ARCHIV - 29.12.2020, Baden-Württemberg, Stuttgart: Eine Ampel zeigt am frühen Morgen die Farben rot, gelb und grün (Aufnahme mit Langzeitbelichtung). Die Wählerinnen und Wähler müssen bei dieser Bundestagswahl mit besonders großer Ungewissheit leben. Zu welcher Regierung sie mit ihrer Stimme beitragen, ist völlig offen. Die Zahl realistischer oder möglicher Koalitionen ist groß. (zu dpa «Ampel, Jamaika, Kenia - Welche Koalition bauen die Parteien?») Foto: Marijan Murat/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

KlassikWoche 41/2021

Was bedeutet die Ampel für die Klassik?

von Axel Brüggemann

11. Oktober 2021

Die Forderungen des Kulturrats, die Vollendung von Beethovens Zehnter, Elisabeth Kulmanns abgesagter Abschied, die Isarphilharmonie in München

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute beschäf­tigen wir uns mit den Akut- und den Spät­folgen von Corona in der Klassik, sind – natür­lich – poli­tisch korrekt und erklären, wie eine Ampel-Koali­tion sich auf die Musik auswirken könnte. Außerdem: span­nender Streit um das AI-Projekt zu Beet­ho­vens Zehnter. 

ERKLÄRT DIE AMPEL KULTUR ZUM STAATS­ZIEL?

Volker Wissing, Annalena Baerbock, Christian Lindner und Robert Habeck

Vor der Wahl habe ich die Parteien ange­schrieben und sie um Posi­tionen zu Kultur und Klassik gebeten. Das Ergebnis: Alle Mitglieder einer even­tu­ellen Ampel-Koali­tion haben sich für Kultur als Staats­ziel im Grund­ge­setz ausge­spro­chen und wollen, dass der Bund den klammen Kommunen, bei denen bereits 40 Prozent der Kultur­in­ves­ti­tionen einge­froren sind (!!!), unter die Arme greifen. Der Kulturrat hat nun 11 konkrete Forde­rungen auf gestellt. Unter anderen sollen der Kultur­etat erhöht und die Kommunen unter­stützt werden, die soziale Siche­rung soll ange­passt, der Klima­wandel zum Kultur­thema erhoben werden, außerdem soll ein Bundes­kul­tur­mi­nis­te­rium einge­richtet und Kultur als Staats­ziel veran­kert werden. Übri­gens, die einzige Partei, die damals nicht auf meinen Frage­bogen geant­wortet hat, war die CDU von Kultur­staats­se­kre­tärin Monika Grüt­ters – sie wird sich nun wohl einen neuen Job suchen müssen. Viel­leicht wird Kultur­po­litik dann endlich wieder von poli­ti­scher Arro­ganz und poli­ti­schem Ego befreit.

FRAGEN „AN UND VAN“ BEET­HOVEN

Das Beethoven Orchester Bonn spielt Beethovens 10. Sinfonie

Ich war diese Woche mit meinem Vater im neuen Bond-Film – und es ist schon ein wenig ernüch­ternd, wenn gerade bei Bond jede Rolle bis ins letzte Detail poli­tisch korrekt besetzt ist. Leben Filme, Opern und Kultur nicht immer auch von der Grenz­über­schrei­tung, der Über­ra­schung, der poli­ti­schen Incor­rect­ness, davon, dass sie anders sind als die Konven­tionen unserer Realität? Letzte Woche habe ich an dieser Stelle eini­ger­maßen launig über die Forde­rung von Schla­ger­sänger Roberto Blanco geschrieben, der verlangt, Beet­hoven zu exhu­mieren, um per DNA-Analyse seine afri­ka­ni­schen Wurzeln fest­stellen zu lassen. Diese Woche hat ein tatsäch­li­cher Experte, Musik­wis­sen­schaftler Ian Pace, im Spec­tator einen span­nenden Artikel darüber geschrieben, warum Menschen, die Bach, Beet­hoven oder Wagner lieben, zuneh­mend ein schlechtes Gewissen einge­redet wird. Seine These: Wir verlernen, Musik in erster Linie durch das Ohr zu verstehen und versu­chen, sie mit dem Hand­werks­zeug von Histo­ri­kern oder Sozio­logen zu erklären – dabei würde vor allen Dingen ihre Sinn­lich­keit auf der Strecke bleiben. Ein sehr lesens­werter Text.

