KlassikWoche 41/2022
Kein Anschluss unter dieser Nummer…
von Axel Brüggemann
10. Oktober 2022
Der Stopp des Kartenverkaufs für Teodor Currentzis, die Schlammschlacht zwischen Philippe Jordan und Bogdan Roščić an der Wiener Staatsoper, Genesungswünsche für Daniel Barenboim.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
warum beantwortet Christian Thielemann eine SMS aus den USA nicht? Wie steht es um den Umgang mit dem Publikum in Dortmund und Baden-Baden? Und wie groß ist die Testosteron-Wolke an der Wiener Staatsoper? Wir beschäftigen uns außerdem mit der Entdemokratisierung deutscher Kultur-Medien, und am Ende gibt es noch einen freundlichen Service für Markus Hinterhäuser.
Baden-Baden und Dortmund haben Currentzis-Verkauf gestoppt
Der Stil verwundert, Benedikt Stampas Festspielhaus in Baden-Baden und Raphael von Hoensbroechs Philharmonie in Dortmund haben bis letzten Freitag Tickets für den Tristan mit Teodor Currentzis und musicAeterna verkauft – seit Freitag (bzw. Samstag) stehen allerdings keine weiteren Karten zum Verkauf. Der Grund war bis Redaktionsschluss (Sonntagabend) unbekannt. Seit einigen Wochen begleiten wir die Entwicklungen rund um den Currentzis-Tristan, der ursprünglich als Koproduktion mit den VTB-Spielstätten Moskau und St. Petersburg geplant war.
Bereits letzte Woche kamen aus dem Festspielhaus Baden-Baden erste Zeichen, dass die Logistik schwer sei, die Anreise der MusikerInnen, die Frage nach Konten und nach Strukturen von musicAeterna (im Vorstand sitzen drei Putin-Getreue). Außerdem wurde die Kritik an Orchester und Dirigent immer lauter (die Kölner Philharmonie hatte letzte Woche ein Currentzis-Konzert mit dem SWR-Orchester auf Grund politischer Bedenken abgesagt). Es hieß in Baden-Baden, man werde bis Freitag Klarheit haben, doch die gab es nicht. Kein Anschluss unter dieser Nummer! Stattdessen wurden die Buchungssysteme kurzerhand und ohne Erklärung ausgeschaltet. Was auch immer heute als Grund genannt wird: Es wird deutlich, dass das Geschäft mit Teodor Currentzis und seinem Orchester problematisch ist, dass westliche Veranstalter sich in eine Abhängigkeit begeben haben, in der das eigene Publikum am Ende weniger wichtig scheint als die Loyalität zum System Teodor Currentzis. Alte Grundfeste wackeln, weiter unten werden wir uns noch damit beschäftigen, wie westliche Medien (vom ORF bis zum SWR) bereit sind, im Angesicht von Teodor Currentzis demokratisch-journalistische Gepflogenheiten aufzugeben. (Nach Redaktionsschluss wurde bekannt, dass Dortmund und Baden-Baden den geplanten „Tristan“ gegen das Verdi-Requiem ersetzen werden, der ebenfalls in Moskau (unter VTB-Sponsoring) erklingen wird – Grund: Angeblich hätte die „Tristan“-SängerInnen nicht mehr komplett „zur Verfügung gestanden.“ Ob es sich um Absagen wegen Currentzis« politischer Haltung handelte, ist unklar wie so vieles in diesem eher unwürdigen Kuddelmuddel).
Der Wiener Testosteron-Doppel-„Wumm“
Es müffelt sehr nach Testosteron in Wien. Die große Schlammschlacht ging nach dem letzten Newsletter erst richtig los. Wir hatten dokumentiert, dass Musikdirektor Philippe Jordan in einem Kurier-Interview angekündigt hatte, nach 2025 nicht wieder anzutreten. Schuld seien das Regietheater und der Intendant, Bogdan Roščić. Wir haben Zoff prophezeit, und tatsächlich gab es eine große Oper in der Oper. Roščić polterte im ORF zurück und raunte verschwörerisch: Er habe Jordan nicht verlängert, und wenn er sagte, warum, würde das dem Dirigenten erheblich schaden. Außerdem verfasste der Ehemann der Opern-Marketing-Chefin Johanna Athanasiadis, Atha Athanasiadis, noch einen wirklich unanständigen Jordan-Bashing-Artikel auf der Seite seiner Zeitschrift Bühne, auf den Jordan wiederum in einem offensichtlich bezahlten (sic!) Werbe-Text in verschiedenen Medien reagierte und Roščić und Athanasiadis eine Schmutzcampagne vorwarf.
