KlassikWoche 39/2022
Ein Cello, viele Mütter und neue Flügel
von Axel Brüggemann
26. September 2022
Der komplizierte Alltag der Bühnenmütter, Christian Thielemann an der Staatskapelle Berlin, Cecilia Bartoli als Opernintendantin in Monte-Carlo.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute geht es um Bühnenmütter, die trotz Benachteiligung „lala“ machen, um eine spannende Publikums-Debatte und darum, warum Teodor Currentzis« Orchester Utopia eine Art RB Leipzig der Klassik zu werden droht (das, wie gewohnt, am Ende des Newsletters).
Benachteiligte Bühnenmütter
Mütter mit Bühnenberufen haben es besonders schwer, das zeigt eine Studie des „Bühnenmütter“-Vereins. Das VAN-Magazin fasst die Studie zusammen: „Teilgenommen haben 121 Künstlerinnen aus den Sparten Oper, Schauspiel, Musical und Ballett, auch aus den Bereichen Regie, Dramaturgie und Bühnenbild. Fast die Hälfte der Befragten (45 Prozent) gab an, im Berufsleben bereits diskriminierendes Verhalten aufgrund der Mutterschaft erfahren zu haben: abfällige Bemerkungen, mangelnde Kooperationsbereitschaft oder Druck seitens der ArbeitgeberInnen. Jede Vierte hat gar eine Vertragsauflösung oder den Ausschluss von einer Produktion erlebt.
40 Prozent der Teilnehmerinnen bestätigten, aufgrund der schwierigen Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Erwägung zu ziehen, nicht mehr als Bühnenkünstlerin zu arbeiten, neun Prozent der befragten Frauen sind diesen Schritt bereits gegangen, vier Prozent bereiten eine berufliche Umorientierung vor. Fast die Hälfte der Teilnehmerinnen will trotz der komplizierten Alltagsgestaltung am Beruf festhalten.“ Wer mehr über die Pionierarbeit der Bühnenmütter wissen will: Hier geht’s zur Website. Und wie man das Thema in Kunst verwandelt, zeigen, am 29. September die Sängerinnen Christina Sidak und Claudia Goebl in Wien mit ihrem Programm „Mama macht lala“.
Wie das wohl wird – an der Staatsoper Berlin
Die Luft vibriert schon ein wenig, wenn Christian Thielemann über die Staatskapelle in Berlin redet: Erst war er hier für Herbert Blomstedt mit Bruckner eingesprungen, danach war er mit Daniel Barenboim Essen und hat sich mit ihm über Wagner und Bayreuth unterhalten. All das reichte für allerhand Spekulationen: Will Barenboim Thielemann zu seinem Nachfolger machen? Das dürfte – auch auf Grund der politischen Konstellation in Berlin – ein schwieriges Unterfangen werden. Thielemann selber übt sich in Understatement: „Ich bin momentan gar nicht darauf aus, dass ich sowas in Erwägung ziehe“, sagte er. Er sei noch zwei Jahre lang Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden, „und dann schauen wir mal weiter, was sich so ergibt“. Tja, und da wird dann wohl auch die designierte Staatsopern-Intendantin, Elisabeth Sobotka, ein Wörtchen mitsprechen. Sie ist ja so etwas wie die Liz Truss der Berliner Opern-Monarchie.
Publikums-Debatte nimmt Fahrt auf
Der Newsletter hat sich in den letzten Monaten immer wieder mit dem Publikumsschwund beschäftigt – und auch mit der Haltung des Geschäftsführers der Deutschen Orchestervereinigung, Gerald Mertens, der kürzlich mit Positiv-Zahlen der Sommer-Festivals das Problem auf Facebook „klein-gepostet“ hat. In einem neuen Interview hat er seine Perspektive noch einmal verdeutlicht und erklärt: Orchester bräuchten in erster Linie mehr Marketing, dann würde das Publikum schon wiederkommen.