Abge­sehen davon, welche ethni­schen Wurzeln Beet­hoven nun wirk­lich hat – in wurde seine 10. Sinfonie am Wochen­ende durch einen Computer voll­endet. KI und Genie – eine große Heraus­for­de­rung mit kontro­versem Ergebnis. Wolfram Goertz hat Beet­hoven X in der Zeit als „Waterloo“ vernichtet. Ich habe die Urauf­füh­rung in Bonn mode­riert und war vor allen Dingen begeis­tert davon, wie offen und frei­mütig auch auf der Bühne debat­tiert wurde: Diri­gent hinter­fragte, wie groß die Gefühls­welt eines kompo­nie­renden Compu­ters sein kann, die IT-Experten vom Beet­hoven Expe­ri­ment behaup­teten: Computer könnten Emotionen durchaus simu­lieren. Ein span­nendes und leiden­schaft­li­ches Hin-und-Her, in dem es auch um Fragen ging, die sich in der Zukunft zuneh­mend stellen: Wer zum Beispiel bekommt GEMA-Gebühren, wenn ein Computer zum Kompo­nisten wird, wer ist Urheber, wer Künstler? Hier können Sie die Urauf­füh­rung der „Zehnten“ und die anschlie­ßende Diskus­sion noch einmal nach­schauen und sich ein eigenes Bild machen (besagte, explo­sive Debatte beginnt nach ca. 45 Minuten). 

DAS RINGEN UM G2 ODER G3

So richtig logisch dünkt mir die Argu­men­ta­tion von Sängerin nicht. Sie hat ihr Abschieds­kon­zert in Wien in einem schwur­be­ligen Video abge­sagt, weil ihr die „Ausgren­zung eines Teils des Publi­kums“ durch die 2G-Regel in Wien den Hals zuschnürt“. Egal, wie man zur Impfung steht: Durch ihre Absage hat Kulman nun nicht nur die Impf­un­wil­ligen ausge­schlossen, sondern auch die 80 Prozent Geimpften und Gene­senen, die sich auf eine Kultur­ver­an­stal­tung gefreut haben. Oder hat sie wirk­lich geglaubt, dass Musik­ver­eins-Chef Stephan Pauly wegen ihr die Hygie­ne­re­geln ändert? Natür­lich nicht! Selbst auf ihrer Face­book-Seite bekommt Kulman neben Zustim­mung auch aller­hand Gegen­wind für ihre Entschei­dung. Sie wird ihre Welt­kar­riere nun am 19. Dezember in der Konzert­halle beenden.

Aber Meinungen sind als Meinungen ja auch flexibel: Nachdem Schau­spieler Jan Josef Liefers sich einst über Corona-Maßnahmen lustig gemacht hatte, warnte er nach dem Besuch einer COVID-Inten­siv­sta­tion nun vor dem fatalen Verlauf, den die Krank­heit haben kann. Derweil scheint der Riss, der auch in der Gesell­schaft zu erleben ist, beson­ders hinter den Kulissen größer zu werden: Immer mehr Orches­ter­vor­stände versu­chen, unge­impfte Kolle­gInnen zur Impfung zu bewegen – weil sie um die eigene Gesund­heit fürchten, aber auch, weil Auslands-Gast­spiele auf dem Spiel stehen. In den USA geht es längst direkter zu, hier werden unge­impfte Musi­ke­rInnen auf Betreiben von Gewerk­schaften suspen­diert. 

LANG­ZEIT­FOLGEN I: TRAM STATT TAMTAM

Die Leiterin der Musik­hoch­schule Sarah Wedl-Wilson hat kurz nach dem Ausbruch von Corona in einem langen, hier veröf­fent­lichten Gespräch, darauf hinge­wiesen, dass das Virus bei vielen jungen Musi­ke­rInnen dafür sorgen wird, dass sie ihre Karriere grund­le­gend infrage stellen, und dass wir es mit einem fatalen Neudenken zu tun haben werden.

Nun berichtet das VAN Magazin über einen konkreten Fall. Die Altistin Dina König hat ihre Gesangs­kar­riere aufge­geben, um als Tram­fah­rerin für die Basler Verkehrs­be­triebe zu arbeiten. „Die Reak­tionen waren immer sehr unter­schied­lich“, schreibt sie, „Die meisten haben verständ­nis­voll reagiert, einige natür­lich auch gar nicht. Manchen ist es egal. Man sieht, wie schnell man in dem Beruf vergessen wird. Es gibt genug Altis­tinnen. Ganz wenige haben gesagt, dass sie es sehr schade fanden.“ 

LANG­ZEIT­FOLGEN II: NEU ANFANGEN

Blick in den Zuschauerraum des Opernhauses Zürich

Wie gesagt, diese Woche war ich mit meinem Vater im neuen James Bond: Das Kino war ausver­kauft. Über Tage hinweg. Über­haupt scheinen die Kinos aufzu­atmen. Die Leute kommen zurück! Gut so. Etwas anders gestaltet sich die Situa­tion in unseren Thea­tern, Opern­häu­sern und Konzerten. Hier ist die Zurück­hal­tung noch immer groß. Inten­dan­tInnen beginnen, sich Sorgen zu machen und Jour­na­listen-Kollegen wie Peter Jung­blut trom­meln bei BR-Klassik dafür, dass die Leute endlich ihre Sofas verlassen: „Und wenn Ihnen der Gedanke, mal wieder raus­zu­gehen und Karten zu kaufen aben­teu­er­lich vorkommt: Umso besser, dann können Sie dafür eine Netflix-Serie weglassen. Ist übri­gens auch gut für die Durch­blu­tung, sagen die Ärzte.“ Aber viel­leicht sind es ja auch genau diese Texte, die ins Leere laufen?