Der Text ist inzwischen von der „Bühnen“-Seite gelöscht, aber offensichtlich hat jemand vergessen, dass das Internet nicht vergisst, und so ist der Text natürlich noch immer nachzulesen (bis man endlich kapiert, dass das Netz ein „Archiv“ hat und ihn auch dort löscht). Wie sehr die Nerven blank liegen, zeigt, dass auf meine Anfrage bei Athanasiadis, ob der Intendant vom Text wusste und Jordans Beschwerde zum Löschen geführt habe, bis heute unbeantwortet blieb (kein Anschluss unter dieser Mail!). Tatsächlich hat der „Wiener Doppel-Wumms“ in Wahrheit wohl noch einen dritten Protagonisten: Hat Jordan-Manager Michael Lewin, der Roščić bislang viele seiner Künstler unterjubelte, den eher als Ruhigblut bekannten Dirigenten für seine Zwecke instrumentalisiert? Sehen wir in Wahrheit einen Machtkampf von Lewin und Roščić? Klassik-Kritiker Wilhelm Sinkovicz (ein Busenfreund von Lewin) fragt in der Zeitung Die Presse auf jeden Fall schon: „Hat Wiens Kulturpolitik den falschen Vertrag (den für Roščić) verlängert?“ Richtiger wäre wohl zu fragen: „Wären uns ohne den Ursprungs-Vertrag für Testosteron-Roščić nicht sowohl Philippe Jordan als auch nervige Intrigen und vor allen Dingen unausgegorene Programme erspart geblieben?“
Thielemann „Royal“ und Barenboims Kampf
Dirigent Christian Thielemann soll auf eine SMS von MET-Intendant Peter Gelb einfach nicht geantwortet haben. Gelb wollte dem deutschen Dirigenten eine Produktion für 2025 anbieten – aber der hat einfach nicht zurückgeschrieben. Dabei würde man ihn in den USA „wie einen Opern-Royal“ behandeln, erklärte Gelb. Doch auch hier: Kein Anschluss unter dieser Nummer! Wie sehr die AmerikanerInnen Thielemann vermisst haben, wird er erleben, wenn er nach 2002 zum ersten Mal wieder in die USA reist – dieses Mal nach Chicago. Ich persönlich habe mir diese Woche seinen Berliner Ring am Radio angehört (die Aufführungen sind noch bei RBB in der Mediathek nachzuhören: HÖRTIPP!!!) und muss sagen: Wagner kann er ziemlich gut! Noch getragener, noch gedehnter, noch heiliger als sonst. Ein Hohepriester mit zum großen Teil fulminanter Besetzung.
Besorgniserregend scheint dagegen der Gesundheitszustand von Daniel Barenboim, der den Ring eigentlich dirigieren sollte. Nachdem er selber auf seinen Social-Media-Kanälen erklärt hatte, dass er sich vorerst zurückziehe, sah auch die Staatsoper sich gezwungen, bekanntzugeben, dass Barenboim die nächsten Monate nicht auftreten werde, auf Grund einer ernsthaften Erkrankung. Tatsächlich hörten sich einige Texte daraufhin bereits wie Nachrufe an – aber wir wissen alle: Barenboim ist ein Kämpfer, einer, der gern streitet, man sollte ihn nicht zu früh abschreiben. Ich habe viel mit ihm gerungen, glaube aber auch, dass einer wie er unserer Klassik-Welt gerade in diesen Zeiten gut tut, als Inspiration wie als Reibungsfläche. Also, Herr Barenboim: Kehren Sie zurück! Viel Kraft und alles, alles Gute!
Wohnzimmer statt Kino?