Engagierten Widerspruch erntete Mertens von Arno Lücker beim Bad Blog of Musick, der zeigt, dass deutsche Opernhäuser sich durch Hänsel und Gretel-Aufführungen in den Winter retten wollen: „Im Grunde hört man aus allen Häusern, die nicht gerade Netrebko, Kaufmann oder ‚mutige und couragierte Star-Pianisten‘ am Start haben, von größten Sorgen, von fast leeren Sälen. Erstmals seit Jahrzehnten gab es selbst in der Staatsoper Wien nicht ausverkaufte Premieren. Ich wiederhole: Staatsoper Wien, nicht ausverkaufte Premieren.“ Zu diesem Thema habe ich vor kurzem einen umfangreichen Grundsatz-Text geschrieben, der an dieser Stelle nun auch ohne Schranke nachzulesen ist: „Orchester, Theater und Opern müssen begreifen, dass ihre Zukunft und ihre Finanzierung eben nicht von jenen abhängt, die Karten (oft auch sehr teure) kaufen, sondern vom Verständnis aller, die nicht in die Aufführungen kommen, die Kultureinrichtungen durch ihre Steuern dennoch wesentlich mitfinanzieren.“ Auf Facebook kommentierte und erweiterte die Sängerin Simone Kermes den Artikel unter anderem so: „Thea Dorn hat total Recht, und ich kann das nur bestätigen: Es gibt keinen Zauber mehr im Theater weil es kaum noch Fachkräfte gibt, die wirklich Ahnung von Regie, Theater, Bühne, Musik usw. haben. (…) Von der Förderung, dem Weitergeben an die nächsten Generationen steht leider nichts im Artikel – es existiert auch nicht, weil Bildung und Erziehung in diesem Lande keinen Stellenwert haben. Und es fehlen im Artikel die Freischaffenden, die kreativen Künstler, die Szene, wo alles entsteht.“
Personalien der Woche
Wir haben an dieser Stelle im Zusammenhang mit der Bayreuther „Führer“-Debatte bereits darüber berichtet: Auch in italienischen Opern, etwa in Verdis Maskenball werden schon lange Eingriffe in den überkommenen Wortlaut vorgenommen und das N‑Wort wird ersetzt. Dirigent Riccardo Muti hatte dieses Vorgehen bereits mehrfach kritisiert, explizit tat er es diese Woche noch einmal für den BR: „Heute wissen wir, dass Diskriminierung, ob ethnisch oder sexuell, ein entsetzlicher Fehler ist. Aber wir müssen den jungen Leuten sagen: Schaut her, diese Fehler wurden damals gemacht, passt also auf, nicht in die gleiche Falle zu tappen.“ +++ Herbert Blomstedt, 95, hat sich von seinem Sturz erholt und probt wieder: Auf dem Programm mit dem Philharmonischen Orchester Stockholm: Honeggers Vierte Sinfonie. +++ Warum sich der bekannte Pianist Martin Stadtfeld „von eher obskuren Esoterikern in Augsburg“ engagieren ließ, erklärt die Abendzeitung.
Im Tagesspiegel erklären die neuen Intendanten der Komischen Oper in Berlin, Susanne Moser und Philip Bröking, dass sie an die Kontinuität des Ortes glauben: „Oft wird bei einem Intendanzwechsel das komplette äußere Erscheinungsbild einer Institution ausgewechselt. Das wollten wir nicht. Weil wir beide schon lange am Haus sind, war es uns wichtig, eine gewisse Kontinuität zu zeigen, um die gut eingeführte Marke ‚Komische Oper Berlin‘ wiedererkennbar zu halten während der bevorstehenden Jahre der Wanderschaft. Dennoch haben wir auch Akzente der Veränderung gesetzt, wie bei den beiden Schriftarten.“ +++ Im Kurier redet Cecilia Bartoli über ihre neue Position als Operndirektorin in Monte-Carlo: „Die Idee kam von Jean-Louis Grenda, dem aktuellen Direktor. Ich dachte, das würde sich zeitlich niemals ausgehen, neben meinem Job in Salzburg, der mir sehr wichtig ist. Aber dann hat er mich überzeugt, weil die Saison in Monte-Carlo viel kürzer ist als an anderen Opernhäusern.“
Weil es sein muss – „Currentzis verleiht Flügel“
