Führer“-Debatte aufgegriffen hat (zur Erinnerung: Seit Jahren wurde in Bayreuth das Wort „Führer“ am Ende des Lohengrin durch das Wort „Schützer“ ersetzt – Katharina Wagner will daran festhalten, Thielemann wieder „Führer“ singen lassen.) In Wahrheit ist dies eine vollkommene Nicht-Debatte, wie Bernhard Neuhoff vom BR zu Recht feststellte. Ein Streit, so absurd wie die von Bild hergeschriebene „Winnetou-Debatte“ (niemand will Winnetou verbieten!!!). Es handelt sich hier nicht einmal um eine Wagner-Debatte. Gerade sorgte Riccardo Muti für Aufsehen, weil er mit der Tradition brechen wollte, Verdis rassistischen Maskenball-Satz „dell’immondo sangue dei negri“ nicht mehr zu ändern (wie es seit langem überall gang und gäbe ist), sondern ihn wieder im Original zu singen. Hey, Leute: Dieser Streit ist längst geführt – und entschieden! Kümmern wir uns bitte lieber wieder um die strategische und künstlerische Ausrichtung der Festspiele, statt Wagner zum Karl May der Oper zu schrumpfen, zum Künstler, in dessen Nimbus altes Weiße-Männer-Testosteron noch einmal unzeitgemäß sprudelt!
Hengelbrock fordert Umdenken
In einem lesenswerten Interview mit der Frankfurter Rundschau fordert Dirigent Thomas Hengelbrock ein massives Umdenken der Klassik, besonders den freien Ensembles ginge es derzeit an den Kragen, privates Geld stünde auf dem Spiel. Einer seiner Gedanken: „Wir alle stehen vor großen Herausforderungen, vielen Fragen. Müssen die Opernhäuser und Theater wirklich so viele Produktionen im Abo-System raushauen, weil es schon immer so war? Oder denken wir unser System grundsätzlich zeitgemäßer und lebendiger neu? (…) Sollte der Musikmarkt dauerhaft übersättigt und ermattet sein, müssen wir eben andere Wege finden, das tiefe existenzielle Bedürfnis vieler Menschen nach Musik und Kunst zu befriedigen. All dies scheint nun immer mehr Menschen bewusst zu werden. Jetzt brauchen wir dafür neue Denkweisen, Räume und Freiheiten.“
Streaming-Dienste zu intransparent
Eine Umfrage der GEMA stellt den Streaming-Diensten ein schlechtes Zeugnis aus: Streaming hat den globalen Musikmarkt im vergangenen Jahrzehnt fundamental verändert. 45 Prozent der Deutschen nutzen Musik-Streaming, bei den 14- bis 29-Jährigen liegt der Anteil bereits bei 84 Prozent. Doch viele Musikschaffende partizipieren bisher kaum am Erfolg des Musik-Streamings, so eine zentrale Erkenntnis der Studie. „Das Streaming-Wachstum der letzten Jahren wurde zum Teil auf dem Rücken der Musikschaffenden und ihrer Partner generiert“, kritisiert Harald Heker. „Es ist höchste Zeit, dass der ‚Streaming-Kuchen‘ für die Musikbranche insgesamt größer wird.“ Etwas weniger als ein Drittel des Streaming-Umsatzes verbleibt bei den Streamingdiensten. Rund 55 Prozent gehen an die Leistungsschutzrechtsseite – das sind die Musiklabes sowie die Interpretinnen und Interpreten. Allerdings nicht zu gleichen Teilen. Die Labels bekommen gut 42 Prozent, während die Musikerinnen und Musiker bei knapp 13 Prozent landen.
Weil es sein muss – Perspektivenwechsel
Der Tagesspiegel veröffentlichte diese Woche den diskussionswürdigen Text eines in Russland lebenden Herausgebers einer Musikzeitschrift. Yaroslav Semerikov (der Name ist ein Pseudonym) erklärte, dass die Opposition im Lande mundtot gemacht worden sei – und gibt dafür auch den Sanktionen des Westens die Mitschuld. „Viele meiner Freude beklagen, dass (eine weltoffene Kulturszene) nicht nur unter den Aktionen von Putin, sondern auch unter den Sanktionen westlicher Staaten leidet. Natürlich ist dies für uns und vor allem für die Ukrainer nicht von vorrangiger Bedeutung (…). Doch es entsteht der Eindruck, dass viele in Europa in gerechtem Zorn die Paradoxie übersehen, dass Abgrenzung in diesen Tagen selten die ‚Putin-Mehrheit‘ trifft, sondern in erster Linie frei denkende Menschen.“ Eine derartige Argumentation ist sicherlich verständlich, aber die Frage bleibt: Was wäre eine Alternative? Sanktionen – sowohl in der Wirtschaft als auch in der Kultur – treffen immer ein ganzes Land (das liegt in der Sache von Sanktionen), und dass Putin den Verzicht zunächst auf die von ihm ausgemachten Staatsfeinde lenkt, ist nur ein weiterer Beweis seiner menschenverachtenden Diktatur.