Die Metropolitan Opera in New York ist bekannt für ihre Kino-Übertragungen. Nun will sie das digitale Feld offensichtlich auch anders bespielen und plant Streams direkt aus dem Opernhaus in die Wohnzimmer der Welt. Und auch Apple scheint inzwischen weitgehend bereit zu sein, seine neue Klassik-Plattform zu starten und damit Spotify und Adagio anzugreifen. Mehr Musik für zu Hause und unterwegs! (Hörtipp: der Podcast „Alles klar, Klassik?“ zum Thema CD oder Streaming)
Currentzis und das Scheitern der Medien
Die Causa Teodor Currentzis stellt inzwischen sehr ernsthafte Fragen an die Glaubwürdigkeit des Musikjournalismus. Die österreichische Zeitung Die Presse veröffentlichte ein Interview mit Currentzis und wies wenigstens noch darauf hin, dass politische Fragen unerwünscht gewesen seien. Ebenso muss es beim ORF gewesen sein, doch Ö1 teasert sein Interview mit den Worten „In unserem Gespräch war vor allen Dingen das gemeinsame Musizieren wichtig“ an, was ja auch ein politischer Akt sei. Es ist verblüffend, wie selbst öffentlich-rechtliche, westliche Medien trotz eindeutig demokratiefremder Auflagen den Mythos von Teodor Currentzis pflegen. Auf der Website von SWR2 habe ich am Tage, als die Kölner Philharmonie den Auftritt von Currentzis und dem SWR Symphonieorchester absagte, nichts davon gelesen (BR, WDR und Deutschlandfunk haben dagegen sehr wohl berichtet). Auch die Stuttgarter Zeitung, die ihren Kulturteil inhaltlich in die Bedeutungslosigkeit katapultiert hat, schweigt zu den aktuellen Entwicklungen beharrlich.
Und das VAN-Magazin (das seit Kriegsbeginn schweigsam in Sachen Currentzis war) versucht jetzt, den Dirigenten zu „entschuldigen“ und kritische Journalisten als „hysterisch“ zu stigmatisieren. Ein merkwürdiger Versuch, eine notwendige Debatte als „aus den Fugen geraten“ klein zu reden (ist das nicht echter, westlicher Kultur-Snobismus in Zeiten eines brutalen Krieges?) und Oligarchen als Förderer progressiver, oppositioneller Kultur zu stilisieren. Alexander Strauch weist mit strenger Recherche nach, dass die meisten der im Text genannten Oligarchen auf den No-Go-Listen der Oppositionellen in Russland stehen. Dass Wiens Konzerthauschef Matthias Naske den Text teilt, verwundert nicht, dass Igor Levit (eigentlich ein Kämpfer gegen das Putin-System) den VAN-Text auf Twitter stellt, dürfte indes damit zu tun haben, dass seine PR-Agentin Maren Borchers von For Artists verantwortlich für die Presse-Lyrik von Currentzis« neuem Orchester Utopia ist, gern vom „Genie“ palavert, dem es um die „Essenz der Musik“ geht, das „das Unmögliche möglich macht“. Gespalten zeigt sich derweil die New-York Times, eine klare Positionierung des Dirigenten fordern Der Falter (hinter Bezahlschranke) und Der Standard. Wie lang die Geschichte ist und welche Wendungen sie genommen hat, habe ich letzte Woche noch einmal in einer ausführlichen Reportage im Tagesspiegel aufgeschrieben. Eine Zwischenbilanz. Fortsetzung folgt.