Utopia heißt das neue Orchester von Teodor Currentzis, dessen Auftakt-Konzert in Wien nicht wirklich begehrt zu sein scheint. Rätselraten gibt es noch immer um die Sponsoren und „europäischen Mäzene“. Einer ist allerdings offiziell, die „Kunst und Kultur DM Privatstiftung“. Hinter „DM“ verbirgt sich Red-Bull-Chef und Medien-Unternehmer Dietrich Mateschitz, über den man hier einiges Interessantes lesen kann. Mateschitz gehört auch der Sender Servus-TV, für den Ex-Staatsopern-Intendant Ioan Holender arbeitet (er hatte die Krim für „russischer als russisch“ erklärt und war der einzige, der Currentzis diesen Sommer interviewen durfte – ein Tiefpunkt des Journalismus unter dem Motto „Don’t mention the war“). Der öffentlich-rechtliche SWR hält ebenfalls am Dirigenten fest. Orchesterleiterin Sabrina Haane wurde in der Stuttgarter Zeitung im Mai 2022 noch so zitiert: „‚Wir erwarten‘, fügt sie mit Blick auf die Finanzierung von musicAeterna durch die Putin-nahe VTB Bank an, ‚dass sich am Verhältnis des Ensembles zu den Geldgebern etwas ändert.‘“
Auf meine Nachfrage, was sie inzwischen davon halte, dass musicAeterna noch immer von der VTB Bank unterstützt wird und sogar auf Gazprom-Tour gegangen ist, und wie lange man Currentzis in Baden-Baden noch gewähren lassen wolle, erklärte sie nun: „Ich habe damals die Vermutung geäußert, dass sich bei Verfestigung der Kriegssituation die Auftrittsmöglichkeiten von musicAeterna außerhalb von Russland zunehmend minimieren würden. musicAeterna müsse sich, sofern es weiterhin in Europa gastieren möchte, wohl ein anderes Finanzierungssystem und womöglich auch einen anderen Standort suchen. Das war meine persönliche Einschätzung. Wenn Sie die hier geäußerte Erwartung als Forderung deuten, ist das eine Fehlinterpretation.“ Mit Verlaub, aber wer soll diesen Eiertanz eigentlich noch verstehen, wenn eine Erwartung lediglich eine zahnlose Hoffnung ist?
Aber so langsam können wir diese Kategorie dann wohl sowieso einstellen: In einem sehr ironischen Text hat Frederik Hansen im Tagesspiegel gerade erklärt, warum es bessere Orchester mit dem Namen Utopia gibt als das von Teodor Currentzis: „Dirigent Mariano Domingo bringt (unter diesem Namen) Menschen mit und ohne Behinderung zum gemeinsamen Musizieren zusammen. Vielleicht spendiert Teodor Currentzis den Mitgliedern des barrierefreien Orchesters, dessen Namen er annektiert hat, ja wenigstens Tickets für seinen Oktober-Auftritt in der Philharmonie“ – könnte passieren, wenn hier genauso wenige Leute Interesse haben wie in Wien.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier: Nachdem aus Prince Charles King Charles geworden ist, haben wir überall Bilder von ihm gesehen, auf denen er mit Cello zu sehen ist. Mich persönlich hat aber ein – vielleicht nicht ganz so royales – Cello in dieser Woche noch viel mehr begeistert: Ein Punk-Cellist in einem Park – ich bin sicher: Das Video wird ein Klassiker im Netz. Ach ja, und weil es so schön war am Wochenende in Zürich – hier noch ein bisschen Eigenwerbung: Vielleicht haben Sie ja Lust auf die Gala des Europäischen Kulturpreises, bei dem dieses Mal Mario Adorf, Sol Gabetta, Bryn Terfel, Camilla Nylund, Claudia Cardinale, das Tonhalle-Orchester und die Toten Hosen die Lebendigkeit der Kultur feiern – mit einer bewegenden Rede von Paavo Järvi, der den Krieg Russlands gegen die Ukraine aufs Schärfste verurteilt und auf den „Sieg des europäischen Geistes“ hofft (bei 2:23:44).
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
Axel Brüggemann
brueggemann@crescendo.de