Tatsächlich hat das „Brückenbauen“ der Kultur in den letzten Jahren auch deshalb versagt, weil gerade Putin die Kultur als Möglichkeit der ökonomischen und politischen Einflussnahme missbraucht und die Grundlage ihres Humanismus beschädigt hat (und dafür stets Mitspieler im Westen – wie etwa Hajo Frey oder Ioan Holender – gefunden hat). Umso wichtiger erscheint es, gerade auf diesem Feld die grundlegenden Prinzipien des demokratisch-humanistischen Miteinanders hochzuhalten und jene KünstlerInnen zu sanktionieren, die in dieser Zeit auf allen Hochzeiten tanzen wollen. Ein Nachgeben würde aus Gutgläubigkeit eine Tür für Putins Gewissenlosigkeit öffnen. Es ist eben nicht zu verstehen, dass ein Dirigent wie Teodor Currentzis Gebühren-Gelder vom SWR bekommt, Deutschland sich auf einen kalten Winter vorbereitet, und der Dirigent sich gleichzeitig in St. Petersburg von Gazprom-Chef Alexei Miller feiern lässt. Aber dazu nächste Woche wieder mehr.
Weil es sein muss II – Musik und Moral
Es ist schon fast ein wenig anrührend, wie Anna Netrebko auf Facebook die positiven Kritiken ihrer Konzerte, u.a. auch von der Süddeutschen zitiert, offensichtlich mit dem Ansinnen, Kritik an ihrem politischen Schlingerkurs mundtot zu machen. Egbert Tholl fasste zusammen: „Da kann man sich fragen, wer braucht wen mehr, Netrebko den Opernbetrieb, oder dieser Anna Netrebko? Die Antwort steht fest.“ Tatsächlich scheint das Publikum bereits einen Schritt weiter zu sein: Das Konzert in der Elbphilharmonie war weit davon entfernt, ausverkauft zu sein. Ähnliche Fragen stellen sich auch bei Teodor Currentzis: Es mag sein, dass seine letzten Konzerte das Publikum begeisterten, das aber hat nichts mit der Frage zu tun, inwieweit staatlich subventionierte Einrichtungen und Ensembles es zulassen wollen, einen Propagandisten des Putin-Systems zu finanzieren. Es ist wichtig, hier zu trennen: zwischen musikalischem Können und politischer Orientierung. Und zu argumentieren, dass die politische Orientierung nichts mit der Musik zu tun habe, ist in diesen Fällen offensichtlich ein Trugschluss, denn die Kultur ist ein Hauptschauplatz des ideologischen Kampfes geworden, den wir gerade beobachten.
Personalien der Woche I
Beeindruckend die Kritik in der New York Times über die Konzerte von Michael Tilson Thomas, der mit dem Boston Symphony Orchestra bei jenem Festival auftrat, wo seine Karriere begonnen hat: in Tanglewood. Seit einiger Zeit kämpft der Dirigent gegen einen Gehirnkrebs und findet doch immer wieder Kraft in der Musik. +++ 3,5 Millionen hat David Garrett für seine neue Geige, eine Guarneri del Gesù hingeblättert: „Für die Summe werde ich mich von einer meiner Immobilien trennen müssen und eine Wohnung in New York verkaufen. Aber diese Geige ist es mir wert“, erklärte der Stargeiger gegenüber der Bild. Ausgerechnet zu seinem 42. Geburtstag hat Garrett das gute Stück in einem Pariser Auktionshaus ersteigert: ein Instrument aus dem Jahr 1736. Und eines von nur knapp 200 Guarneris, die weltweit noch im Umlauf sind.
Michail Pletnjow, Chef des Russischen Nationalorchesters, der in der Schweiz wohnt, hat keinen Kontakt mehr zu seinem Ensemble. Nun will er ein neues Orchester gründen, das „Russische Rachmaninow-Orchester“ mit Musikern aus Bratislava, Wien, der Ukraine und Russland. +++ Zoff zwischen Salzburgs Festspielchef Markus Hinterhäuser und Sänger Wolfgang Ablinger-Sperrhacke – es geht um gezahlte oder nicht gezahlte Ausfallgelder in Corona-Zeiten. Der Sänger behauptet, die Festspiele hätten sich aus der Verantwortung gestohlen, Hinterhäuser widerspricht.