Personalien der Woche
Rolando Villazón wurde für fünf weitere Jahre als Künstlerischer Leiter der Internationalen Stiftung Mozarteum bestellt. Seit 2019 verantwortet er als Intendant die Mozartwoche, im Sommer 2021 übernahm er die gesamte Künstlerische Leitung der Stiftung Mozarteum Salzburg. +++ No Fear, der Film von Regina Schilling über Igor Levit, ist im Kino – und soll: sehr gut sein. Das schreiben interessanterweise in den großen Zeitungen nicht die Klassik-Redakteure, sondern Film- oder Literatur-Kollegen. Levit ist längst über die Musik hinaus in die große Feuilleton-Blase gewachsen, wo es weniger um die Qualität seines Spiels als um große Zeichen, Gesten und Emotionen geht. +++ Der Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister bleibt zwei weitere Jahre im Amt. Sein Vertrag wurde bis 2026 verlängert. Intendant Viktor Schoner erklärte: „Ich bin sehr froh, dass sich Cornelius Meister parallel zu seinem internationalen Erfolg in Wien, Bayreuth, New York und so vielen anderen Städten entschieden hat, sich an Stuttgart zu binden.“ +++ Die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) hat sich in „unisono Deutsche Musik- und Orchestervereinigung“ umbenannt. „Damit greifen wir 70 Jahre nach der Gründung unseres Verbands die enormen Veränderungen im Musikbetrieb auf“, sagte Geschäftsführer Gerald Mertens.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier. Manchmal findet man im Netz wunderschöne Geschichten. Ich bin neulich auf der Seite der Library of Congress hängengeblieben. Dort gibt es ein Leonard Bernstein Archiv, und in dem ist auch ein Brief ausgestellt, den ein Kind an den Dirigenten, Komponisten und Pianisten geschrieben hat: „Lieber Herr Bernstein, wie lange üben Sie eigentlich? Kann ich ein Bild von Ihnen haben? Ich bin acht Jahre alt. Ich glaube, dass ich besser spiele als Sie. Brauchen Sie einen Ratschlag?“ Das Kind war Jordan Rudess, heute ein bekannter Keyboarder, der durch Dream Theater und Liquid Tension Experiment bekannt geworden ist. Die Archivarin hat ihn angerufen und ihn heute nach seinem Brief von damals befragt. Eine lustige Geschichte in schwierigen Zeiten!
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
Axel Brüggemann
brueggemann@crescendo.de
P.S.: LIEBER MARKUS H.,
ich erlaube mir am Ende dieses Newsletters noch eine persönliche Nachricht: Es tut mir leid, dass es diese Woche gar nichts gibt, worüber Du Dich beschweren könntest (die schöne Geschichte von Sandy Wills heben wir uns noch auf). Aber ich weiß ja, wie gern Du montags, nachdem es in Deiner Mail „Pling“ gemacht hat, irgendwo anrufst – beim Deutschlandfunk, beim SWR, in irgendwelchen Opernhäusern oder bei meinen Journalisten-KollegInnen, einfach nur, um mal Luft abzulassen, Dich zu beschweren, wie ungerecht man zu Dir ist! Hier habe ich Dir eine kleine Telefonliste für den Notfall angelegt, wenn Du Dich mal wieder über „blöde Blogger“ oder einfach nur „dumme Arschlöcher“ (das war doch Dein Ton, oder?) aufregen willst, wenn Du mal wieder irgendwelche „E‑Mails“ mit verqueren Erklärungen an jemanden weitergeben willst. Ich bin sicher, dass Dir bei folgenden Nummern schnell geholfen wird: Papst Franziskus (+39 06 6982) ist Anrufe von Leuten, die sich gern „ganz oben“ beschweren, gewohnt, und die Himmelspforte steht Heiligen und Sündern offen. António Guterres (+1 212–963-4475) hat ein Ohr für Ungerechtigkeiten und diplomatisches Geschick, und Du kannst sicher sein, dass es gegen Deine UN-Petition von Russland kein Veto geben wird. Sabrina Haane (+49 7221 929 20500), die Chefin des SWR-Orchesters, ist sicherlich ebenfalls eine gute Gesprächspartnerin, wenn der Frust mal wieder wächst. Ich bin sicher, Ihr würdet Euch super verstehen und könntet Euch ein bisschen in Eurem Starrsinn bestärken. Der Marlboro-Mann (+43 1 72786 1001) nimmt auch ab, wenn einem HB-Männchen mal wieder die Fluppen ausgehen, oder wie wäre es mit Karlheinz Stockhausen (leider habe ich die Vorwahl vom Sirius nicht). Aber einer geht natürlich immer: Opi (+43 1 21312 0) – der hat, wie Du weißt, stets ein offenes Ohr für kleine, erfundene Intrigen.