Viel­leicht haben die Leute es einfach satt, dass wir Kultur-Fuzzis ihnen andau­ernd sagen, was sie tun sollen und was sie verpassen, wenn sie nicht zu uns kommen. Eine Haltung, die sich viele Stadt­theater längst ange­wöhnt haben. Sie gehen davon aus, dass es wichtig und gut für das Publikum sei, sie zu besu­chen. Und wenn keiner kommt – tja, dann hat das Publikum eben selber schuld. Könnte es sein, dass wir es hier mit einem grund­le­genden Umbruch zu tun haben, in dem auch wir Kultur-Leute uns mal wieder sagen müssen: „Fragt nicht, was unser Publikum für uns tun soll, sondern was wir für unser Publikum tun sollen?“ Ob es dabei hilft, einfach die Fracks auszu­ziehen und gegen legere schwarze Hemden zu tauschen, so wie das Phil­adel­phia Orchestra – ich weiß ja nicht .

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Die Münchner Philharmoniker eröffnen die Isarphilharmonie

Es war das größte Klassik-Ereignis der letzten Woche: Die Neueröff­nung der Isar­phil­har­monie in München. Einhel­lige Meinung der Kritik: Ein akus­tisch groß­ar­tiger Raum ist entstanden, in dem es „wenig münch­ne­risch“ zugeht. Und das sei auch gut so. Hier die Kritik von Markus Thiel im Münchner Merkur. +++ Auch wenn die Kassen in Stutt­gart klamm sind, nachdem die Stadt sich zur millio­nen­schweren Grund­sa­nie­rung des Opern­hauses bekannt hat, noch immer träumen viele von einem neuen Konzert­haus. Gernot Rehrl, früherer Inten­dant der Bach­aka­demie, SWR-Orches­ter­ma­nager Felix Fischer und Kultur­ma­nager Ralf Püpcke schreiben: „Es ist die Vision von einem kultu­rellen Kraft­werk und Herz­stück mitten in Stutt­gart: ein nach­hal­tiges städ­te­bau­li­ches Vorzei­ge­pro­jekt, ganz­tägig geöffnet für alle Gene­ra­tionen und Schichten. Eine Bildungs­ein­rich­tung ebenso wie ein Produk­ti­ons­zen­trum und eine Spiel­stätte für ein exqui­sites Konzert­pro­gramm sämt­li­cher musi­ka­li­schen Genres von Klassik bis HipHop.“ Promi­nente Unter­stützer sind: Günther Oettinger, Ex-Daimler-Chef Dieter Zetsche und der ehema­lige VfB-Stutt­gart-Präsi­dent Erwin Staudt.

Die Sängerin wird bis 2024 Bera­terin der Los Angeles Opera. +++ Andreas Bräunig wird neuer Geschäfts­führer der Came­rata . Der gebür­tige Berliner wurde unter rund 30 Bewer­bern aus mehreren Ländern ausge­wählt, teilte das Orchester am Freitag mit. Bräunig über­nimmt Mitte November die Nach­folge von Shane Wood­borne. +++ Bei einer Vorstel­lung am welt­be­rühmten Bolschoi Theater in Moskau ist am Sams­tag­abend ein Darsteller von einem Teil der Bühnen­de­ko­ra­tion erdrückt worden. Der 37-Jährige sei bei einem Wechsel des Bühnen­bilds tödlich verun­glückt. Ermittler seien im Theater im Einsatz, um den genauen Hergang des Unfalls zu unter­su­chen, teilten die Behörden in der russi­schen Haupt­stadt mit. +++

UND WO BLEIBT DAS POSI­TIVE, HERR BRÜG­GE­MANN?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht hier: Wenn die Kinos schon voll sind – dann kann die Oper ja auch ins Kino kommen. Also gut! Am 28. Oktober ist es so weit, meine Doku „Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt“ läuft an. Mit dabei: , und , Wagne­rianer von Newark bis Tokio, von Tel Aviv bis und – natür­lich: das Ehepaar Rauch! Bereits diesen Mitt­woch um 18:00 Uhr gibt es eine exklu­sive Preview im Münchner City-Kino, am 28.10. läuft der Film dann überall im Kino an, und ich mache mich zusätz­lich auf eine Kino­tour durch ganz (28.10. Bayreuth, 29.10. Nürn­berg, 30.10. Salz­burg, 31.10. Bonn, 1.11. Düssel­dorf und Münster, 2.11. , 3.11. , 4.11. und , 5.11. Frank­furt und 6.11. Frei­burg – mehr auf der Film-Home­page). Ich freue mich natür­lich, wenn Sie neugierig sind – der war es schon und verrät erste Details aus dem Film.

Ach so, wer in diesem News­letter irgendwas über den gest­rigen Abend in Berlin oder Thomas Gott­schalk vermisst – letz­terer arbeitet inzwi­schen: hier. 

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

FOTOS: Insta­gram, Opern­haus , Telekom, dpa

Fotos: Marijan Murat/dpa +++ dpa-Bildfunk +++