Abschied von Lars Vogt
Es war ein langer Weg – und sein Ende dennoch ein Schock. Der Pianist Lars Vogt ist seiner Krankheit erlegen, über die er so offen gesprochen hatte. Ein Musiker, ein Mensch – ein außerordentlicher Künstler, der uns anhand seines eigenen Lebens und, ja selbst anhand seines Sterbens, die Größe des Daseins und die Bedeutung der Musik gezeigt hat. Die Klassik-Szene in tiefer Trauer: Der Dirigent Paavo Järvi postet ein Bild der beiden: zwei Männer in T‑Shirt, Arm in Arm. Darüber die Botschaft: „Wir werden dich immer lieben und niemals vergessen.“ Daniel Hope erinnerte sich, wie er vierhändig mit Lars Vogt Klavier gespielt hat. Er habe Vogt als einen „wahren Gentleman“ kennengelernt. Mehr Zeit aber nicht genug hatte die Pianistin Gabriela Montero mit Lars Vogt: „Vor Tagen haben wir uns noch geschrieben, hatten gehofft, dass wir uns sehen. Ich wünschte mir, wir hätten die Zeit dazu gehabt. Heute Abend haben wir ihm zugehört.“ Die Cellistin Julia Hagen schrieb: „Selten hat mich ein Musiker so bewegt, wie Lars Vogt es getan hat. Sein Spielen war wie er selbst auch: ehrlich, echt, wahnsinnig herzlich, offen, nicht prahlerisch, mit einer Tiefe und Wärme, wie ich es nur selten erlebt habe. Immer das Gute in anderen sehend, wahnsinnig.“ Sein musikalischer Partner Christian Tetzlaff sprach im VAN-Magazin über die gemeinsame Arbeit und die letzten Tage ihrer Freundschaft auf Erden.
Personalien der Woche II
Sängerin Sonya Yoncheva reagiert sauer auf Zweifel von Fans, ob sie die Oper La Juive in Wien tatsächlich wegen Krankheit abgesagt hätte. Auf Social Media erklärte sie, dass manche Fans in ihre Privatsphäre eindrängen und fühlte sich dennoch gezwungen, ihre Krankheit zu beweisen. Keine Sternstunde von Opernfans. +++ Plácido Domingo entschuldigt sich nach seinem verpfuschten Dirigat und dem Protest von MusikerInnen bei der Arena di Verona: „Ich danke auch allen, die nach der Turandot-Aufführung nicht aufgestanden sind und mir nicht applaudiert haben. Sie lieben die Arena, ihren Job – und das sollte diese Geste wohl bedeuten. Mir als Musiker hat das sehr wehgetan, aber ich respektiere das und hoffe, dass ich dennoch nächstes Jahr in die Arena von Verona zurückkehren darf.“ +++ Der 28-jährige Killian Farrell wird neuer Generalmusikdirektor des Staatstheaters Meiningen. Mit dem gebürtigen Dubliner sei es gelungen, „den Wunschkandidaten von Hofkapelle und Theaterleitung zu verpflichten“, sagte Intendant Jens Neundorff von Enzberg. +++ Der RBB-Skandal betrifft auch die Musik: Unter Intendantin Patricia Schlesinger brachte der rbb ein Orchester im stillgelegten ICC Berlin unter. Das könnte teuer werden – im schlechtesten Fall sogar für das Deutschlandradio und die Steuerzahler. Die ganze Story auf den Seiten der Tagesschau. +++ In Bregenz droht am Vorarlberger Landestheater ein Finanznotstand aufgrund der allgemeinen Preissteigerung. Sollte das Theater vom Bundesland keine Budgeterhöhung bekommen, müsse spätestens 2024 der Ganzjahres-Spielbetrieb eingestellt werden, sagte die Intendantin Stephanie Gräve.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier. Im vorletzten Newsletter habe ich über die Podcast-Einladung beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und Anne Schoenholtz berichtet, bei der ich über die Musikkritik gesprochen habe. Unter anderem ging es auch um meine Artikel über Simon Rattle in den frühen 2000er-Jahren, und ich erklärte, dass ich damals vielleicht etwas über das Ziel hinausgeschossen sei. Umso schöner nun der neue Podcast von Anne Schoenholtz: Sie ist zu Simon Rattle gegangen und hat noch mal bei ihm nachgefragt. Seine Antwort fiel gentlemanlike aus: „Ich finde es rührend, wenn er heute sagt, dass er eine Grenze überschritten hat. Wir alle treten ja manchmal über eine Grenze. Wenn wir uns dann irgendwann mal treffen, werden wir darüber lachen können.“ Thank you, Sir Simon! Und um Musikkritik und die Zukunft der Musik ging es auch, als der Kontrabassist Georg Breinschmid mich bat, meine Gedanken über die Zukunft der Klassik für ihn aufzunehmen – nun hat er sie tatsächlich vertont, auf seiner neuen CD „Classical Brein“. Mit dabei: Emmanuel Tjeknavorian, Dominik Wagner und Caroline Athanasiadis. Einfach so reinhören in unseren Song kann man: hier. Es war eine Gaudi!
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
Axel Brüggemann